TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/12 W226 2143175-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.10.2020
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Entscheidungsdatum

12.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W226 2143175-4/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA: Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.06.2019, Zl. 1051808309-180416325 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.09.2020 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1. Verfahren über den ersten Antrag auf internationalen Schutz:

1.1 Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste am 12.02.2015 gemeinsam mit seinen beiden minderjährigen Kindern XXXX (jüngerer Sohn) und XXXX (Tochter) illegal ins Bundesgebiet ein und stellten der BF für sich und seine beiden minderjährigen Kinder am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF brachte zu seinem Fluchtgrund im Wesentlichen vor, er sei Anfang 2014 von Leuten des Kadyrov verhaftet worden und hätten diese von ihm verlangt, dass sein (seit dem Jahr 2004 als Asylberechtigter) in Österreich lebender älterer Sohn nach Tschetschenien zurückkehre. Der in Österreich lebende Sohn habe in Tschetschenien Probleme gehabt und sei zweimal (in den Jahren 2002 und 2003) verhaftet worden. Weiters wurden die Erkrankungen des BF, im Wesentlichen Hepatitis B und C und ein Schlaganfall Anfang 2014, sowie der Tod der Mutter des BF als Grund genannt, weshalb er seine minderjährigen Kinder nicht mehr versorgen könnte.

1.2. Mit den Bescheiden des Bundesamtes vom 30.11.2016, wurde jeweils unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und unter Spruchteil II. gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 dieser Antrag auch bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen. Unter Spruchteil III. wurde dem BF sowie seinen beiden minderjährigen Kindern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG wurde gegen den BF und seine beiden minderjährigen Kinder eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 3 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist und in Spruchpunkt IV. gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt. Dagegen wurde fristgerecht eine Beschwerde erhoben.

1.3. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.02.2017 wurden die Beschwerden des BF sowie jene seiner beiden minderjährigen Kinder mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.04.2017, Zlen. W226 2143175-1/11E, W226 2143179-1/10E und W226 2143183-1/9E, in allen Spruchpunkten abgewiesen.

Im Erkenntnis wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen habe können. Er sei vielmehr ins Bundesgebiet gereist, um die bestehenden Krankheiten hier besser und kostengünstiger behandeln zu lassen. Der seit dem Jahr 2004 in Österreich aufhältige Sohn des BF habe in seinem Asylverfahren eher zwei zufällige Festnahmen im April 2002 und Oktober 2003 geschildert. Individuelle Probleme mit der tschetschenischen Polizei, die dazu führen sollten, dass 14 Jahre später der BF oder andere Angehörige ins Blickfeld der Behörden geraten könnten, seien aus den Angaben des Sohnes überhaupt nicht ableitbar. Weiters hätten die beiden mitgereisten minderjährigen Kinder des BF nichts über die angebliche Inhaftierung des BF berichten können. In Summe sei klar, dass der BF nach dem Tod seiner Mutter beschlossen habe aus medizinischen und finanziellen Gründen zu seinem ältesten Sohn nach Österreich zu ziehen.

Das Erkenntnis wurde dem BF (sowie seinen beiden Kindern) am 28.04.2017 zugestellt und wurde an diesem Tag rechtskräftig.

2. Verfahren über den 1. Folgeantrag auf internationalen Schutz:

2.1. Am 05.09.2017 stellte der BF für sich und seine beiden minderjährigen Kinder, die allesamt im Bundesgebiet verblieben waren, neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag).

Der BF brachte im Wesentlichen erneut vor, an diversen Krankheiten zu leiden und er in ärztlicher Behandlung stehe. Auch seine Kinder würden Österreich nicht verlassen wollen. Zudem befürchte er bei einer Rückkehr wieder Probleme mit den Feinden seines älteren Sohnes bzw. den Behörden zu bekommen.

2.2. Mit Bescheiden des Bundesamtes wurden die Anträge auf internationalen Schutz des BF (sowie jener seiner beiden minderjährigen Kinder) vom 22.11.2017 gemäß § 68 Abs. 1 AVG idgF wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 idgF nicht erteilt, gegen den BF und seine minderjährigen Kinder gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt II.), wobei gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt III.).

2.3. Die gegen diese Bescheide fristgerecht erhobenen Beschwerden wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.01.2018, Zlen. W182 2143175-2/2E, W182 2143179-2/2E und W182 2143183-2/2E, in allen Spruchpunkten abgewiesen.

Begründend wurde ausgeführt, dass sich der BF lediglich auf das Fortbestehen der bereits im ersten Verfahren behaupteten und rechtskräftig als unglaubwürdig bewerteten Verfolgung wegen seines in Österreich aufhältigen ersten Sohnes gestützt habe. Neue Vorfälle habe er nicht behauptet. Auch hinsichtlich der Erkrankungen des BF seien keinerlei neu hinzugetretene, schwerwiegende Erkrankungen behauptet oder solche nachgewiesen worden. Die Erkrankungen des BF seien im Herkunftsland behandelbar und verfüge der BF nach wie vor über Familienangehörige im Herkunftsland.

3. Verfahren über den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz:

3.1. Am 02.05.2018 stellten der BF sowie seine beiden minderjährigen Kinder XXXX , die im Bundesgebiet verblieben waren, neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz (2.Folgeantrag).

3.2. Bei der polizeilichen Erstbefragung infolge seines 2. Folgeantrages gab der BF im Wesentlichen an, dass Ende Februar 2018 die Polizei in zivil zu seinem Bruder namens XXXX in Tschetschenien gekommen sei und sich nach dem BF bzw. dessen Aufenthaltsort und dem Aufenthaltsort seiner Kinder erkundigt habe. Der BF habe - als er noch in Tschetschenien war - Marihuana geraucht. Er habe in seine ersten Verfahren erzählt, dass die Polizisten ihn mitgenommen hätten, jedoch habe er nicht erwähnt, dass dies aufgrund seines Marihuana-Konsums gewesen sei. Der BF wäre das erste Mal 2013 mitgenommen worden. Seine Familie habe sein Auto verkauft, um ihn freizukaufen. Ein halbes Jahr später sei er wieder von der Polizei mitgenommen worden. Ihm sei vorgeworfen worden, einem gewissen XXXX ein Gramm Heroin verkauft zu haben, welches XXXX mit markierten Geldscheinen bezahlt hätte, welche sich wiederum beim BF befänden. Diese markierten Geldscheine habe es jedoch nicht gegeben. Die Polizei habe dann dem BF gesagt, dass dies kein Problem sei, da sie dem BF auch 10 Gramm unterschieben könnten, wenn es sein müsse. Als die Polizei gesehen habe, dass der BF ihnen kein Geld geben könnte, hätte sie ihn gefoltert um ihn zu zwingen für die Polizei zu arbeiten. Der BF habe so getan, als ob er damit einverstanden gewesen wäre, in Zukunft Drogendealer und Abnehmer an die Polizei zu liefern. Danach habe er sich in Grosny versteckt.

3.3. Im Zuge der Einvernahme vor dem BFA am 14.05.2018 gab der BF zu seinem Gesundheitszustand an, derzeit nicht in ärztlicher Behandlung zu stehen und er nur noch einen Spray gegen Atemnot einnehme.

Von der Behörde befragt, ob seine Fluchtgründe aus dem Erstverfahren noch bestehen würden bzw. ob er auch neue Fluchtgründe habe, meinte der BF: „Die Fluchtgründe aus dem Erstverfahren bestehen nicht mehr. Ich habe neue Fluchtgründe.“

Zu seinen neuen Fluchtgründen befragt, gab der BF an:

„Mein eigentlicher Grund, weshalb ich mein Heimatland verlassen habe, sind meine Probleme mit der Behörde. Ich habe Marihuana konsumiert. Mein Handy wurde abgehört und die Leute wussten, dass ich Drogen konsumiere. Deswegen wurde ich zweimal mitgenommen. Ich wollte nicht preisgeben, von wem ich Marihuana bekomme, damit diese Leute keine Probleme bekommen. Die Polizisten wollten eigentlich nur Geld erpressen, damit sie mich freilasen, sollte man zahlen. Einmal war ich mit meiner Frau im Gemüsegarten. Bewaffnete Leute kamen zu mir. Sie haben mein Haus durchsucht. Sie suchten nach Marihuana. Sie haben aber nichts gefunden. Die Nachbarn haben das alles gesehen. Eine Nacht verbrachte ich dort und dann wurde ich freigelassen. Ich dachte, weil ich eben unschuldig bin. In Wirklichkeit haben meine Verwandten, das Geld gesammelt, um mich freizukaufen. Außerdem, bei uns in Tschetschenien gibt es keine Arbeit, ich bekomme keine Rente. Ich habe keine Möglichkeit, in Tschetschenien ein normales Leben zu führen. Ich habe mein Auto verkauft, um nach Österreich kommen zu können.“

Er sei das erste Mal 2013 und das zweite Mal im Jahr 2014 mitgenommen worden. Genauer könne er es nicht sagen. In welchem Zeitraum sein Handy abgehört worden sei, wisse er nicht genau. Im Jahr 2014 habe man ihm gesagt, dass sein Handy abgehört werde. Sie hätten sein Handy aber nicht wirklich abgehört, sondern ihm die Anrufliste gezeigt.

Befragt nach seinem neuen Vorbringen, welches sich auf einen Sachverhalt vor seiner Ausreise beziehe und warum er die nun vorgebrachten Gründe erst im 3. Verfahren vorgebracht hätte, meinte der BF: „Ich wollte die Information vor meinen Kindern verheimlichen. Ich wollte nicht, dass sie wissen, dass ich Drogen konsumiere.“ Befragt aus welchem Grund er neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz stelle, nachdem sein zweiter Antrag auf internationalen Schutz mit 04.01.2018 rechtskräftig wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurde, meinte der BF, dass er befürchte zu Hause verfolgt zu werden. Als er das zweite Mal mitgenommen worden sei, hätten die Leute, die in der Abteilung zur Drogenbekämpfung arbeiten würden, ihn zwingen wollen, für sie zu arbeiten. Er solle Namen der Leute nennen, die selber Marihuana konsumieren oder verkaufen.

Zu seinem Leben in Österreich gab der BF an, derzeit einen Deutschkurs in seiner Unterkunft zu besuchen. Er frage immer in seiner Wohngemeinde nach Arbeit, dort bekomme er 5 EUR/Stunde. Seine Kinder würden das Geld bekommen und versuche er etwas dazu zu verdienen, weil er selbst seit August 2017 vom Staat kein Geld bekomme. Er sei hier nicht Mitglied in Vereinen oder sonstigen Organisationen.

3.4. Mit mündlich verkündeten Bescheid vom 14.05.2018 hob das BFA den faktischen Abschiebeschutz des BF (sowie jenen seiner beiden Kinder XXXX ) gemäß § 12 a Abs. 2 AsylG auf. Die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes gemäß § 12a Abs. 2 iVm § 22 Abs. 10 AsylG 2005 und § 22 BFA-VG - jeweils - für rechtmäßig erklärt und die Revision für nicht zulässig erachtet.

Zum Vorbringen des BF im Folgeantrag vom 05.02.0218 wurde unter anderem wie folgt ausgeführt:

„Die Beschwerdeseite konnte nicht substantiiert darlegen, dass seit dem rechtskräftig entschiedenen Erstantrag ein neuer Sachverhalt eingetreten ist. Soweit der Beschwerdeführer angibt, dass er bei seinem seinerzeitigen Fluchtvorbringen zum Sachverhalt bewusst nicht alle Angaben vorgebracht hat und er nunmehr neue Fluchtgründe angibt, ist dem entgegenzuhalten, dass er keinerlei glaubwürdige Gründe vorbringt, weshalb er seinerzeit nicht in der Lage gewesen sein soll, vollständige Angaben zu seinem Fluchtgrund anzugeben. Wenn er dies mit der behaupteten Scham vor seinen Kindern hinsichtlich seines seinerzeitigen Mariuhanakomsums begründet, kann dies nur als Schutzbehauptung gewertet werden. Weswegen mit Recht davon ausgegangen wurde, dass sein nunmehriges Vorbringen ebenfalls erfunden ist. Wie bei seinem Erstantrag bringt er auch diesmal keinerlei Beweismittel vor. Wie die belangte Behörde richtig festgestellt hat, würde, selbst bei Zugrundelegung des Vorbringens, dieses keinen neuen entscheidungsrelevanten Sachverhalt darstellen, da dieses gänzlich vor Rechtskraft des Erstverfahrens angesiedelt ist und daher von der Rechtskraftwirkung des Erstverfahrens erfasst ist. Auch in der Person des Beschwerdeführers hinsichtlich Gesundheit und Lebensumständen ist keinerlei Änderung eingetreten. Aus den vorliegenden Länderberichten kann auch nicht abgeleitet werden, dass sich die Lage im Herkunftsland in irgendeiner entscheidungsrelevanten Form geändert hätte.“

3.5. Am 30.05.2018 wurde der BF (gemeinsam mit seinen beiden Kindern XXXX ) in die Russische Föderation abgeschoben, bevor diese allesamt im Juli 2018 wieder illegal nach Österreich einreisten.

3.6. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der BF am 27.02.2019 niederschriftlich vom BFA einvernommen.

Der BF gab an, im Moment – bis auf Ohrenschmerzen – keine Beschwerden zu haben. Er bekomme deswegen Tropfen und sei gestern beim Arzt gewesen. Sonst habe er keine gesundheitlichen Probleme und habe er bisher immer der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht. Zu seinen persönlichen Verhältnissen gab er an, er sei geschieden und habe drei Kinder. Seine Exfrau lebe in Grosny, er habe keinen Kontakt. Seine Kinder würden in XXXX leben.

Zu seinem Leben in der Russischen Föderation gab er an, im Gebiet Grosny gelebt zu haben. Er habe dort ein alleinstehendes Haus. Sein Bruder samt Familie und seine drei Schwestern würden nach wie vor in Tschetschenien leben und habe er zu ihnen telefonischen Kontakt.

Befragt, warum er den gegenständlichen (neuerliche) Asylantrag gestellt habe, gab der BF an, dass es einige Gründe dafür gäbe. Zunächst habe seine Tochter hier geheiratet und ein Kind auf die Welt gebracht. Zudem könne er nicht nach Hause zurückkehren, da er gerne sein Leben mit seiner Familie hier aufbauen würde. Hier gäbe es bessere Möglichkeiten zu leben. Sein Sohn habe dort die Schule nicht absolviert, er könne sich das Leben dort schwer vorstellen. Auf die Frage, ob er eine Möglichkeit habe, nach Hause zurückzukehren, gab der BF an, dass es schon die Möglichkeit gäbe zurückzukehren, aber seine Tochter sei hier verheiratet und noch minderjährig und sei er der gesetzliche Vertreter. Der Mann der Tochter habe einen Asylstatus in Österreich und könne nicht nach Tschetschenien zurück, da dann die Familie auseinanderbrechen würde. Nach Vorhalt, dass er bei seiner Befragung am 14.05.2018 andere Gründe für den gegenständlichen Asylantrag angegeben habe, gab der BF zunächst an: „Welche Gründe, ich habe zahlreiche Interviews gehabt“, bevor er dann ausführte, er wisse, er habe angegeben, zweimal von Mitarbeitern der Behörde entführt worden zu sein. Das erste Mal sei er von einem Verwandten freigekauft worden und seien 300.000 Rubel bezahlt worden. Es sei ihm ein Drogenhandel vorgeworfen worden. Das zweite Mal sei er ebenfalls von der Behörde von zu Hause weggebracht worden. Es seien im Nachbarhaus Reste der Drogenproduktion gefunden worden und sei ihm vorgeworfen worden, damit etwas zu tun zu haben. Er habe dann für seinen Freikauf sein Auto verkauft und etwa 200.000 Rubel bezahlt. Nach diesen beiden Vorfällen habe er beschlossen das Land zu verlassen. Nach genauerer Befragung durch das BFA, gab der BF an, der erste Vorfall sei etwa im Herbst 2013, der zweite im Februar 2014 passiert.

Zudem gab er an, dass er nach seiner Ausweisung nicht in seinem Haus leben habe können, da Strom und Heizung abgeschaltet worden seien. Er habe mit seinem Sohn bei seinem Bruder gewohnt, die Tochter sie in Moskau bei Bekannten geblieben. Er habe seit Kriegsbeginn hohe Schulden.

Befragt, was er bei einer Rückkehr in sein Heimatland befürchte, gab der BF an: „Ich fürchte mich vor nichts, ich kann dort einfach nicht leben, es gibt dort einfach keine Zukunftsmöglichkeiten für uns, ich möchte, dass meine Kinder eine schöne Zukunft vor sich haben.“

Zu seinem Leben in Österreich gab er an, ein bisschen bei der Gemeinde zu arbeiten. Eine Frau namens XXXX und die katholische Kirche helfe ihm. Die Kirche habe ihm die Miete für zwei Monate bezahlt. Wenn Arbeit da sei, dann nehme er sie an. Neben seinem asylberechtigten Sohn und seinen beiden anderen Kindern habe er keine Verwandten in Österreich. Zu seiner minderjährigen Tochter bestehe ein rechtliches Abhängigkeitsverhältnis, da er der gesetzliche Vertreter sei. Ansonsten sei er mit seinen österreichischen Nachbarn befreundet. Eine dauerhafte Beschäftigung habe er nicht, aber die Gemeinde rufe ihn an, wenn sie einen Auftrag habe. Er bekomme 5 EUR/Stunde. Er habe Deutschkurse besucht, aber keine Prüfungen gemacht. Der BF sei nicht Mitglied in Vereinen oder Organisationen.

3.7. Mit Bescheid des BFA vom 29.04.2019 wurde der Asylantrag der Tochter des BF XXXX hinsichtlich des Status der Asylberechtigten sowie des Status der subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Eine Rückkehrentscheidung in die Russische Föderation wurde - nach Geburt ihres in der Folge asylberechtigten Kindes - auf Dauer für unzulässig erklärt und ihr eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs. 2 AsylG erteilt.

3.8. Mit dem im Spruch angeführten Bescheid vom 27.06.2019 wurde unter Spruchteil I. der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen und unter Spruchteil II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. dieser Antrag auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen. Unter Spruchteil III. wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). In Spruchpunkt VI. wurde die Frist für die freiwillige Ausreise gem. § 55 Abs. 1-3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

Die belangte Behörde führte aus, dass die Identität des BF feststehe. Er gehöre der Volksgruppe der Tschetschenen an und bekenne sich zum muslimischen Glauben. Der BF sei gemeinsam mit seinen zwei Kindern im Februar 2015 nach Österreich eingereist und habe am 12.02.2015 einen Asylantrag gestellt, welcher rechtskräftig in zweiter Instanz negativ entschieden worden sei. Ebenso sei sein erster Folgeantrag rechtskräftig in zweiter Instanz negativ entschieden worden. Der BF leide an keinen schwerwiegenden lebensbedrohenden physischen oder psychischen Erkrankungen oder sonstigen Beeinträchtigungen.

Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten führte die belangte Behörde aus, dass der BF keine individuelle Verfolgungsgefahr glaubhaft machen habe können. Die von ihm nunmehr angegebenen privaten Gründe für seine neuerliche Asylantragstellung seien glaubhaft, aber nicht asylrelevant. Die von ihm am 27.02.2019 angegebenen Gründe würden im krassen Widerspruch zu seinen bisher vorgebrachten Fluchtgründen stehen. Dies zeige, dass der BF schon im Vorverfahren falsche Angaben gemacht habe. Der BF habe nicht einmal genau gewusst, welche Fluchtgründe er früher angegeben habe. Insgesamt liege daher kein entscheidungswesentlicher neuer Sachverhalt vor.

Zur Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz wurde ausgeführt, dass bei einer Rückkehr keine exzeptionelle Gefährdungslage vorliege. Er könne in der Heimat Unterstützung (durch Verwandte) bekommen und würde eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden. Der BF verfüge über grundlegende Schulbildung und Berufserfahrung. Er sei im erwerbsfähigen Alter, arbeitswillig und habe keine gesundheitlichen Probleme. Ihm sei es auch zuzumuten, sich in einem anderen Teil der Russischen Föderation anzusiedeln. Er habe Zugang zum russischen Sozialsystem

Zur Rückehrentscheidung führte das BFA im Wesentlichen aus, dass er Familienangehörige in Österreich habe, diesbezüglich aber kein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Er beziehe keine Leistungen aus der Grundversorgung, gehe aber auch keiner dauernden beruflichen Tätigkeit nach. Er werde von der Kirche und Privatpersonen unterstützt. Er habe Deutschkurse absolviert, spreche aber nicht gut Deutsch. Eine besondere Integrationsverfestigung könne nicht festgestellt werden.

Ebenso wurde mit Bescheid des BFA vom 27.06.2019 der Antrag des jüngeren Sohnes XXXX gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen, sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt und eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es wurde festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist und gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht.

3.9. Gegen diese Bescheide brachte der BF (sowie auch sein jüngerer Sohn XXXX ) eine vollinhaltliche Beschwerde ein, in welcher zum BF ausgeführt wird, dass er die Obsorge für seine minderjährige Tochter innehabe und daher ein schützenswertes Familienleben vorliege. Der BF werde in der Russischen Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit weiterhin staatlich verfolgt und würde er aufgrund seiner Erkrankungen in eine auswegslose Situation geraten. Auch sei der mitgereiste Sohn erst seit kurzem volljährig und immer noch auf den Unterhalt des Vaters angewiesen. Der BF sei einer staatlichen Verfolgung ausgesetzt, da er angegeben habe, von tschetschenischen Behörden mitgenommen und gefoltert worden zu sein. Der Grund für die Festnahme sei der Drogenkonsum des BF gewesen und sei er von der Polizei dann aufgefordert worden als Spitzel zu arbeiten. Dies habe der BF nicht gewollt und bestehe die Gefahr, abermals Opfer von Folterhandlungen zu werden. Der BF habe dies in den vorigen Asylanträgen nicht angegeben, da er sich vor seinen Kindern für den Drogenkonsum geschämt habe. Die belangte Behörde hätte ein genaueres Beweisverfahren vornehmen müssen. Der BF sei gut integriert und stehe in einem engen Verhältnis zu seinen Kindern. Der Großteil der Familie des BF befinde sich in Österreich und sei er wegen seiner gesundheitlichen Situation auf seine Familienmitglieder angewiesen. Es bestehe ein intensives Familienleben, der BF kümmere sich um sein Enkelkind und bestehe auch intensiver Kontakt zum älteren Sohn. Der BF falle auch dem Sozialsystem nicht zur Last. Eine Rückkehr des BF sei daher nicht zulässig.

3.10. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.08.2019, Zl.: W226 2143179-4/3E, wurde die Beschwerde des XXXX in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen. Das Erkenntnis erwuchs in Rechtskraft.

3.11. Der BF wurde im Zuge einer Beschwerdeverhandlung vom 22.09.2020 durch das erkennende Gericht nochmals ergänzend zu seinen Fluchtgründen, seinem aktuellen Gesundheitszustand, zum Aufenthaltsort seines Sohnes XXXX , zu seinen Verwandten im Herkunftsstaat, zu seinem Verhältnis zu seiner Tochter XXXX sowie zu seiner Integration in Österreich befragt.

Im Zuge der Verhandlung legte der BF diverse Empfehlungsschreiben von Gemeindebewohnern, Nachbarn, eines Gemeindearbeiters und der Pfarre vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat nach Durchführung einer Beschwerdeverhandlung wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

Feststellungen zum BF:

Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Seine Identität steht fest.

Der BF reiste am 12.02.2015 gemeinsam mit seinen damals minderjährigen Kindern XXXX illegal ins Bundesgebiet ein und stellte er für sich und seine beiden Kinder am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheiden des BFA vom 30.11.2016 wurden die Anträge des BF sowie seiner beiden Kinder sowohl hinsichtlich des Status der Asylberechtigten, als auch hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet abgewiesen. Es wurden Rückkehrentscheidungen erlassen und die Abschiebung in die Russische Föderation als zulässig erklärt. Die Beschwerden gegen diese Bescheide des BFA wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.04.2017 in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen.

Der BF verblieb daraufhin mit seinen beiden Kindern im Bundesgebiet und stellten diese am 05.09.2017 neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz (1. Folgeantrag).

Diese 1. Folgeanträge wurden mit Bescheiden des BFA vom 22.11.2017 gemäß § 68 Abs. 1 AVG idgF wegen entschiedener Sache zurückgewiesen, zudem wurden Rückkehrentscheidungen erlassen und die Abschiebung in die Russische Föderation für zulässig erklärt. Die Beschwerden gegen diese Bescheide wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.01.2018 in allen Spruchpunkten abgewiesen.

Der BF und seine beiden Kinder verblieben erneut im Bundesgebiet und stellten am 02.05.2018 neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz (gegenständlicher 2.Folgeantrag).

Mit Bescheid des BFA vom 29.04.2019 wurde der Tochter des BF, XXXX , eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs. 2 AsylG erteilt.

Mit Bescheid des BFA vom 27.06.2019 wurde der 2. Folgeantrag des jüngeren Sohnes des BF, XXXX , gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und eine Abschiebung in die Russische Föderation als zulässig erklärt. Die dagegen eingebrachte Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.08.2019 in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen. Das Erkenntnis erwuchs in Rechtskraft und wurde XXXX am 03.02.2020 in die Russische Föderation abgeschoben.

Nicht festgestellt werden kann, dass dem BF in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung maßgeblicher Intensität – oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität – in der Vergangenheit gedroht hat bzw. aktuell droht.

Nicht festgestellt werden kann, dass der BF im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation respektive Tschetschenien in seinem Recht auf Leben gefährdet wäre, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würde oder von der Todesstrafe bedroht wäre.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Der BF war in der Republik Tschetschenien in einem Dorf nahe Grosny wohnhaft und ist dort nach wie vor Eigentümer eines Hauses. Dort konnte und kann er zudem bei seinem Bruder Unterkunft nehmen. In der Russischen Föderation (Tschetschenien) halten sich nach wie vor der Bruder des BF (samt Familie) sowie die Schwestern des BF auf. Der BF hat mit seinen Verwandten regelmäßig telefonischen Kontakt.

Der BF verfügt über eine grundlegende Schulbildung und Berufserfahrung als Baumeister. Seine Muttersprache ist Tschetschenisch, er spricht auch fließend Russisch.

Der BF hat bei seiner Einreise nach Österreich im Jahr 2015 an diversen Krankheiten gelitten. Die gesundheitlichen Probleme des BF wurden in Österreich erfolgreich behandelt und liegen nunmehr keine Krankheiten vor, welche einer Rückkehr in die Russische Föderation entgegenstehen.

Der unbescholtene BF hielt sich nach seiner illegalen Einreise im Februar 2015 bis zu seiner Abschiebung in die Russische Föderation im Mai 2018 etwa 3 Jahre und 3 Monate durchgehend in Österreich auf.

Der älteste Sohn des BF XXXX lebt seit 2004 in Österreich. Er ist asylberechtigt und lebt mit seiner Familie in XXXX . Die mittlerweile volljährige Tochter des BF XXXX lebt ebenfalls in XXXX . Ihr wurde ein Aufenthaltstitel (Rot-Weiß-Rot-Karte-plus) ausgestellt. Sie ist mit dem asylberechtigten russischen Staatsbürger XXXX traditionell verheiratet und hat mit ihm gemeinsam ein Kind, welches ebenfalls den Asylstatus besitzt. Zudem lebt ein Neffe des BF (Sohn des Bruders) samt Familie mit „Arbeitsvisum“ in XXXX .

Ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Angehörigen in Österreich oder ein gemeinsamer Haushalt besteht nicht.

Der unbescholtene BF wohnte früher mit seiner Tochter und seinem jüngeren Sohn zusammen, nunmehr lebt er alleine in einer Mietwohnung in der Steiermark ( XXXX ). Seinen Aufenthalt finanziert er sich durch bedarfsabhängige Tätigkeiten bei der Gemeinde oder durch Hilfstätigkeiten bei Nachbarn (z.B. Möbelaufbau). Gelegentlich bekommt er von Nachbarn, der Kirche oder seinem ältesten Sohn finanzielle Unterstützung für die Mietkosten oder für Lebensmittel. Der BF hat zwar Deutschkurse besucht, eine Bestätigung über die erfolgreiche Absolvierung eines Deutschzertifikates konnte er nicht vorlegen. Er konnte Empfehlungsschreiben vorlegen und hat in seiner Wohnsitzgemeinde Freundschaften bzw. Bekanntschaften geschlossen, dabei handelt es sich aber nicht um enge soziale Kontakte. Eine nachhaltige Integration des BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet kann nicht erkannt werden.

Zur Lage in der Russischen Föderation/Tschetschenien:

Politische Lage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).

Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020

-        CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2020

-        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

-        Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (19.3.2020): Putin hält trotz Coronavirus-Krise an der Verfassungsabstimmung fest, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-in-russland-krise-ueberschattet-verfassungsabstimmung-ld.1547213, Zugriff 26.3.2020

-        ORF.at (25.3.2020): Putin verschiebt Abstimmung über Verfassungsänderung, https://orf.at/stories/3159340/, Zugriff 26.3.2020

-        ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020

-        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020

-        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020

-        RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020

-        Spiegel Online (15.1.2020): Putins Operation Machterhalt, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-putins-operation-machterhalt-a-aafe31f8-54b2-4d38-9bf4-6e613e586b96, Zugriff 2.3.2020

-        Spiegel Online (16.1.2020): Michail Mischustin ist neuer Premierminister Russlands, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-michail-mischustin-ist-neuer-premierminister-a-1b3bd2eb-bc42-43cf-9033-25c8221cc7ed, Zugriff 2.3.2020

-        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020

-        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

-        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

-        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/conte

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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