TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/13 G307 2183127-1

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Veröffentlicht am 13.01.2021
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Entscheidungsdatum

13.01.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


G307 2183119-1/18E

G307 2183127-1/16E

G307 2183123-1/16E

G307 2183124-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Markus MAYRHOLD als Einzelrichter über die Beschwerden 1. des XXXX , geboren am XXXX , 2. der XXXX , geboren am XXXX , 3. des XXXX , geboren am XXXX sowie 4. des XXXX , geboren am XXXX , alle StA.: Irak, die beiden Minderjährigen sind gesetzlich vertreten durch die Mutter, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.12.2017, Zahlen XXXX , XXXX , XXXX sowie XXXX nach öffentlicher mündlicher Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I.       Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden gemäß
§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wird den Erst- bis Viertbeschwerdeführern jeweils der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird den Erst- bis Viertbeschwerdeführerin jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerden werden die jeweiligen Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos aufgehoben.

B)       

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) stellte am 17.07.2015, die Zweitbeschwerdeführerin sowie der Dritt- und Viertbeschwerdefüher jeweils am 28.09.2015 einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, wobei BF2 diesen für ihre beiden Söhne (BF3 und BF4) einbrachte.

2. Am 27.07.2017 wurden BF1 und BF2 von einem Organ des BFA, Regionaldirektion Tirol, zu ihren Fluchtgründen, der Fluchtroute und ihren wie den persönlichen Verhältnissen von BF 3 und BF4 einvernommen.

3. Mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesamtes vom 14.12.2017 wurden deren Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (jeweils Spruchpunkt I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (jeweils Spruchpunkt II.) abgewiesen, den BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Darüber hinaus wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eingeräumt (Spruchpunkt VI.).

4. Mit den am 08.01.2018 datierten und beim Bundesamt am 15.01.2018 eingelangten Schriftsätzen erhoben die BF gemeinsam durch RA Mag. Alfred WITZLSTEINER (im Folgenden: RV1) Beschwerde gegen die sie betreffenden Bescheide des Bundesamtes. Darin wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) möge nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Einvernahme der BF der jeweiligen Beschwerde Folge geben und die angefochtenen Bescheide dahingehend abändern, dass den Asylanträgen der Bf stattgegeben werde.

5. Die gegenständlichen Beschwerden und die zugehörigen Verwaltungsakte wurden vom Bundesamt am 16.01.2018 vorgelegt und langten am 17.01.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

6. Mit Schreiben vom 06.08.2020, beim BVwG per Fax eingelangt am 18.11.2020, teilten die BF mit, dass sie nunmehr auch durch die Diakonie – ARGE Rechtsberatung vertreten seien (im Folgenden: RV2).

7. Am 24.11.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Graz, eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher alle BF und eine Mitarbeiterin der RV2 teilnahmen sowie eine Dolmetscherin der Sprache Arabisch beigezogen wurde. RV1 bzw dessen Vertretung blieb der Verhandlung fern. Das VH-Protokoll und die behandelten Länderberichte wurden auch an RV1 mit einer 2wöchigen Stellungnahmefrist übermittelt.

8. Mit undatiertem Schreiben teilte RV1 dem BVwG mit, dass die BF von nun an nur mehr durch RV2 (in der Folge: RV) vertreten würden.

9. Mit Schreiben vom 10.12.2020, beim erkennenden Gericht eingelangt am selben Tag erstatteten die BF durch ihre (nunmehr allein vertretungsbefugte) RV noch eine abschließende Stellungnahme zum gegenständlichen Sachverhalt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF führen die im Spruch jeweils angegebene Identität (Namen und Geburtsdatum), sind irakische Staatsbürger und Angehörige der Volksgruppe der Araber. BF1 bekennt sich zum sunnitschen, BF2 zum schiitischen Islam. BF1 ist mit BF2 verheiratet und beide sind zugleich Eltern von BF3 und BF4. Alle BF leben im gemeinsamen Haushalt. Die Muttersprache der BF ist Arabisch.

BF1 verließ den Irak am XXXX .2015 per Flugzeug nach XXXX . Sodann reiste er auf dem Land- und Seeweg von dort nach XXXX , sodann weiter nach XXXX und über Mazdeonien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo er am 17.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes stellte.

BF2 bis BF4 verließen den Irak am XXXX .2015 via Flugzeug nach XXXX . Von dort begaben sie sich mit dem Bus nach XXXX und dann weiter nach XXXX . Nach einem 12tägigen Aufenthalt in der Türkei überquerten BF2 bis BF4 das Meer nach Griechenland, von wo aus sie auf dem Landweg nach Österreich reisten und am 28.09.20105 deren Asylanträge stellten.

1.2. Zu den einzelnen BF:

1.2.1. BF1 besuchte im Irak 12 Jahre lang die Grundschule. Anschließend studierte er 2 Jahre lang IT-Technik an der Universität XXXX , schloss dieses Studium aber nicht ab. Von 2005 bis 2011 unterstützte BF1 seinen Vater in dessen Haushalts- und Elektrogeschäft. Danach trat er in den Polizeidienst ein und arbeitete dort bis zu dem Tag, an welchem er den Irak verließ, als Buchhalter. BF1 wohnte mit seiner Frau und den Kindern in einem Haus in Bagdad im Ortsteil XXXX . Im Eigentum der Familie von BF1 stehen zumindest vier Häuser sowie die bereits erwähnte Haushalts- und Elektrofirma mit mit drei Filialen. 9 Geschwister (7 Brüder und 2 Schwestern), der Vater des BF1 und dessen Ehefrau (die Mutter des BF1 verstarb im Jahr 1993 bei der Geburt ihrer Zwillinge) leben noch im Irak. Gesundheitlich und finanziell geht es der im Herkunftsstaat lebenden Familie des BF1 gut.

In Österreich war BF1 vom 17.11.2015 bis 30.03.2016 immer wieder in der Gemeinde XXXX als Aushilfskraft tätig. Ferner nahm er von 2015 bis 2017 am „ XXXX “ XXXX teil. Dabei handelt es sich um eine ehrenamtliche Institution, in deren Rahmen jeden Donnerstag von 19:00 bis 20:30 Uhr einander Menschen unterschiedlicher Herkunft etwa zum Kochen, Meinungaustausch, Deutschlernen und Verfassen von Bewerbungen treffen.

Am XXXX .2018 nahm BF1 am Wert- und Orientierungskurs im Integrationszentrum XXXX teil. Die Integrationsprüfung bestand er am XXXX .2019. Zu diesem Zweck belegte er auch mehrere Deutschkurse, wobei er diese Sprache auf Niveau „B1“ beherrscht.

BF1 war vom 19.04.2019 bis 15.05.2019 bei XXXX und vom 11.06.2019 bis 11.11.2019 bei der XXXX jeweils im Arbeiterdienstverhältnis tätig. Seit 14.11.2019 ist der BF selbständig und führt die Pizzeria „ XXXX “ in XXXX . Dieses Lokal ist trotz der Corona-Krise in Betrieb, wobei BF1 bestellte Speisen aktuell ausliefert.

Im Rahmen des vom Österreichischen Roten Kreuz, Ortsstelle XXXX , organisierten Projekts „ XXXX “ legte BF1 den ersten Teil dieser Ausbildung erfolgreich ab. Diese umfasste 8,5 Unterrichtseinheiten, wobei die Präsentations- und Arbeitssprache Arabisch war.

Seit XXXX .2018 besitzt BF1 eine östereichische Lenkerberechtigung der Gruppen „AM“ und „B“.

BF1 bewohnt mit seiner Familie seit 01.07.2019 ein in XXXX gemietetes Haus zu einem monatlichen Zins von € 200,00 exklusive Betriebskosten, wobei das Mietverhältnis unbefristet ist.

1.2.2. BF2 besuchte von 1995 bis 2007 die Grundschule in Baghdad. Von 2008 bis 2011 absolvierte sie eine Ausbildung zur Lehrerin der Philosophie, welche sie mit Bachelor abschloss. In diesem Beruf arbeitete sie bis zur Geburt ihres jüngeren Sohnes (BF 4) im Jahr 2013. Die Mutter der BF2, deren Schwestern und Brüder leben noch im Irak, wobei jeder von diesen ein eigenes Haus besitzt. Die erwähnten Verwandten gehen einer beruflichen Tätigkeit nach, ihnen geht es gesundheitlich und auch in allen anderen Belangen gut.

In Österreich war BF2 vom 20.11.2017 bis zumindest 15.10.2019 als Aushilfskraft im Kindergarten XXXX tätig. Derzeit ist ihr aufgrund der Kinderbetreuung, insbesondere der Krebserkrankung des BF4 eine weitere Ausübung dieser Beschäftigung nicht möglich. BF2 besuchte vom 01.10.2016 bis 30.05.2017 einen Deutschkurs des Niveaus „A2“, legte jedoch keine dahingehende Prüfung ab.

1.2.3. BF3 besucht derzeit die Volksschule XXXX , wobei er das Schuljahr 2018/2019 in allen Unterrichtsgegenständen mit der Note „Sehr Gut“ beendete. Er ist gesund.

1.2.4. Auch BF4 besucht dieselbe Schule wie sein Bruder (BF3). Er leidet seit dem Jahr 2018 an einem Hodgin Lymphom (Lymphdrüsenkrebs) und ist diebezüglich in der Universitätsklinik für Pädiatrie I XXXX , Department für Kinder- und Jugendheilkunde, in Behandlung, wobei er vom XXXX .2018 bis XXXX 2018 stationär aufgenommen war. Seitdem finden regelmäßige Nachsorgeuntersuchungern statt, welche laut ärztlicher Empfehlung bis Mai 2028 regelmäßig durchgeführt werden sollten. Derzeit nehmen BF1 und BF2 diese Kontrolluntersuchungen mit dem BF4 einmal pro Quartal wahr.

Für die Schleppung bezahlten die BF rund € 5.000,00. Dieses Geld stammt aus dem Verdienst des BF1.

Alle BF beziehen keinerlei Sozial- oder Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Sie leben von den Einnahmen des BF1 durch seinen Erwerb aus dem besagten Restaurant, durch welches der BF im Jahr 2019 (betrachtet von 01.01.2019 bis 31.12.2019) ein Einkommen von € 9.041,54 erwirtschaftete.

Das soziale Umfeld der BF – insbesondere jenes des BF 1 – beschreibt diese/n als sehr aufgeschlossen, freundlich und mit guten Deutschkenntnissen versehen.

Alle BF sind strafrechtlich unbescholten. BF1 und BF2 sind zudem arbeitsfähig und BF1 bis BF3 gesund.

1.3. Zum Fluchtvorbringen:

BF1 trat im Jahr 2015 in den irakischen Polizeidienst ein. Nach Absolvierung einer rund 2monatigen Ausbildung, in deren Zuge er im Umgang mit Personen, den Schusswaffen Kalaschnikov und Glock, geschult worden war, wurde er für im Bereich „Finanzen“ eingesetzt.

Am 05.05.2015 erhielt BF1 einen Anruf auf sein Mobiltelefon. Das Gegenüber gab sich als „ XXXX “ und Mitglied der Asaib al al Haq Miliz aus. Dieser Mann forderte ihn auf, einen PKW mit Waffen durch die Kontrolle in XXXX zu schleusen. Um welche Marke und Type es sich dabei gehandelt hat, war damals nicht Bestandteil dieses Gesprächs. Dass BF1 mit diesem Fahrzeug selbst fahren soll, war nicht angedacht. Am Einfahrtsbereich zur entmilitarisierten Zone, innerhalb welcher BF1 tätig war, waren zwei Eingänge vorgesehen, nämlich einer für Zivilisten und einen für das Militär. Eine dortige Kontrolle nahm pro Fahrzeug etwa ein bis zwei Stunden in Anspruch, weil sowohl dieses als auch die jeweiligen Insaßen durchsucht wurden. Die Kontrollen waren nötig, weil der Zivilbevölkerung in XXXX seit dem Jahr 2010 fast keine Waffen zur Verteidigung mehr zur Verfügung stehen. Da mit dem erwähnten Pkw auch Waffen transportiert werden sollten, lehnte BF 1 die an ihn herangetragene Aufforderung ab, weil die Genehmigung dieses Vorhabens weder in seiner Zuständigkeit lag noch seinem Willen entsprach. Am Abend desselben Tages fand der Bruder des BF, namens Ali, im Vorgarten des von der Familie des BF1 bewohnten Hauses einen Drohbrief vor. In diesem wurde festgehalten, dass BF1 noch immer unter dem Schutz des Absenders, der Asaib al al Haq Miliz, stünde. Zudem habe BF1 die Ausführung des Vorhabens, um das diese Miliz ihn gebeten habe, abgelehnt. Außerdem schrieb der Absender BF1 die Zugehörigkeit zu XXXX zu. Er habe 24 Stunden Frist, wobei er im Fall einer Ablehnung großes Leid verspüren werde. Des Weiteren fand sich im Kuvert dieses Schreibens die Patrone einer Kalaschnikov.

Am 08.05.2015 wurde der im Besitz des BF1 stehende Van, ein weißer Kia Sportage, von unbkeannten Personen in Brand gesetzt. Dabei entstand an diesem Fahrzeug ein Totalschaden.

Da BF1 seinen Arbeitsplatz nach dem Verlassen des Irak nicht mehr aufsuchte, wurde er von irakischen Polizisten zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt an seiner Heimatadresse aufgesucht und wegen Dienstquittierung zur Festnahme ausgeschrieben.

BF2 bis BF4 waren selbst keinen unmittelbaren Drohungen oder Gewaltanwendungen ausgesetzt.

1.4. Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:

Zusammenfassung

Seit Oktober 2019 finden massive Demonstrationen in Bagdad und im Südirak statt, die Anfang Dezember zum Rücktritt der Regierung von Premierminister Adel AbdulMahdi führten. Allerdings bleibt die alte Regierung bis zur Ernennung einer neuen Regierung geschäftsführend im Amt. Die Proteste richteten sich zunächst vor allem gegen die allgegenwärtige Korruption, die ungenügenden staatlichen Dienstleistungen und forderten die Schaffung von Arbeitsplätzen. Weiter angefacht wurden die Proteste durch die unverhältnismäßige Reaktion der Sicherheitsbehörden, die für mehr als 500 Tote und mehrere Tausende Verletzte verantwortlich ist. Weitere repressive Maßnahmen gegen die Demonstrationen umfassten die zeitweise Sperrung von Internet und sozialen Medien, die zeitweise Abschaltung von Fernsehkanälen. Demonstranten und Aktivisten, Journalisten und Ärzte wurden eingeschüchtert, Fälle von Entführungen und gezielten Ermordungen nehmen zu. Es verstärkt sich der Eindruck, die politische Klasse habe kein Interesse an tiefgehenden Reformen. Politische Forderungen nach der Ablösung der politischen Elite, Verfassungs- und Wahlrechtsreformen sowie Neuwahlen traten in den Vordergrund. Wie sich die Situation weiter entwickeln wird, ist zum Zeitpunkt der Berichtsabfassung offen. Auch die außenpolitischen Spannungen zwischen Iran und USA wirken sich negativ auf die innenpolitische Situation in Irak aus. Die geschäftsführende Regierung hat kaum Spielräume, um die akuten Probleme des Landes aktiv anzugehen, damit steigt die Gefahr eines erneuten Erstarkens des sog. IS. Fragen der Rückkehr von Binnenvertriebenen werden nicht gelöst, bewaffnete Milizen, die eigentlich in die staatlichen Sicherheitskräfte eingegliedert werden sollten, agieren zunehmend autonom (dazu im Einzelnen s.u.). Das „Kalifat“ des sogenannten „Islamischen Staats“ („IS“) wurde 2017 in Irak in der Fläche besiegt. Trotzdem bleibt der „IS“ als terroristische Organisation eine Gefahr und in der Lage, landesweit Anschläge zu verüben. Insbesondere in den zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der Regierung der Region Kurdistan Irak in Erbil umstrittenen Gebieten ist ein Sicherheitsvakuum entstanden. Dort sind Elemente des „IS“ wieder vermehrt im Untergrund aktiv. Als Reaktion auf den Vorstoß des „IS“ wurden 2014 viele bewaffnete Milizen in Irak mobilisiert. Sie stehen formal unter Regierungskontrolle und erhalten staatliche Zahlungen. Der faktische Einfluss der Regierung und ihrer Sicherheitsorgane auf die Milizen ist jedoch nicht zuverlässig sicherzustellen. Gewalttaten gegen Zivilisten gehen nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen und der Vereinten Nationen auch von irakischen Sicherheitskräften und Milizen aus. Daneben gibt es auch milizenähnliche Gruppierungen, die keiner staatlichen Befehlskette unterstehen und die sich in Teilen aus kriminellen Aktivitäten finanzieren (Entführungen zum Zweck der Lösegelderpressung, Schutzgelderpressung, illegale Wegezölle an Checkpoints etc.). Die Beziehungen zwischen der irakischen Zentralregierung und der Region Kurdistan-Irak (RKI) haben sich im Jahr 2019 weiter verbessert. Die Ernennung des Kurden Fuad Hussein zum irakischen Finanzminister und die Einigung auf ein Budgetgesetz 2019 haben den Beziehungen positives Momentum verliehen. Mit Staatspräsident Barham Saleh – ebenfalls ein Kurde – und mit dem als kurdenfreundlich geltenden PM Abdul-Mahdi sind weitere konstruktive Kommunikationskanäle entstanden. Insbesondere die Zusage der Zentralregierung, Gehälter der Bediensteten im öffentlichen Sektor der RKI künftig nicht mehr zum Spielball politischer Konflikte werden zu lassen, hat das Vertrauen in die Beziehung gestärkt. Kurdische Politiker wenden sich - zumindest öffentlich - weiter vom Unabhängigkeitsgedanken ab und bekräftigen: Der Platz der Region Kurdistan ist in Irak. Gewisse Sorge bereiten der RKI die andauernden Proteste im Zentralirak. In der RKI fürchtet man eine dauerhafte politische Destabilisierung des Irak, die Änderung des Status Quo der für die RKI vorteilhaften irakischen Verfassung und eine mögliche finanzielle Zwangslage für die RKI bei ausbleibenden Transferzahlungen aus dem Zentralirak. Verstöße gegen die Menschenrechte sind weit verbreitet. Besonders problematisch sind Folter und Defizite im Justizsystem sowie der Umgang mit Journalisten/Bloggern. Offiziell anerkannte religiöse Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der RKI, oft benachteiligt. Die Hauptsiedlungsgebiete der Minderheiten, darunter Jesiden und Christen, liegen in den Gebieten Nordiraks, die besonders unter der Herrschaft des „IS“ gelitten haben. Dabei kam es zu systematischer Verfolgung, Zwangskonversion, Massenvertreibungen und hinrichtungen von Angehörigen religiöser Minderheiten sowie Verschleppungen und sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder. Insbesondere Angehörige der Minderheiten, aber auch schiitische Angehörige der Sicherheitskräfte wurden Opfer von Gräueltaten. Erneute Unsicherheit empfinden Angehörige von Minderheiten in den sog. umstrittenen Gebieten aufgrund der Präsenz verschiedener bewaffneter Gruppierungen – neben irakischen Streitkräften, Peschmerga v. a. schiitische Milizen seit Oktober 2017. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben einschränkt. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und einflussreiche Positionen ernannt. Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt weniger Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder beruflich weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil aus der religiösen Tradition begründet, aber auch patriarchalische Strukturen sind weit verbreitet. LGBTI ist gesetzlich nicht verboten, jedoch gesellschaftlich tabu. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung und körperlicher Gewalt bis hin zu „Ehrenmorden“. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen, die seit Januar 2014 innerhalb Iraks aus ihren Heimatorten geflohen sind, lag bei ca. 6 Millionen. Davon sind mittlerweile rund 4,3 Millionen Irakerinnen und Iraker wieder in die vom „IS“ befreiten Gebiete zurückgekehrt. Aktuell gelten noch 1, 4 Millionen Menschen als binnenvertrieben, davon leben ca. 370.000 in Flüchtlingslagern. Die Provinzen Anbar, Ninewa und Salah Al-Din sind besonders stark von Vertreibungen betroffen. Ca. 800.000 Binnenvertriebene halten sich in der RKI auf. Hinzu kommen ca. 230.000 Flüchtlinge aus Syrien und nach der türkischen Offensive in Nord-Ost Syrien weitere fast 20.000 syrische Kurden. Hindernisse für die Rückkehr sind v.a. die mangelnde Sicherheit, die Kontaminierung durch Sprengfallen, die Bedrohung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure, die innergesellschaftlichen Spannungen und die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit. Hinzu kommt insbesondere in den zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gebieten zum einen die Unsicherheit bezüglich des Verhaltens irakischer Sicherheitskräfte und der ihnen formell zugehörigen PMF (Popular Mobilisation Front)-Milizen, andererseits aber auch Aktivitäten des „IS“, der zwar militärisch besiegt, jedoch aus dem Untergrund heraus weiterhin präsent ist. Ungefähr 4,1 Mio. Menschen im Irak und damit etwa 8-10% der Bevölkerung sind weiterhin auf humanitäre Hilfe angewiesen.

I. Allgemeine politische Lage

1. Die Verfassung Gemäß der aktuellen Verfassung von 2005 ist Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat. Der Islam ist Staatsreligion und „eine“ (nicht „die“) Hauptquelle der Gesetzgebung. In Artikel 117 der Verfassung wird die Region Kurdistan-Irak mit ihren Institutionen als Region Iraks anerkannt. Art. 19 Abs. 1 und Art. 86 ff. der Verfassung bezeichnen die Rechtsprechung als unabhängige Gewalt. Der Oberste Gerichtsrat erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts. Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist nicht durchgehend gewährleistet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt. Bei Gerichtsverfahren werden Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit häufig nicht gewahrt. Pflichtverteidiger werden meist erst unmittelbar vor Verhandlungsbeginn eingebunden, was eine vorherige Auseinandersetzung mit dem Fall ausschließt. Für ausländische Angeklagte werden häufig keine oder nur ungeeignete Dolmetscher bestellt.

2. Innenpolitische Lage

Seit Anfang Oktober finden massive Proteste in Bagdad und im Südirak statt, die sich gegen die Regierung und die gesamte politische Klasse, das konfessionelle Proporz-System in den obersten Regierungsämtern und die allgegenwärtige Korruption richten und bessere staatliche Dienstleistungen und die Schaffung von Arbeitsplätzen fordern. Die anfänglich friedlichen Demonstrationen wurden seitens der Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Härte beantwortet. Dies führte zu anhaltenden, teils schweren Ausschreitungen, mit mindestens 500 Toten und über 27.000 Verletzten (lt. irakischer Hoher Menschenrechtskommission, Stand Mitte Dezember 2019). Die fortgesetzte unverhältnismäßige Gewalt führte zum Rücktritt der seit Oktober 2018 amtierenden Regierung von PM Abdul-Mahdi, die seit Anfang Dezember 2019 nur noch kommissarisch im Amt ist. Die in Reaktion auf die Proteste eingeleiteten Reformen, die insbesondere soziale Maßnahmen und die kurzfristige Schaffung von Arbeitsplätzen im – ohnehin aufgeblähten – öffentlichen Sektor umfassen, entfalteten nicht die beabsichtigte Wirkung eines Abflauens der Proteste. Tiefergehende Strukturreformen, wie eine Reform der Verfassung, werden hingegen nur langsam und schrittweise angegangen. Am 24.12.2019 hat das irakische Parlament ein neues Wahlrecht verabschiedet, mit dem Irak sich nun dem Prinzip des Mehrheitswahlrechts verpflichtet. Weitere Details der Umsetzung müssen nun von der neu zu bestimmenden Wahlkommission geklärt werden. Der Versuch, am 1.3.2020 einen Nachfolger für den geschäftsführenden PM Abdul-Mahdi zu ernennen, scheiterte an fehlenden Mehrheiten im Parlament. Die weitere Entwicklung der Lage ist zum Zeitpunkt der Berichtsabfassung offen. Traditionell bestimmen Stammesstrukturen und ethnisch-religiöse Zugehörigkeiten die gesellschaftlichen und politischen Loyalitäten bzw. Konfliktlinien.

Die wichtigsten ethnischreligiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17 bis 22 %) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak (aus dieser Gruppe stammte bis zum Ende der Diktatur von Saddam Hussein 2003 der größte Teil der politischen und militärischen Führung) und die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend sunnitischen Kurden (15 bis 20 %). Entlang dieser ethnisch-religiösen Linien hat sich nach dem Ende der Diktatur von Saddam Hussein die Parteienlandschaft gebildet. Die Parteien und das konfessionelle Proporzsystem im Parlament festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der sich auf Sachfragen konzentriert. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder Rechtssicherheit existieren nicht. Die Unfähigkeit des aktuellen Systems, Korruption und Misswirtschaft zu bekämpfen und zu einer Verbesserung der sozialen Lage im Land zu führen, ist einer der Gründe für die Demonstrationen seit Oktober 2019. Diese werden maßgeblich von der jungen Generation getragen. Insgesamt ist die Bevölkerung des Irak sehr jung, das Durchschnittsalter liegt geschätzt bei unter 20 Jahren. Genaue Zahlen zur Bevölkerungsgröße und ihrer Verteilung gibt es nicht; die letzte reguläre Volkszählung fand 1957 statt. Eine neue Erhebung ist für Oktober 2020 vorgesehen. Auch verlässliche Zahlen zu Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit liegen nicht vor. Es besteht weiterhin enormer Bedarf an Stabilisierung, Wiederaufbau und Versöhnung, insbesondere in den vom „IS“ befreiten Gebieten. Hier ist die internationale Gemeinschaft, darunter auch Deutschland, weiterhin stark engagiert. Nach den Wahlen zum kurdischen Regionalparlament im September 2018 konnte aufgrund langwieriger Verhandlungen zwischen den beiden größten Parteien KDP (Kurdische Demokratische Partei) und PUK (Patriotische Union Kurdistans) erst im Juli 2019 eine Koalitionsregierung unter Premierminister Masrour Barzani (KDP), gebildet werden. Wichtigste Ziele der Regierung sind Kampf gegen Korruption, Diversifizierung der Wirtschaft, Stärkung der Privatwirtschaft (im Vergleich zum überdimensionierten öffentlichen Sektor) und Verbesserungen von Bildungssystem und öffentlichen Dienstleistungen. Die kurdische Regionalregierung ist um Fortsetzung der konstruktiven Beziehungen mit der zentralirakischen Regierung bemüht. Für die kurdische Seite wichtigste Themen sind die Einigung auf ein Haushaltsgesetz 2020 mit Transferzahlungen für Gehälter der Bediensteten im öffentlichen Sektor sowie Einigung auf Sicherheitskontrolle und eine politische Lösung in den umstrittenen Gebieten.

3. Parteien

Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften). Sie haben sich vor und nach den Wahlen 2018 zu Bündnissen zusammengeschlossen.
Sairoon (Allianz Richtung Reform) Das vom schiitischen Prediger Muqtada al-Sadr angeführte Bündnis gewann die Parlamentswahl im Mai 2018. Das Bündnis eint Liberale, Nationalisten und Kommunisten. Sadr hat sich nicht zur Wahl gestellt, hatte jedoch maßgeblich Einfluss auf die Regierungsbildung und eine starke Machtbasis durch die große Zahl seiner teils bewaffneten, zentralistisch organisierten Anhänger.

Fatah Alliance (Eroberungsallianz)

Die Fatah Allianz bringt ein Bündnis politischer Ableger verschiedener PMF-Milizen zusammen und gilt als Iran-nah. Wichtiger Teil ist die Badr-Organisation, die 1982 in Iran gegründet wurde und zu der eine größere Miliz gehört. Anführer der Fatah-Allianz ist der ehemalige (Badr-) Milizenführer Hadi al-Ameri.

Alnasr (Siegesallianz) Die vom ehemaligen PM Abadi (2014-2018) angeführte Allianz ist moderat und überkonfessionell. Der Wahlkampf beruhte auf den Erfolgen der Regierungszeit Abadi, insbesondere dem Sieg über den „IS“.

State of Law (Rechtsstaatskoalition)

Die vom ehemaligen PM Maliki (2005- 2014) angeführte Rechtsstaatskoalition erlitt bei der Wahl 2018 herbe Verluste. Von den in der letzten Legislaturperiode noch 92 Parlamentssitzen sind nur 25 übriggeblieben. Maliki und seine Partei gelten als sehr korrupt. Sie verfügen jedoch unverändert über hohe Finanzmittel und Einfluss.

Kurdische Parteien

Die vom ehemaligen kurdischen Regionalpräsidenten Massoud Barzani angeführte KDP konnte bei den irakischen Parlamentswahlen im Mai 2018 25 Sitze gewinnen und bei den Wahlen zum kurdischen Regionalparlament im September 2018 die Mehrheit der Sitze gewinnen. Die KDP kontrolliert die Provinzen Erbil und Dohuk im Norden des Kurdengebiets mit Grenzen zu Syrien und Türkei. Die PUK als zweitstärkste kurdische Partei gewann bei den Wahlen im Mai 2018 18 Sitze im nationalen Parlament und ist mit deutlichem Abstand zweitstärkste Partei im kurdischen Regionalparlament. Die PUK übt traditionell Kontrolle über die Provinzen Sulaymania und Halabdscha im Süden der RKI mit Grenze zu Iran aus. Die Gorran-Bewegung kann ihren Anspruch, eine politische Erneuerungsbewegung zu sein, als kleinste Partei in der Regierungskoalition nicht umsetzen.

Hikma National Movement (Nationale Weisheitsbewegung)

Diese vom schiitischen Geistlichen Ammar Al-Hakim gegründete und geführte Partei war 2018 an Nominierung des Premierministers beteiligt, stellt sich aber seit Mitte 2019 als Oppositionspartei dar. Sie verfügt mit einer Miliz auch über einen bewaffneten Arm.

Wataniya

Ein überkonfessionelles Bündnis unter Führung von Ayad Allawi, ehem. Vizepräsident und Interimspremierminister.

Muttahidoon (Vereint für Reform)

Ein sunnitisches Bündnis, das verschiedene sunnitische Parteien unter Führung von Osama alNujaifi zusammenbringt.

4. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen

Im gesamten Irak existierten zuletzt über 440 offiziell registrierte NROs im Bereich Menschenrechte. Ein Gesetz zu NROs existiert seit 2010. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen, unterliegen in ihrer Registrierung keinen besonderen Einschränkungen. Die schwierige Sicherheitslage und weiter bestehende regulatorische Hindernisse erschweren dennoch die Arbeit vieler NROs. Sie unterliegen der Kontrolle durch die Behörde für Angelegenheiten der Zivilgesellschaft; zahlreiche unter ihnen berichten glaubhaft von bürokratischen und intransparenten Registrierungsverfahren, willkürlichem Einfrieren von Bankkonten sowie unangekündigten und einschüchternden „Besuchen“ durch Vertreter des Ministeriums. Die Präsenz von ausländischen NROs in Zentral- und Südirak wächst stetig, wird jedoch von schleppenden Registrierungsverfahren gebremst. Dies gilt nicht für die RKI, wo viele ausländische NROs tätig sind. Eine Registrierung von in der RKI tätigen NROs auch in Bagdad wird vermehrt von zentralirakischen Behörden verlangt. 5.

Die Rolle der Sicherheitskräfte

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 150.000 bis 185.000 Armee-Angehörige (ohne PMF-Milizen und Peschmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Es gibt kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Den Sicherheitskräften werden zahlreiche Fälle von Verschwundenen („forced disappearance“) zur Last gelegt: Im Zuge von Antiterror-Operationen, aber auch an Checkpoints, wurden nach 2014 junge, vorwiegend sunnitische Männer gefangen genommen. Die PMF-Milizen – mehrheitlich schiitische Volksmobilisierungseinheiten – waren ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen und – neben den Peschmerga – maßgeblich für den Erfolg von Bodenoperationen beim Zurückschlagen des „IS“. Zu den PMF werden ca. 50 paramilitärische Gruppen mit geschätzt über 120.000-160.000 bewaffneten Mitgliedern gerechnet. Traditionell als pro-iranisch gelten die Badr-Brigaden, Asa’ib Ahl a-Haq und Kata’ib Hisbollah. Daneben gibt es aber auch nationalistisch ausgerichtete, wie z. B. die Abbas Combat Division, bzw. aus Minderheiten (Christen, Jesiden, Turkmenen, Schabak) rekrutierte Einheiten. Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten. Dies hat es den PMF erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen und sich ökonomische Vorteile und lukrative Einkommensquellen zu sichern. Es gibt eine Vielzahl an Vorwürfen von Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF, auch im Umfeld der aktuellen Demonstrationen. Die weiterführende Professionalisierung der Armee und vor allem auch der Bundes- und lokalen Polizei wird im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition, bei der Sicherheitssektorreform und mit Hilfe internationaler Militär- und Polizeiausbildung aktiv und umfassend unterstützt. Die kurdischen Sicherheitskräfte (Peschmerga) unterstehen formal der kurdischen Regionalregierung und sind bislang nicht in den Sicherheitsapparat der Zentralregierung eingegliedert. Die kurdischen Sicherheitskräfte bilden keine homogene Einheit, sondern unterstehen teilweise den beiden großen Parteien KDP und PUK (s. o.) in ihren jeweiligen Einflussgebieten. Nur ein kleinerer Teil untersteht dem Peschmergaministerium. Im Kampf gegen den „IS“ hatten die Peschmerga Gebiete über die ursprünglichen Grenzen der Region Kurdistan-Irak von 2003 hinaus befreit. Aus diesen zwischen Bagdad und Erbil seit jeher umstrittenen Gebieten hat die irakische Armee die Peschmerga nach Abhaltung des Unabhängigkeitsreferendums im September 2017 größtenteils zurückgedrängt. In weiten Teilen haben die Peschmerga sich kampflos zurückgezogen, es gab jedoch auch teils schwere bewaffnete Auseinandersetzungen mit Opfern auf beiden Seiten.

II. Asylrelevante Tatsachen

1. Staatliche Repressionen

Staatliche Stellen sind nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und nicht in der Lage, die in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Derzeit ist es staatlichen Stellen zudem nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Dies gilt insbesondere für den Zentralirak außerhalb der Hauptstadt. PMF-Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig und weitgehend unkontrolliert. Im Sinjar haben sich zudem PKK bzw. PKKnahe Strukturen entwickelt. Diese Entwicklungen gehen nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen sowie den VN einher mit Repressionen, mitunter auch extralegalen Tötungen sowie Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession. Bei den seit Oktober 2019 stattfindenden Demonstrationen in Bagdad und im Südirak kommt es weiterhin zu Gewalttaten, mit mindestens 500 Todesopfern und über 27.000 Verletzten (Stand Mitte Dezember 2019).

1.1. Politische Opposition

Es liegen keine Erkenntnisse über die gezielte Unterdrückung der politischen Opposition durch staatliche Organe vor. Politische Aktivisten berichten jedoch von Einschüchterungen und Gewalt durch staatliche, nichtstaatliche oder paramilitärische Akteure, die abschrecken sollen, neue politische Bewegungen zu etablieren und die freie Meinungsäußerung teils massiv einschränken. In der RKI ist im Raum Erbil und Dohuk eine Oppositionsbewegung kaum existent. Die KDP gilt in weiten Teilen als alternativlos. In der Region um Sulaymania und Halabdscha haben sich in den vergangenen Jahren auch Gruppen von der PUK abgewandt, allerdings ohne politischen Einfluss gewinnen zu können.

1.2. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit

Die Verfassung vom 15.10.2005 (Art. 38 C und 39) sieht die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung vor und stellt die nähere Aus-gestaltung durch ein Gesetz in Aussicht, das es aber noch nicht gibt. Gegen die seit Anfang Oktober 2019 stattfindenden Demonstrationen in Bagdad und im Südirak gingen die Sicherheitskräfte mit großer Härte vor und reagierten mit weiteren repressiven Maßnahmen. Es mehren sich Fälle von Entführungen, Folter und Tötungen von Aktivisten der Proteste und Journalisten, die auf Einschüchterung der Demonstranten und Beendigung der Proteste abzielen. Im Zuge der Proteste sollen seit Oktober mind. sechs Journalisten gezielt von Unbekannten getötet worden sein. In der RKI haben die Proteste gegen die zentralirakische Regierung keinen Widerhall in der Bevölkerung gefunden. Solidaritätskundgebungen für Kurden in Nord-Ost-Syrien sowie kleine Demonstrationen mit spezifischen Anliegen etwa von Studenten gegen die zentrale Vergabe von Studienplätzen verliefen friedlich. Art. 38 A und B der Verfassung garantieren die Freiheit der Meinungsäußerung, solange die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt wird. Das „Gesetz zum Schutz von Journalisten“ von 2011 hält u. a. mehrere Kategorien des Straftatbestands der „Diffamierung“ aufrecht, die in ihrem Strafmaß z. T. unverhältnismäßig hoch sind. Klagen gegen das Gesetz sind anhängig. Die Anzahl der Gerichtsverfahren gegen Journalisten wegen Verleumdung, oft wegen Reportagen gegen Korruption, bleibt hoch. Im Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen.

Selbstzensur ist weit verbreitet. Die „Journalistenvereinigung“ ist tendenziell staatsnah. Überdies wird die journalistische Arbeit durch Übergriffe auf Journalisten behindert. Nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ ist Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder. Auf ihrem Index für Pressefreiheit kam Irak im Jahr 2018 auf Platz 156 von 180. Das Land nahm im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2007 - 2016) des “Committee to Protect Journalists” zudem den weltweit an drittletzter Stelle in Bezug auf die Aufklärung von Morden an Journalisten ein. Im Zuge der Demonstrationen sollen seit Oktober mind. sechs Journalisten gezielt von Unbekannten getötet worden sein. Es kam zu vielfachen Einschüchterungen, Gewalt und Entführungen von Journalisten. Drei TV-Stationen wurden von Vermummten verwüstet, Fernsehkanäle zeitweise abgeschaltet. Zwar unterliegt der Zugang zum Internet in der Regel keinen Beschränkungen, es wurde jedoch zu Beginn der Demonstrationen im Oktober 2019 tagelang abgeschaltet, soziale Medien blieben mehrere Wochen bis in den November hinein eingeschränkt nutzbar bzw. gesperrt. In der RKI sind die meisten Fernsehsender, Radiostationen inhaltlich von politischen Parteien beeinflusst. Eine systematische Einschränkung der freien Meinungsäußerung oder Zensur in digitalen Medien ist dem Auswärtigen Amt hingegen nicht bekannt. Oppositionelle Medien werden gelegentlich in ihrer Arbeit beeinträchtigt, vereinzelt kam es zu Verhaftungen von kritischen Journalisten (derzeit zwei Journalisten in Haft).

1.3. Religionsfreiheit

Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an: Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung, in Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Art. 3 legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung Iraks fest, betont aber auch den arabischislamischen Charakter des Landes. Art. 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten. Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. den Abfall vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht. Mit Einführung eines neuen Personalausweises im Jahr 2015 wurde der Eintrag zur Religionszugehörigkeit dauerhaft abgeschafft. Allerdings wurde auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen: Art. 26 des Gesetzes zum Personalausweis stipuliert, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden. Darüber hinaus gilt, dass Kinder mit einem muslimischen Elternteil oder einem unbekannten Elternteil automatisch als muslimischen Glaubens registriert werden. Dies führt zu rechtlichen Schwierigkeiten und verstärkt soziale Ausgrenzung von Kindern aus „IS“-Zwangsehen bzw. -Vergewaltigungen.

Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Jesiden, Sabäer, Schabak und Fayli Kurden). Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen und Christen sowie einen für Armenier vor. Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Religiöse Minderheiten leiden im Alltag jedoch unter weitreichender faktischer Diskriminierung. Übergriffe werden selten strafrechtlich geahndet.

Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des „IS“ standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäern, Kakai, Schabak und Christen. Es liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert. In der RKI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden.

1.4. Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis

Es liegen keine belastbaren Erkenntnisse zur Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis vor. Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt. Es mangelt an ausgebildeten, unbelasteten Richtern; eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen erheblich ausgedehnt. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Hinzu kommt eine Stigmatisierung, unter der Sunniten oftmals automatisch als „IS“-Unterstützer gesehen werden. Ehemalige „IS“-Kämpfer oder Personen, die dessen beschuldigt werden, werden aktuell in großer Zahl (Details werden von der Regierung nicht preisgegeben) mit unzulänglichen Prozessen zu lebenslanger Haft oder zum Tode verurteilt und häufig auch hingerichtet (vgl. unter III.3. zur Todesstrafe). Auch in der RKI gibt es Defizite der rechtsstaatlichen Praxis, wenngleich das Justizsystem grundsätzlich funktional ist. Die kurdische Geheimpolizei (Asayisch) operiert seit der Gründung des RKI-Sicherheitsrates im Jahr 2012 außerhalb der Kontrolle des Innenministeriums und übernimmt teilweise die Arbeit der regulären Polizei. Untersuchungen nach Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte bleiben oft ohne Ergebnis. Haftbesuche sind, auch für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), grundsätzlich möglich.

1.5. Militärdienst

Es gibt keine Wehrpflicht. Seit 2003 wurden bei den neuen irakischen Sicherheitskräften nur Personen ohne Verbindungen zum alten Regime eingestellt. Bei der Einstellung in den Polizeidienst werden teilweise Schiiten bevorzugt. Angehörige des irakischen Militärdienstes, die sich nach 2014 erstmalig unerlaubt vom Dienst entfernt haben (Desertion), können sich auf der Grundlage eines Beschlusses des Ministerrates vom Juni 2019 wieder der irakischen Armee verpflichten und so einer Strafverfolgung auf der Grundlage des Militärstrafgesetzes entgehen. Dies soll nach Regierungsangaben über 52.000 Soldaten und 2.000 Angehörige von Spezialkräften umfassen.

1.6. Handlungen gegen Kinder

Art. 29 und 30 der Verfassung enthalten Kinderschutzrechte. Irak ist dem Zusatzprotokoll zur VN-Kinderrechtskonvention zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten beigetreten. Kinder sind nach Angaben der VN in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage betroffen. Sehr viele Kinder und Jugendliche sind durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen. Es gibt Berichte, nach denen eine Vielzahl an Kindern vom „IS“ als Kindersoldaten eingesetzt wurde und von Umerziehungskampagnen traumatisiert ist. Zahlreiche Jugendliche sind nach Angaben der Vereinten Nationen wegen Terrorvorwürfen angeklagt oder verurteilt. Es fehlt an Jugendstrafanstalten; laut IKRK werden jugendliche Häftlinge mittlerweile meist getrennt von erwachsenen Straftätern inhaftiert, ihnen wird aber oft der regelmäßige Kontakt zu ihren Familien verwehrt. Die Sicherheitslage, die Einquartierung von Binnenvertriebenen und die große Zahl zerstörter Schulen verhindern mancherorts den Schulbesuch, so dass die Alphabetisierungsrate seit 2003 drastisch gefallen ist (aktuell bei 79,7%), besonders in ländlichen Gebieten. Im Unterschied dazu sind in der RKI fast alle Menschen des Lesens und Schreibens mächtig. In den vom „IS“ beherrschten Gebieten fand kein regulärer Schulunterricht statt. Kinderarbeit ist im Irak untersagt, dennoch arbeitet geschätzt ca. eine halbe Million Kinder vorrangig auf Farmen oder im Straßenverkauf. Die Armut begünstigt Entführungen und Kinderhandel.

1.7. Geschlechtsspezifische Verfolgung

Der Irak war das erste Land im Mittleren Osten, welches Anfang 2014 einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der VN-Sicherheitsratsresolution 1325 (2000) zu Frauen, Frieden und Sicherheit verabschiedete. Die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans für die Jahre 2014 - 2018 zur Resolution 1325 kam über Ankündigungen jedoch kaum hinaus. Die RKI hatte bereits 2013 eine Strategie zum Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verabschiedet. In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (RKI: 30 %) verankert. Dadurch sind im irakischen Parlament derzeit 83 Frauen vertreten (von insgesamt 328 Abgeordneten). Im Präsidium des Parlaments ist keine Frau vertreten. Im Regierungskabinett gibt es seit Oktober 2019 eine Frau, die Bildungsministerin. Die Hauptstadt Bagdad hat seit 2015 erstmals eine Frau als Bürgermeisterin, der Posten gilt allerdings als wenig einflussreich. In der RKI ist eine Frau Parlamentspräsidentin, es gibt drei Ministerinnen und einige hochrangige Richterinnen. Gleichwohl stellen diese Frauen eher Ausnahmen in einer männerdominierten Berufswelt dar. Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Frauen werden noch immer zu Eheschließungen gezwungen, rund 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10 - 14 Jahren.

Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichem Leben in Irak verhindert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z. B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Laut UNESCO (2018) sind 44% der Frauen über 15 Jahre des Lesens und Schreibens mächtig (Männer: 56%). In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. 24,3% der 20-24jährigen Frauen wurden laut UNICEF (2018) vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. Die kurdische Regionalregierung hat ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie drei staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NROs betrieben. Seit 2011 gibt es ein kurdisches Gesetz gegen häusliche Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden. Die gesetzlichen Regelungen werden in der Praxis allerdings nicht durchgängig umgesetzt. Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Sie müssen jedoch damit rechnen, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen oder als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet zu werden. Im Rahmen einer Ehescheidung wird das Sorgerecht für Kinder ganz überwiegend den Vätern (und ihren Familien) zugesprochen. NROs berichten über Zwangsprostitution irakischer Mädchen und Frauen im Land und in der Nahost- und Golfregion. Im Zuge des „IS“-Vormarschs auf Sindschar sollen über 5.000 jesidische Frauen und Mädchen verschleppt worden sein, von denen Hunderte später als „Trophäen“ an „IS“-Kämpfer gegeben oder nach Syrien „verkauft“ wurden. Diese Frauen wurden anschließend oftmals von ihren Familien aus Gründen der Tradition verstoßen oder sie wurden gezwungen, die aus den Zwangsehen entstandenen Kinder zu verstoßen. Viele Frauen und Mädchen sind auch durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt vermehrt Berichte, dass minderjährige Frauen in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen werden. Dies geschieht entweder, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen oder um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Häufig werden die Ehen nach kurzer Zeit wieder annulliert, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Frauen.

1.7.1. Genitalverstümmelung

In Teilen des stark patriarchalisch strukturierten Nordirak kommt es immer noch zu Genitalverstümmelung bei Frauen. Seit 2011 stellt ein Gesetz in der RKI die Genitalverstümmelung unter Strafe. Genitalverstümmlung ist jedoch kein ausschließlich kurdisches Problem. Eine empirische Studie in Kirkuk fand auch Betroffene in der arabischen und turkmenischen Bevölkerung, wenn auch in geringerem Ausmaß. Außerhalb der RKI gibt es bisher keine staatlichen Anstrengungen zur Bekämpfung dieser Praktiken.

1.7.2. LGBTI

Auch wenn sensible Themen zunehmend öffentlich diskutiert werden, werden Fragen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur abgelehnt. LGBTI-Personen leben ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich aus und sehen sich Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung und körperlicher Gewalt bis hin zu Ehrenmorden. Milizen haben in den letzten Jahren wiederholt LGBTI-Personen bedroht und verfolgt und werden mit Ermordungen von homosexuellen Männern in Verbindung gebracht. Die Polizei wird eher als Bedrohung denn als Schutz empfunden. Staatliche Rückzugsorte für LGBTIPersonen gibt es nicht, die Anzahl privater Schutz-Initiativen ist sehr beschränkt.

In dem seit 2003 gültigen irakischen Strafgesetzbuch stellen im gegenseitigen Einvernehmen durchgeführte homosexuelle Handlungen erwachsener Personen keinen Straftatbestand mehr dar. Es ist unklar, in wieweit andere Paragraphen des Strafgesetzbuches wie beispielsweise §400 – 402, die sich mit unsittlichen Handlungen auseinandersetzen, theoretisch auch auf homosexuelle Handlungen Anwendung finden könnten. Dem Auswärtigen Amt sind bisher keine Fälle einer solchen Anwendung in der Rechtsprechung oder Rechtspraxis bekannt. Gleichgeschlechtliche Ehen sind im irakischen Recht nicht vorgesehen Sofern einer oder beide der Partner mit einer dritten Person verheiratet sind, fällt auch eine homosexuelle Beziehung unter den Straftatbestand des Ehebruchs.

2. Repressionen durch nichtstaatliche Akteure

Neben die staatliche tritt die Repression durch nichtstaatliche Akteure, vor denen Regierung und Staat die Bürger nicht schützen können. Auch wenn das „Kalifat“ des „IS“ in Irak territorial besiegt ist, werden „IS“-Sympathisanten weiterhin Andersdenkende bedrohen und angreifen. Auch die im Kampf gegen „IS“ mobilisierten, mehrheitlich schiitischen und zum Teil von Iran unterstützten PMF-Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen je nach Einsatzort und gegebenen lokalen Strukturen eine erhebliche Bedrohung für die dortige Bevölkerung dar. Dies betrifft auch Aktivitäten der PMF im Umfeld der aktuellen Demonstrationen. Durch die teilweise Einbindung der PMF in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Im Süden des Landes, z. B. in der Wirtschaftsmetropole Basra, können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten.

2.1. Militante Opposition, Milizen, Terrorgruppen

2.1.1. Sicherheitslage

Die Terrormiliz „IS“ ist –wenn auch im „Verborgenen“- weiterhin aktiv, insbesondere in den Gegenden um Kirkuk, Mosul und Tal Afar. Der „IS“ hat einen Strategiewechsel vorgenommen und setzt diesen in Form einer asymmetrischen Kriegsführung aus dem Untergrund mit kleineren Anschlägen auch nach dem Tod des „IS“-Führers al-Baghdadi fort. Die Türkei führt regelmäßig Luftangriffe auf PKK-Stellungen insbesondere in den KandilGebirgen durch.

2.1.2 Militante Gruppen

Größere Anschläge mit mehreren Toten ereigneten sich im Juni 2019 in Bagdad (7 Tote) und im September 2019 in Kerbela (12 Tote). Vom Sicherheitsrat der VN 2017 eingesetzt, untersucht das Ermittlungs-Team der Vereinten Nationen („United Nations Investigative Team to Promote Accountability for Crimes Committed by Da’esh / ISIL“ – UNITAD) die Verbrechen des „IS“, von forensischer Arbeit inkl. Exhumierungen im Nord-Irak bis hin zur Untersuchung der Finanzströme der Terrororganisation. Die Zahl der PMF-Milizen (siehe hierzu auch Abschnitt I. 5.) schätzen Beobachter auf rund 50. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mosul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den „IS“ zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, die sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegeln und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beitragen.

2.2. Besonders gefährdete gesellschaftliche Gruppen

Journalisten, Blogger, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte, alle Mitglieder des Sicherheitsapparats (Polizisten, Soldaten) sind besonders gefährdet. Auch Mitarbeiter der Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen werden regelmäßig Opfer von Entführungen oder gezielten Attentaten. Seit der gestiegenen Zahl an Prozessen gegen mutmaßliche „IS“-Kämpfer sind auch die Anwälte dieser Angeklagten vermehrt Bedrohungen ausgesetzt. Human Rights Watch berichtete, dass einige Anwälte den Rechtsbeistand aus Furcht um ihr Leben einstellten. Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird (fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Jesiden und Christen), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten sowie medizinisches Personal werden ebenfalls immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen. LGBTI-Personen sind umfassender Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt (siehe hierzu Abschnitt II. 1.7.1). Eine Vielzahl von ehemaligen Mitgliedern der seit 2003 verbotenen Baath-Partei Saddam Husseins ist, soweit nicht ins Ausland geflüchtet, häufig auf Grund der Anschuldigung terroristischer Aktivitäten in Haft. Laut der VN-Mission haben viele von ihnen weder Zugang zu Anwälten noch Kontakt zu ihren Familien.

2.3. Diskriminierung ethnisch-religiöser Gruppen und Minderheiten

Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten im Zentralirak unter weitreichender faktischer Diskriminierung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen. Sie bleiben daher, u. a. im Zusammenhang mit ihren Berufen und damit verbundenen Lösegelderwartungen, Opfer von Entführungen und sind bevorzugte Ziele von Anschlägen. Im Zuge des „IS“-Vormarsches seit Mitte 2014 kam es zu kollektiven Vertreibungen (Jesiden, Christen, Schabak, Turkmenen) oder sogar Versklavung (Jesiden). Im Zuge der Rückeroberung von durch den „IS“ besetzten Gebieten waren besonders in den zwischen der RKI und der Zentralregierung umstrittenen Gebieten (Provinz Kirkuk, Teile von Ninewa, Salah Al-Din und Diyala) Tendenzen zur gewaltsamen ethnisch-konfessionellen Homogenisierung festzustellen. Die VN-Mission UNAMI und Amnesty International haben dokumentiert, wie angestammte Bevölkerungsgruppen vertrieben bzw. Binnenvertriebene an der Rückkehr gehindert wurden. Dabei handelte es sich oft um die sunnitische Bevölkerung, die vielfach unter dem Generalverdacht einer Zusammenarbeit mit dem „IS“ steht, aber auch um Angehörige vieler anderer Gruppen. Beschuldigt wurden sowohl kurdische Peschmerga als auch die PMF-Milizen sowie in geringerem Umfang Armee und Polizei. Sunniten Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach Entmachtung Saddam Husseins 2003 insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 - 2014) aus öffentlichen Positionen gedrängt.

Anerkannte Führungspersönlichkeiten fehlen weitgehend. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als „IS“-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richteten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher „IS“-Anhänger. Kurden Von ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen sind auch Kurden betroffen, soweit sie außerhalb der RKI leben. Im Nachgang zum Unabhängigkeitsreferendum hat die zentralirakische Armee die sog. umstrittenen Gebiete, die nach dem Zurückdrängen von „IS“ unter kurdischer Kontrolle standen, im Oktober/November 2017 größtenteils wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Seither ist die Lage dort zwischen Kurden und Arabern generell angespannt. Es gibt Meldungen von Landbesetzungen und Vertreibungen kurdischer Bevölkerungsteile durch Araber und v. a. seitens der dort lebenden Kurden und religiösen Minderheiten große Vorbehalte gegen die schiitischen PMF-Milizen. Christen Schätzungen gehen davon aus, dass heute noch etwa 200.000 bis 400.000 Christen in Irak leben (zum Vergleich 2003: 1,5 Mio.). Die Situation der Christen (v. a. assyrische sowie mit Rom unierte chaldäische Christen) hat sich kirchlichen Quel

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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