TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/21 W103 2235634-1

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Veröffentlicht am 21.10.2020
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Entscheidungsdatum

21.10.2020

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W103 2235634-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den XXXX , Rechtsanwalt in XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.09.2020, Zl. 751590905-180703464, zu Recht:

A) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird gemäß den §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, 8, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF als unbegründet abgewiesen.

II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben, der Bescheid hinsichtlich der bekämpften Spruchpunkte IV. – V. aufgehoben, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG idgF für auf Dauer unzulässig erklärt und XXXX gemäß §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 idgF der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Dem Beschwerdeführer, einem minderjährigen Staatsangehörigen der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, wurde mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.10.2006 in Stattgabe eines durch seine Mutter und damalige gesetzliche Vertreterin infolge gemeinsamer illegaler Einreise am 28.09.2005 eingebrachten Asylantrags gemäß § 7 AsylG 1997 in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

2. Infolge Straffälligkeit des minderjährigen Beschwerdeführers leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Aktenvermerk vom 26.07.2018 ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten wegen geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat ein. Auch gegen den Vater des Beschwerdeführers und die weiteren asylberechtigten Mitglieder seiner Kernfamilie wurden Verfahren zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten eingeleitet.

Am 14.09.2018 wurden der Vater und die Mutter des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen.

Der Beschwerdeführer leistete einer Ladung zu einer am gleichen Datum angesetzten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl keine Folge.

Einer Ladung zu einer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl für den 03.10.2019 leistete der Beschwerdeführer ebenfalls keine Folge.

Mit Schreiben vom 10.10.2019 gewährte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem minderjährigen Beschwerdeführer die Möglichkeit, binnen Frist eine Stellungnahme zu in Form eines Fragenkatalogs näher angeführten Asketen seiner privaten und familiären Lebensumstände, zu seiner Situation im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat sowie zum im Verfahren herangezogenem Berichtsmaterial zur Lage in der Russischen Föderation einzubringen.

Am 31.10.2019 übermittelte der Beschwerdeführer den handschriftlich ausgefüllten Fragenkatalog.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 09.09.2020 wurde dem minderjährigen Beschwerdeführer in Spruchteil I. der ihm mit Bescheid vom 12.10.2006 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 idgF aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchteil II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG idgF erlassen, in Spruchpunkt V. gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei und in Spruchpunkt VI. ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Zudem wurde in Spruchpunkt VII. gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen.

Zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde begründend erwogen, die Zuerkennung des Status an den Beschwerdeführer im Jahr 2006 sei auf die Angehörigeneigenschaft zu seinem Vater gestützt worden, welchem seinerseits aufgrund einer möglichen Sippenhaftung wegen der oppositionell-politischen Tätigkeit seines Onkels bzw. Bruders Asyl gewährt worden sei. Diese Gründe seines Vaters seien gegenwärtig nicht mehr aufrecht und es sei angesichts der Tatsache, dass sich zahlreiche Angehörige seines Vaters unbehelligt in Tschetschenien aufhielten, anzunehmen, dass dies sämtlichen weiteren Familienmitgliedern ebenfalls möglich wäre. Eigene Gründe des Beschwerdeführers hätten nie bestanden und seien auch im nunmehrigen Verfahren nicht hervorgekommen. Der Beschwerdeführer habe im Verfahren keine dem entgegenstehenden Gründe dargetan, dieser sei zwei Ladungen zu Einvernahmen vor dem Bundesamt unentschuldigt nicht gefolgt und habe auch im Rahmen des schriftlichen Parteiengehörs lediglich vorgebracht, dass er nicht wüsste, weshalb er nicht in der Russischen Föderation leben könnte. Auch die Eltern des Beschwerdeführers hätten anlässlich ihrer Einvernahmen vor der Behörde keine anderslautenden Ausführungen getroffen. Da die Gründe, die zur Zuerkennung des Status an seinen Vater geführt hätten, nicht mehr bestehen würden, sei dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 abzuerkennen gewesen.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat seien gesichert; dieser verfüge über zahlreiche verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte und eine Unterkunftsmöglichkeit im Herkunftsstaat, zudem stünde es seinen Eltern frei, sich gemeinsam mit dem Beschwerdeführer bis zu dessen Volljährigkeit wieder im Herkunftsstaat anzusiedeln respektive ihn vom Ausland aus finanziell zu unterstützen. Der Beschwerdeführer sei gesund, arbeitsfähig und gehöre keiner im Hinblick auf die COVID 19-Pandemie vulnerablen Personengruppe an. Dem Beschwerdeführer wäre eine Niederlassung in jedem Teil seines Herkunftsstaates potentiell möglich.

Da auch ein sonstiges Abschiebehindernis nicht festzustellen gewesen wäre und zudem ein Ausschlussgrund vorliege, sei auch der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen.

Zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers wurde erwogen, dieser lebe seit dem Jahr 2005 mit seiner Kernfamilie in Österreich und habe hier die Schule besucht. Jedoch sei er wegen zahlreicher teils schwerwiegender Straftaten rechtskräftig verurteilt worden, habe Resozialisierungsmöglichkeiten bislang nicht in Anspruch genommen und habe sich nie ernsthaft um eine Arbeitsaufnahme bemüht, sodass eine für ihn günstige Prognose nicht gestellt werden könne. Da keine Gründe für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG vorliegen würden und sich ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers aufgrund der beiden rechtskräftigen Verurteilungen als gerechtfertigt erweise, sei eine Rückkehrentscheidung zu erlassen gewesen.

Das Verhalten des Beschwerdeführers stelle eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar und es könne aufgrund der mehrfachen Verurteilungen des Beschwerdeführers keine Zukunftsprognose zu seinen Gunsten getroffen werden. Die Gesamtbeurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers, seiner Lebensumstände sowie seiner privaten und familiären Anknüpfungspunkte habe daher im Zuge der von der Behörde vorgenommenen Abwägungsentscheidung ergeben, dass die Erlassung eines Einreiseverbotes in der angegebenen Dauer gerechtfertigt und notwendig sei, die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern.

5. Mit am 25.09.2020 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch den bevollmächtigten Vertreter des Beschwerdeführers fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis V. des dargestellten Bescheides wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften eingebracht. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer sei im Jahr 2005 im Alter von drei Jahren aufgrund der Kriegswirren in Tschetschenien und der Verfolgung seines Vaters nach Österreich gelangt und es sei dessen Familie mit Bescheiden vom 12.10.2006 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Auch seinem Onkel, bei welchem es sich um einen prominenten Militärjournalisten gehandelt hätte, welcher über die Vorkommnisse in Tschetschenien unverblümt berichtete, und dessen Familie sei in Österreich Asyl gewährt worden. In Österreich lebe der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern und stehe auch im regelmäßigen Kontakt zu seinem Vater; zu seinen Angehörigen in der Russischen Föderation habe er keinen Kontakt. In Österreich habe der Beschwerdeführer im Jahr 2018 den Pflichtschulabschluss gemacht, sei jedoch bedauerlicherweise zwischen Abschluss der Pflichtschule und Integration am Arbeitsmarkt bzw. Aufnahme einer Weiterbildung straffällig geworden.

Der Vater des Beschwerdeführers habe aufgrund der Verfolgung durch pro-russische tschetschenische Sicherheitsorgane in Österreich Asyl erhalten. Seine Familie, vor allem die männlichen Familienmitglieder, seien aufgrund ihrer politischen Einstellung zu Russland, vor allem aber durch die Kriegsberichterstattung des Onkels, ins Visier der Behörden geraten. Dass der Vater des Beschwerdeführers mittels Haftbefehls gesucht werde, sei nicht ausgeschlossen. Wie der Vater und die Mutter des Beschwerdeführers in deren Einvernahmen angegeben hätten, sei es aufgrund der Namensgleichheit und Zugehörigkeit zum Familienverband des Vaters nach wie vor gefährlich, zurückzukehren. Der Aberkennungsbescheid seines Vaters und die diesem zugrunde gelegenen Erwägungen seien dem Beschwerdeführer nicht bekannt. Inwiefern sich jedoch die Lage im Herkunftsstaat in Bezug auf den Umgang mit Journalisten und der Sippenhaftung naher Angehöriger nachhaltig geändert hätte, werde nicht festgestellt oder erörtert. Entsprechend zahlreicher Quellen sei belegt, dass sich die Lage in Tschetschenien und auch in der Russischen Föderation nicht dauerhaft und nachhaltig gebessert habe. In Tschetschenien komme es weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen wie willkürlichen Verhaftungen, unmenschlicher Behandlung durch Sicherheitskräfte und Kollektivbestrafungen und es werde gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige rigoros vorgegangen. Kadyrow könne seine Handlanger in jede Ecke Russlands oder sogar ins Ausland schicken, um Oppositionelle zu bedrohen oder auszuschalten. Die Situation für die Tschetschenen habe sich dahingehend keinesfalls geändert oder sogar verbessert, nach wie vor seien Aufständische und Kritiker sowie Meinungs- und Menschrechtsaktivisten repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt. Nach wie vor komme es fast täglich zu Übergriffen durch das Regime. Aufgrund der Verstrickung Putins mit dem blutrünstigen Präsidenten Kadyrow könne auch keine innerstaatliche Fluchtalternative erkannt werden. Die unerörterte Annahme, wonach sich die Lage nachhaltig, dauerhaft und wesentlich geändert habe, sei mit den Länderinformationen im Fall des Beschwerdeführers und seines Vaters nicht begründbar. Die Behörde hätte zum Schluss gelangen müssen, dass aufgrund der nach wie vor bestehenden politischen Gesinnung des Vaters, der Verfolgung aufgrund der Tätigkeit des Onkels, des bestehenden Familienverbandes und der nach wie vor bestehenden ethnischen Zugehörigkeit keine entsprechende Änderung eingetreten sei, welche es dem Beschwerdeführer erlaube, den Schutz seines Heimatlandes in Anspruch zu nehmen.

In Österreich lebe die gesamte Kernfamilie des Beschwerdeführers und es sei nicht ersichtlich, wie die Behörde zum Schluss gelange, dass zu seinen Eltern keine über die formelle Obsorge hinausgehende Bindung bestehe. Der Beschwerdeführer lebe mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im gemeinsamen Haushalt und habe eine innige Beziehung zu diesen, auch zu seinem Vater bestehe ein gutes Verhältnis. Es sei demnach von einem schützenswerten Familienleben auszugehen. Zudem sei auch nach einem fünfzehn Jahre andauernden Aufenthalt, einer Sozialisierung in Österreich und einem dadurch gewonnenen Freundes- und Bekanntenkreis von einem schützenswerten Privatleben auszugehen. Der Beschwerdeführer habe erst vor kurzem die Pflichtschule abgeschlossen und es könne ihm sohin nicht vorgeworfen werden, noch nicht fest am Arbeitsmarkt angekommen zu sein. Die von der Behörde zitierte Judikatur zur Zulässigkeit von Aufenthaltsbeendigungen sei auf den konkreten Fall des Beschwerdeführers nicht übertragbar, zumal dieser meist Verurteilungen zu langen Haftstrafen zugrunde gelegen hätten. Der Beschwerdeführer sei einmal ohne Schuldspruch, einmal zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von vierzehn Monaten und einmal zu einer Geldstrafe verurteilt worden, sodass nicht von einer erheblichen kriminellen Energie gesprochen werden könne. Die Behörde lasse außer Acht, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Verurteilungen erst fünfzehn/sechszehn Jahre alt gewesen sei. Der Beschwerdeführer befinde sich derzeit auf dem Weg des Erwachsenwerdens, wolle arbeiten und sei sich seiner Schuld bewusst. Die Ausführungen der Behörde seien nicht geeignet, eine Gefährdung für die Allgemeinheit darzustellen. Die negativen Auswirkungen auf das Leben des Beschwerdeführers, welcher seit seiner Ausreise mit drei Jahren keinen Kontakt in sein Heimatland gehabt hätte, dort keine Bezugspersonen habe und mit dem System nicht vertraut sei, seien derart gravierend, dass sie das Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit jedenfalls überwiegen würden.

6. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 01.10.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer ist ein minderjähriger Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Der minderjährige Beschwerdeführer reiste im Jänner 2005 gemeinsam mit seinen Eltern illegal in das Bundesgebiet ein und stellte durch seine gesetzliche Vertreterin einen Asylantrag, dem mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.10.2006 gemäß § 7 AsylG 1997 stattgegeben wurde und es wurde gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

In der Begründung jenes Bescheides wurde im Wesentlichen auf die Bestimmungen über das Familienverfahren und die am gleichen Tag erfolgte Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Vater des Beschwerdeführers verwiesen. Im Verfahren vor dem Bundesasylamt waren seitens seiner gesetzlichen Vertreter keine individuellen Befürchtungen in Bezug auf den damals dreijährigen Beschwerdeführer geltend gemacht worden.

Dem Vater des Beschwerdeführers (IFA-Zahl: 751589000) wurde der Status des Asylberechtigten mit seit 18.07.2020 rechtskräftigem Bescheid des Bundeamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.06.2020 aberkannt, der Status eines subsidiär Schutzberechtigten wurde nicht zuerkannt. Der Vater des Beschwerdeführers unterliegt zum Entscheidungszeitpunkt keiner Gefährdung mehr im Herkunftsstaat.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der minderjährige Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer unterliegt keiner Gefahr einer gezielten Verfolgung wegen der Angehörigeneigenschaft zu einem im Zeitraum der Tschetschenienkriege als Militärjournalist tätig gewesenen (Groß)-Onkel. Ein derartiges Risiko besteht weder im Nordkaukasus, der Herkunftsregion des Beschwerdeführers, noch in anderen Landesteilen der Russischen Föderation. Der Beschwerdeführer hat den Herkunftsstaat im Kindesalter verlassen, war nie einer individuellen Verfolgung ausgesetzt und hat im nunmehrigen Verfahren keine substantiierten Befürchtungen für den Fall seiner Rückkehr geäußert.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der siebzehnjährige Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau und verfügt durch die dort lebenden Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen seines Vaters sowie seine Großeltern, vier Tanten, einen Onkel und weitere Verwandte mütterlicherseits über familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat, welche ihm nach einer Rückkehr anfänglich eine Unterkunft zur Verfügung stellen und ihn bei einer Weidereingliederung unterstützen könnten. Ein Cousin des Vaters des Beschwerdeführers arbeitet als Jurist, ein weiterer Cousin des Vaters hat eine Fensterfirma, ein Onkel seines Vaters lehrt an der Universität. Der Beschwerdeführer, welcher sein Heimatland im Alter von zwei Jahren verlassen hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen.

1.3. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX wurde der minderjährige Beschwerdeführer wegen § 142 Abs. 1 StGB verurteilt (Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe; Probezeit von zwei Jahren sowie Anordnung der Bewährungshilfe).

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der minderjährige Beschwerdeführer (unter Anwendung des § 5 Z 4 JGG) wegen des Vergehens des Raubes nach §§ 15, 142 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt, von der ihm ein Teil im Ausmaß von elf Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Dem Schuldspruch lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer einem anderen mit Gewalt gegen eine Person fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, abzunötigen versuchte, wodurch das Opfer durch Gewaltanwendung eine Rissquetschwunde an der rechten Ohrmuschel und eine Schädelprellung erlitt.

Bei der Strafbemessung wurden das teilweise Geständnis (zur Körperverletzung) und der Umstand, dass es beim Versuch geblieben sei, als mildernd gewertet sowie die Tatwiederholung und die einschlägige Vorstrafe als erschwerend. Für die Dauer der Probezeit wurde die Bewährungshilfe angeordnet und es wurde dem Beschwerdeführer die Weisung erteilt, sich einer psychotherapeutischen Behandlung zu unterziehen.

Mit rechtskräftigem Urteil eines Bezirksgerichts vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der minderjährige Beschwerdeführer wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Gesamtgeldstrafe von EUR 480,-, im Fall der Uneinbringlichkeit 60 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.

1.4. Der ledige und kinderlose minderjährige Beschwerdeführer lebt in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter sowie seinen minderjährigen Geschwistern und steht zu seinem getrennt von der Familie lebenden Vater im regelmäßigen persönlichen Kontakt. Es besteht eine reguläre familiäre Nahebeziehung wie sie zwischen Eltern und minderjährigen Kindern bzw. unter minderjährigen Geschwistern üblich ist. Zudem leben die Großeltern väterlicherseits sowie zwei Tanten des Beschwerdeführers in Österreich. Die Angehörigen des Beschwerdeführers sind zum Aufenthalt in Österreich berechtigt.

Der Beschwerdeführer hat sich während seines langjährigen Aufenthaltes Deutschkenntnisse angeeignet und seine gesamte Schuldbildung im Bundesgebiet absolviert, im Juni 2018 hat er die Neue Mittelschule im Bundesgebiet abgeschlossen. Im Anschluss nahm er an einem EDV-Kurs teil und befand sich zuletzt auf der Suche nach einer Lehrstelle. Der minderjährige Beschwerdeführer ging bislang nie einer längerfristigen beruflichen Tätigkeit nach und war bislang nicht selbsterhaltungsfähig. Der minderjährige Beschwerdeführer hat fast sein gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht, die Bindungen zu seinem Herkunftsstaat sind demgegenüber nur sehr schwach ausgeprägt.

1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019

-        BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft. Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in Kabardino-Balkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot 30.8.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-        DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 3.9.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 13.3.2019). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 6.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 6.8.2019

Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition.

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich zu den föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2018).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, AI 22.2.2018, HRW 17.1.2019). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 13.3.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssten mitsamt ihren Familien Tschetschenien verlassen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2018) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

In Bezug auf Verfolgung von Kämpfern des Ersten und Zweiten Tschetschenienkrieges erging von der Konsularabteilung der ÖB Moskau die Information, dass sich auf Youtube unter https://www.youtube.com/watch?v=0viIlHc51bU ein Link zu einem Nachrichtenbeitrag, der am 23.4.2014 veröffentlicht wurde, findet. Diesem Beitrag zufolge haben tschetschenische Ermittlungsbehörden Anfragen an die Archivbehörden des Verteidigungsministeriums in Moskau gerichtet, um Daten zu erfragen, die ein militärisches Geheimnis darstellen: Nummern militärischer Einheiten; Namen von Kommandeuren und Offizieren, die der Begehung von Kriegsverbrechen verdächtig sind; Fotos dieser Personen; sowie Familienname und Rang von Teilnehmern an Spezialoperationen, in deren Verlauf Zivilisten verschwunden sind. Unbekannt ist laut Bericht, ob die tschetschenischen Behörden die angefragten Informationen erhalten haben. Laut Pressesekretär des tschetschenischen Präsidenten sind die Anfragen nichts Besonderes, denn es gehe um die Aufklärung von Verbrechen, die an bestimmten Orten begangen wurden, als sich dort russisches Militär aufgehalten habe, und die Anfragen seien zur Identifizierung der Militärangehörigen gestellt worden, die sich zu dieser Zeit dort aufgehalten haben, aber nicht zur Identifizierung aller Teilnehmer an militärischen Handlungen. Aus den Briefköpfen der Anfragen ist allerdings ersichtlich, dass diese schon aus dem Jahr 2011 stammen. Hinweise auf neuere Anfragen oder Verfolgungshandlungen tschetschenischer Behörden konnten ho. nicht gefunden werden, ebenso wenig wie Hinweise darauf, dass russische Behörden tschetschenische Kämpfer der beiden Kriege suchen würden. Hinweise darauf, dass Verwandte von Tschetschenien-Kämpfern durch russische oder tschetschenische Behörden zu deren Aufenthaltsort befragt wurden, konnten nicht gefunden werden (ÖB Moskau 12.7.2017).Nach Ansicht der Österreichischen Botschaft davon ausgegangen werden, dass sich die russischen und tschetschenischen Behörden bei der Strafverfolgung mittlerweile auf IS-Kämpfer/Unterstützer bzw. auf Personen konzentrieren, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen.

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo schreibt in einem Themenbericht zu Tschetschenien vom Mai 2014, dass die meisten „alten“ Kämpfer, d.h. jene, die während des Ersten Tschetschenienkrieges [1994-1996, Anm. ACCORD] sowie zu Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges [1999, Anm. ACCORD] gekämpft hätten, nicht mehr Teil der heutigen Aufstandsbewegung seien. Bei vielen, die derzeit in der Polizei oder den Sicherheitsorganen tätig seien, handle es sich um ehemalige Aufständische, die im Ersten bzw. Zweiten Tschetschenienkrieg gekämpft hätten und in weiterer Folge Amnestien in Anspruch genommen hätten.

In einer älteren Anfragebeantwortung vom 8. Mai 2012 schreibt Landinfo, dass es in Tschetschenien mehrere Amnestien in Zusammenhang mit dem Konflikt in den 1990er und 2000er Jahren gegeben habe. Die letzte Amnestie sei am 23. September 2006 von der russischen Staatsduma beschlossen worden und am 15. Jänner 2007 ausgelaufen. Diese Amnestie habe sich auf Straftaten bezogen, die zwischen dem 15. Dezember 1999 und dem Inkrafttreten der Amnestiebestimmungen am 23. September 2006 begangen worden seien, und habe nicht nur für Tschetschenien gegolten, sondern auch für die Teilrepubliken Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Nordossetien und die Region Stawropol.

Die ehemals in Wien ansässige und mittlerweile aufgelöste Menschenrechtsorganisation International Helsinki Federation for Human Rights (IHF) veröffentlichte im Mai 2007 einen ausführlichen Bericht zur Lage amnestierter Personen in Tschetschenien. Hierin bemerkt IHF, dass in Tschetschenien bis zum Berichtszeitpunkt vier Amnestien stattgefunden hätten. Bei der ersten Amnestie vom März 1997 mit einer Dauer von sechs Monaten habe es sich um eine breit angelegte Amnestie gehandelt, die das Ende des Ersten Tschetschenienkriegs symbolisiert habe. Die zweite Amnestie habe von Dezember 1999 bis Mai 2000 gedauert. Die dritte sei von Juni bis September 2003 (bzw. aus Sicht mancher Quellen de facto bis Frühjahr 2004) in Kraft gewesen. Die vierte Amnestie sei im September 2006 beschlossen worden und bis 15. Jänner 2007 gültig gewesen. (IHF, 16. Mai 2007, S. 7)

Es gebe Berichte über Verhaftungen amnestierter Personen. Dabei sei jedoch schwer feststellbar, ob neuerliche Verhaftungen darauf basieren würden, dass eine Person als ehemaliger Aufständischer vermerkt worden sei oder auf Straftaten zurückzuführen seien, die nach der Amnestierung begangen worden seien.

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019

-        AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 23.9.2019

-        DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 7.8.2019

-        ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 7.8.2019

-        Accord-Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation, 7. Oktober 2014, Zugriff 30.03.2020

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl es Mechanismen zur Untersuchung von Misshandlungen gibt, werden Misshandlungsvorwürfe gegen Polizeibeamte nur selten untersucht und bestraft. Straffreiheit ist weit verbreitet (US DOS 13.3.2018), ebenso wie die Anwendung übermäßiger Gewalt durch die Polizei (FH 4.2.2019).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 13.3.2019).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Chef der Republik, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 13.3.2019). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeb

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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