TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/27 L514 2162271-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.10.2020
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Entscheidungsdatum

27.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L514 2162271-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, StA Irak, vertreten durch den Verein Menschrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.05.2017, Zl. 1080322006-1500959971, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 24.08.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, sunnitischen Glaubens und der Volksgruppe der Kurden angehörig, reiste am XXXX.2015 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 30.07.2015 wurde er durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Im Rahmen der Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, dass sein Name XXXX laute, er am XXXX in XXXX /Irak geboren und ledig sei. Seine Eltern sowie sein Bruder und seine Schwester würden noch im Irak leben. In Österreich habe er keine Verwandten. Des Weiteren führte der Beschwerdeführer aus, dass er den Irak am XXXX.2015 legal in Richtung Türkei verlassen habe und in weiterer Folge über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich weitergereist sei.

Als Grund für die Ausreise führte der Beschwerdeführer an, dass im Irak Krieg herrsche. Außerdem habe er in seinem Dorf Feinde, welche Blutrache üben wollen würden. Sie wollen ihn umbringen, weswegen er geflüchtet sei.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er sechs Jahre lang die Grundschule besucht und im Irak den Beruf des Soldaten ausgeübt habe. Der Beschwerdeführer brachte einen irakischen Personalausweis XXXX sowie einen irakischen Staatsbürgerschaftsnachweis in Vorlage.

2.       Am 01.02.2017 wurde der irakischen Reisepass des Beschwerdeführers Nr. XXXX (ausgestellt am XXXX.2008 und gültig bis XXXX.2016) im Zuge einer polizeilichen Kontrolle in der Asylwerberunterkunft XXXX in XXXX sichergestellt. Darin finden sich zahlreiche Ein- und Ausreisestempel sowie Visa.

3.       Am 03.04.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab eingangs auf den Vorhalt der Behörde, er habe bei der Erstbefragung angegeben, dass ihm sein Reisepass durch den Schlepper abgenommen worden sei, an, dass ihm der Reisepass tatsächlich vom Schlepper in XXXX abgenommen worden sei, jedoch habe der Schlepper den Reisepass in der Folge an das Hotel, in welchem sich der Beschwerdeführer in XXXX aufgehalten habe, übersendet. Sein Freund habe ihn abgeholt und mit in den Irak genommen. Ein weiterer Freund habe den Pass dann vom Irak nach Schweden mitgenommen und letztlich an ihn übermittelt. Einen Nachweis, dass sein Freund ihm den Reisepass aus Schweden mit der Post geschickt habe, könne er nicht vorlegen, da er das Kuvert weggeworfen habe. Den Pass habe er einen Monat bevor die Kontrolle durchgeführt worden sei erhalten. Er habe den Reisepass nicht sogleich vorgelegt, weil er auch noch auf Fotos gewartet habe und hätte er diese und den Pass gemeinsam bei der Behörde vorlegen wollen. Des Weiteren legte der Beschwerdeführer 10 Fotos vor, welche ihn als Peschmerga zeigen würden.

Der Beschwerdeführer führte weiters aus, dass er einmal in der Woche Kontakt zu seinen Eltern und seinen Geschwistern über das Internet habe. Seine Familie würde in XXXX in XXXX im Haus seines Vaters leben. Sein Vater sei Peschmerga gewesen und beziehe eine Pension, von welcher seine Familie leben würde. Sein Bruder würde in XXXX auf einer amerikanischen Universität studieren und seine Mutter und seine Schwester seien Hausfrauen. Er habe sein ganzes Leben bei seinen Eltern gelebt. Lediglich in der Zeit von 2008 bis 2010 habe sich der Beschwerdeführer in Griechenland aufgehalten und dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Der Beschwerdeführer habe keine Arbeit im Irak und in Kurdistan gefunden, weswegen er nach Griechenland gegangen sei. Die wirtschaftliche Lage in Griechenland sei nicht gut gewesen, weswegen er letztlich in den Irak zurückgekehrt sei. Einmal habe er auch im Iran eine Augenbehandlung gehabt; deswegen sei ihm ein Visum von XXXX .2013 bis XXXX .2013 ausgestellt worden und ein anderes Mal sei er einen Monat lang in Jordanien auf Urlaub gewesen, das sei im XXXX 2013 gewesen. Für Griechenland habe er kein Visum gehabt und sei er illegal in Griechenland eingereist. Seiner Familie würde es aktuell im Irak gut gehen.

Im Irak habe der Beschwerdeführer den Beruf des Peschmerga ausgeübt. Er habe als Peschmerga gearbeitet, weil er keine andere Arbeit gefunden habe. Eine Ausbildung habe er keine und habe er vor seinem Eintritt verschiedene Hilfstätigkeiten ausgeübt. Stationiert sei er in XXXX bis zur Grenze in XXXX gewesen. Der Beschwerdeführer habe auch an Kämpfen teilgenommen und zwar von 2014 bis zu seiner Ausreise. Er habe mit den Allianztruppen gekämpft, mit den Franzosen und den Amerikanern. Der Beschwerdeführer sei ein Fahrer und einfacher Schütze gewesen. Er habe 642.000 irakische Dinar verdient. Er habe nicht viel Geld gehabt, jedoch habe es gereicht.

Nach seinen Ausreisegründen befragt führte der Beschwerdeführer aus, dass seine Familie Probleme mit einer anderen Familie gehabt habe. Er habe Angst gehabt und sei auch mit dem Tod bedroht worden. Sein Onkel habe mit der anderen Familie im Dorf gestritten und auch der Beschwerdeführer selbst sei bei dem Streit dabei gewesen. Ein Mann der anderen Familie sei am Kopf verletzt worden. Beide Familien hätten aufeinander geschossen und der Sohn des verletzten Mannes sei dabei getötet worden. Die Familie des getöteten Mannes habe gedacht, dass der Beschwerdeführer oder sein Onkel der Täter sei. Schließlich sei die Polizei gekommen und habe den Beschwerdeführer und seinen Onkel für sechs Monate eingesperrt. Es habe keine Beweise gegeben, weshalb sie wieder freigekommen seien. Im Frühling 2014 sei schließlich der Onkel des Beschwerdeführers von der anderen Familie getötet worden. Seine Familie habe daraufhin Rache geschworen. Im Jahr 2015 habe seine Familie wiederum den Mörder seines Onkels umgebracht. Der Beschwerdeführer habe in der Folge Angst gehabt, dass er der Nächste sei, der getötet werde. Aus Angst um sein Leben habe er schließlich den Irak verlassen.

Vor der Ausreise habe sich noch einmal ein Vorfall zugetragen. In einer Winternacht im Jahr 2015 sei eine Handgranate auf das Dach des Hauses seiner Familie geworfen worden, dabei sei der Beschwerdeführer am linken Arm verletzt worden. Für die Tat verantwortlich sei die andere Familie gewesen. Die Polizei sei auch gekommen, sie hätten jedoch keinen Täter ausforschen können. Der Beschwerdeführer sei in der Folge im Krankenhaus gewesen und sei seine Hand mit vier Stichen genäht worden. Er habe Angst gehabt und deswegen habe er den Irak verlassen. Ausgereist sei er schließlich am XXXX.2015, einige Monate nach dem Vorfall. Seine Familie sei nicht so bedroht wie er. Sein Bruder könnte auch in Gefahr sein, jedoch studiere er auf der Uni und komme nicht so oft nach Hause.

An anderer Stelle gab der Beschwerdeführer in der Einvernahme an, dass zuerst zwei Männer aus seiner Familie getötet worden seien, bevor der Mörder von der eigenen Familie getötet worden sei. Auf Nachfrage des BFA gab der Beschwerdeführer weiters an, dass er und sein Onkel für den Tod des ersten Mannes eingesperrt worden seien, da man angenommen habe, dass der Mann durch die Schüsse seiner eigenen Familie gestorben sei. Nur eine Woche nach ihrer Verhaftung seien auch zwei Männer der anderen Familie inhaftiert worden und müsse ein Mann dafür 15 Jahre lang in Haft bleiben. Der Beschwerdeführer sei aus seinem Dorf in die Stadt XXXX geflüchtet und habe zwei Monate lang (im Frühling 2015) bei einem Freund gelebt. Die Gefahr sei jedoch noch größer, wenn man nicht bei der eigenen Familie lebe. Seinen Beruf habe er weiterhin ausgeübt. Auf weitere Nachfrage gab der Beschwerdeführer an, dass er in der Türkei und in Griechenland nicht bleiben habe können, da es dort keine Arbeit gebe. Es gebe keine Sozialhilfe und auch andere Leute würden keine Arbeit finden. Den Irak habe er jedoch nicht aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, da er seinen Beruf und auch sein Gehalt gehabt habe. Der Mörder seines Onkels heiße XXXX , der andere Familienstamm heiße XXXX und der eigene Familienstamm bezeichne sich als XXXX .

4.       Mit gegenständlich in Beschwerde gezogenen Bescheid des BFA vom 30.05.2017, Zl. 1080322006 – 1500959971 – RD XXXX , wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG (Spruchpunkt IV.) wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass die Identitätsdokumente des Beschwerdeführers einem kriminaltechnischen Untersuchungsverfahren der LPD unterzogen und von dieser als authentisch eingestuft worden seien, weshalb die Identität festgestellt werden konnte. Hinsichtlich des Fluchtvorbringens wurde ausgeführt, dass dieses nicht plausibel und deswegen nicht glaubhaft sei. Die Angaben des Beschwerdeführers seien nicht substantiiert gewesen und habe sich der Beschwerdeführer immer wieder in Widersprüche verstrickt. Die Behörde ging davon aus, dass es sich bei der Fluchtgeschichte um ein Konstrukt handeln würde, um Asyl zu erlangen. Der Beschwerdeführer habe angegeben, im Frühling 2014 nach sechs Monaten wieder aus der Haft freigelassen worden zu sein. Dies könne nicht der Wahrheit entsprechen, da sich der Beschwerdeführer im XXXX 2013 wegen seinen Augen im Iran behandeln habe lassen und würde sich auch ein Visum für diesen Zeitraum im Reisepass befinden. Außerdem habe sich der Beschwerdeführer in diesem Zeitraum auch einen Monat lang in Jordanien aufgehalten und gebe es diesbezüglich ebenfalls einen Eintrag im Reisepass. Der Inhaftierung fehle es auch an einem zeitlichen Zusammenhang zur Ausreise des Beschwerdeführers. Ein weiterer Widerspruch sei darin gelegen, dass der Beschwerdeführer einen Angriff auf das Haus seiner Eltern vorgebracht habe, welcher sich im Winter 2015 zugetragen haben soll. Den Irak habe er jedoch erst am XXXX .2015 verlassen. Auch sei es nicht plausibel, dass seine Familie scheinbar unbehelligt im Irak leben könne und habe der Beschwerdeführer selbst ausgeführt, dass seine Familie nicht bedroht werde. Der Beschwerdeführer sei im Hinblick auf seine Fluchtgeschichte unglaubwürdig. Auch spreche die legale Ausreise aus dem Irak gegen eine Verfolgung im Heimatland. Die Behörde ging letztendlich davon aus, dass der Beschwerdeführer sein Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe. Ferner spreche auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer mehrere Länder durchreiste und sich nicht im nächsten sicheren Land niedergelassen habe, gegen eine Verfolgung.

Zu Spruchpunkt III. hielt das BFA fest, dass bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise gefunden werden können, welche den Schluss zuließen, dass durch die Rückkehrentscheidung auf unzulässige Weise im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz des Familien- und Privatlebens eingegriffen werden würde. Ein berücksichtigungswürdiges Privat- und Familienleben habe er nicht vorgebracht und habe er beinahe sein gesamtes Leben im Irak verbracht.

Mit Verfahrensanordnung vom selben Tag wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtberater amtswegig zu Seite gestellt.

5.       Gegen den ordnungsgemäß zugestellten Bescheid erhob der Beschwerdeführer vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schreiben vom 13.06.2017, fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In der Beschwerde wurde ausgeführt, dass der Bescheid im vollen Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung der Verfahrensvorschriften angefochten werde. Der Beschwerdeführer habe sein Heimatland verlassen, weil er befürchte wegen einer Familienfehde umgebracht zu werden. Sein Onkel und auch ein weiterer Verwandter seien aus Blutrache getötet worden. Die eigene Familie habe wiederum den Mörder getötet. Der Beschwerdeführer habe glaubhaft vorgebracht, dass ihm im Heimatland eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure drohe und der Staat in diesem Fall keinen wirksamen Schutz bieten könne. Die staatlichen Behörden hätten weder dem Onkel des Beschwerdeführers noch dem Beschwerdeführer selbst Schutz bieten können. Es sei nicht verständlich weshalb dem Beschwerdeführer die Glaubwürdigkeit seines Vorbringens von der Behörde abgesprochen worden sei. Der Beschwerdeführer habe an dem Verfahren so gut es ihm möglich gewesen sei mitgewirkt und alle Fragen beantwortet. Obwohl seine Muttersprache Sorani sei, sei der Einvernahme ein Dolmetscher beigezogen worden, der Kurmandschi spreche. Die Behörde habe es unterlassen sich mit dem gesamten Vorbringen des Beschwerdeführers sachgerecht auseinanderzusetzen und ein adäquates Ermittlungsverfahren durchzuführen. Eine neuerliche Befragung des Beschwerdeführers sei unerlässlich. Lägen nach einer neuerlichen Prüfung die Voraussetzungen von Asyl nicht vor, so sei dem Beschwerdeführer jedenfalls der Status des subsidiär Schutzberechtigte zuzuerkennen, da er im Irak nicht gefahrlos leben könne.

6.       Am 15.07.2020 und am 23.07.2020 erfolgte eine Urkundenvorlage seitens des Vertreters des Beschwerdeführers zur Vorbereitung der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Vorgelegt wurden ein Entlassungsbrief der Polizeiwache XXXX und die Entscheidung des Generalanwaltes über die vorläufige Freilassung aus Mangel an Beweisen (beides mit Übersetzung). Ferner wurde an Integrationsunterlagen vorgelegt: Sprachkurs A2 (abgeschlossen XXXX .2019), ÖSD Zertifikat A2 ( XXXX .2019), Bescheinigung über einen erste Hilfe Grundkurs ( XXXX .2017), Anmeldebestätigung Universität XXXX „Deutsch als Fremdsprache“ ( XXXX .2020), Röntgenbefund der LWS von XXXX vom XXXX .2018 und ein Bescheid des AMS XXXX vom XXXX .2018, mit welchem der Antrag des Beschwerdeführers auf eine Beschäftigungsbewilligung abgewiesen wurde. Außerdem wurden vorgelegt, eine Einstellungszusage vom XXXX und ein Empfehlungsschreiben von XXXX .

Für den 31.07.2020 wurde vor dem erkennenden Gericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumt. Da der Dolmetscher trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur Verhandlung erschienen ist, musste ein neuer Verhandlungstermin ausgeschrieben werden. Dem Vertreter des Beschwerdeführers wurden die Länderberichte ausgehändigt und die Möglichkeit eingeräumt, bis spätestens in der nächsten Beschwerdeverhandlung dazu eine Stellungnahme abzugeben. Davon wurde nicht Gebrauch gemacht.

Am 24.08.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentlich mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des Beschwerdeführers und seines Vertreters durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer neuerlich Gelegenheit gegeben, die der Antragstellung zugrundeliegenden Umstände umfassend darzulegen.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Sachverhalt:

1.1.    Feststellungen zur Person:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer heißt XXXX, geb. am XXXX in XXXX und ist Staatsangehöriger des Irak.

Der Beschwerdeführer gehört dem sunnitischen Glauben und der Volksgruppe der Kurden an. Er ist am XXXX.2015 illegal in Österreich eingereist und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer ist ledig. Seine Familie, seine Eltern, sein Bruder und seine Schwester, lebt nach wie vor im Irak, wie auch weitere Verwandte. Die Eltern des Beschwerdeführers leben in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX in einem eigenen Haus. Seine beiden Geschwister leben noch bei den Eltern. Zu seiner Familie steht der Beschwerdeführer im regelmäßigen Kontakt über das Internet. Der Vater des Beschwerdeführers bezieht eine staatliche Pension, er war ein Peschmerga, und sein Bruder hat sein Studium abgeschlossen und arbeitet bei einer Firma in XXXX . Seine Schwester ist unverheiratet und Hausfrau. Die Eltern des Beschwerdeführers besitzen im Dorf XXXX einige Felder (ca. 5000m2), auf welchen Gemüse angebaut wird.

Der Beschwerdeführer hat sechs Jahre lang die Grundschule besucht. Er hat keine Ausbildung und hat nach der Schule durch Hilfstätigkeiten seinen Unterhalt bestritten. Von 2013 bis zu seiner Ausreise aus dem Irak im XXXX 2016 hat der Beschwerdeführer als kurdischer Peschmerga gearbeitet. Er war ein Schütze und hat gleichzeitig als Fahrer seinen Dienst geleistet. Stationiert war er in XXXX bis zur Grenze in XXXX . Nebenbei habe der Beschwerdeführer auch als Fliesenleger gearbeitet.

Der Beschwerdeführer verfügt über einen mittlerweile abgelaufenen irakischen Reisepass, Nr. XXXX (ausgestellt am XXXX.2008 und gültig bis XXXX.2016), welcher im Zuge einer polizeilichen Kontrolle in der Asylwerberunterkunft XXXX in XXXX sichergestellt wurde. Darin finden sich zahlreiche Ein- und Ausreisestempel sowie Visa, beispielsweise für den Iran und Jordanien.

Der Beschwerdeführer verfügt über ein ÖSD Zertifikat A1 und A2. Im Jahr 2017 besuchte er einen 16-stündigen Erste-Hilfe-Kurs. Ferner hat sich der Beschwerdeführer an der Universität XXXX für das Sommersemester für den Kurs „Deutsch als Fremdsprache“ angemeldet, der Kurs fand jedoch aufgrund der Corona-Krise nicht statt. Der Beschwerdeführer spricht auf gutem Niveau die deutsche Sprache.

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX .2018 beim AMS XXXX einen Antrag auf Beschäftigungsbewilligung. Mit Bescheid des AMS vom XXXX .2018 wurde dieser abgelehnt.

Der Beschwerdeführer lebt seit seiner Antragstellung auf internationalen Schutz von der österreichischen Grundversorgung und ist in einem Asylwerberunterkunft untergebracht. In Österreich verfügt der Beschwerdeführer über keinerlei Verwandte. Nennenswerte soziale Bindungen in Österreich hat der Beschwerdeführer nicht vorgebracht. Privat hilft er einem Mann im Haushalt.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine Einstellungszusage vom XXXX in XXXX , sowie eine Einstellungszusage von der „ XXXX “ in XXXX (vom XXXX .2020).

Der Beschwerdeführer leidet an keiner chronischen sowie schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankung. Er ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

1.2.    Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Das Vorbringen im Irak einer Verfolgung durch einen gegnerischen Familienstamm namens XXXX ausgesetzt zu sein, welcher wegen des Todes eines Familienmitglieds Blutrache an ihm üben wolle, war nicht glaubhaft.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge im Irak.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung der EMRK bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit mit sich bringen würde.

1.3.    Zur aktuellen Lage im Irak wird auf folgende Feststellungen verwiesen:

1.       Aktuelle Ereignisse

16.03.2020: Am 11.03.20 kam es zu Raketenangriffen auf die irakische Militärbasis Taji (Bagdad). Dort sind auch internationale Truppen stationiert. Bei dem Angriff kamen Medienberichten zufolge zwei US-amerikanische und ein britischer Soldat ums Leben, mehr als zehn weitere wurden verletzt. Keine Gruppe bekannte sich zudem Angriff. Die USA machen die pro-iranischen Miliz, Kataeb Hizbollah, für die Angriffe verantwortlich. Die USA führten am 13.03.20 mehrere Luftschläge gegen Waffendepots der Miliz aus. Der irakische Präsident Braham Salih verurteilte die Luftschläge als Eingriff in die Souveränität des Irak.Am 14.03.20 kam es zu einem erneuten Raketenangriff auf die Militärbasis Taji. Bei dem Angriff seien mehrere Soldaten verletzt worden. Bereits im Dezember 2019 kam es zu vermehrten Raketenangriffen auf US-amerikanische Ziele (vgl. BN vom 16.12.20). Die Spannungen eskalierten im Januar 2020 mit dem US-amerikanischen Drohnenangriff auf den iranischen Kommandanten Qassem Soleimani in Bagdad (vgl. BNvom 13.01.20).

Die Kataeb Hizbollah (KH) gilt als pro-iranische, schiitische Miliz, die der Volksmobilisierungsfront (Hashdal-Shaabi) angehört. Der Anführer der KH, Abu Mahdi al-Muhandis, wurde ebenfalls im Januar bei dem Drohnenangriff getötet (vgl. BN vom 13.01.20). Die Volksmobilisierungsfront wurde 2014 im Kampf gegen den IS gegründet und 2016 offiziell in die irakischen Streitkräfte eingegliedert. Die irakische Regierung hat nur bedingt Kontrolle über die einzelnen Milizen der Volksmobilisierungsfront.

Erneut wurde in Bagdad ein Journalist, Tawfik al-Tamimi (Chef der Zeitschrift Al-Sabah), entführt. Al-Tamimi ist der dritte bekannt gewordene Entführungsfall seit Beginn der Proteste im Oktober 2019. Zweiweitere Journalisten wurden mittlerweile wieder freigelassen. Reporter ohne Grenzen berichtet, dass allein im Januar 2020 mindestens drei Journalisten getötet wurden und vier einem Tötungsversuch entkommen sind.

23.03.2020: Am 16.03.20 beauftragte das Hohe Föderale Gericht den Präsidenten Braham Saleh mit der Nennung eines neuen Premierminister-Kandidaten. Daraufhin wies Saleh den ehemaligen Gouverneur von Najaf, Adnan al-Zurfi, an, eine neue Regierung zusammenzustellen. Die Ernennung al-Zurfis stößt in vielen politischen Parteien auf Ablehnung. Auch regierungskritische Demonstranten lehnen al-Zurfis Nominierung ab. Die seit Oktober 2019 anhaltenden Proteste pausieren derzeit aufgrund der Corona-Krise. Aktivisten riefen über soziale Medien dazu auf zuhause zu bleiben. Die Regierung verhängte Ausgangssperren, schränkte die Mobilität (z.B. keine Inlandsflüge) zwischen den Provinzen ein und schloss Schulen und Universitäten.

Am 18.03.20 kam es in den Provinzen Ninewa und Diyala aufgrund starker Regefälle zu Überflutungen. Die Fluten fielen in Zeiten der Ausgangssperre zur Eindämmung des Coronavirus. Viele Familien waren in ihren Häusern und mussten evakuiert werden. Die zentralirakische Regierung und kurdische Regionalregierung implementieren Ausgangssperren und schränken die Bewegungsfreiheit zwischen den Provinzen ein, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Dies erschwert den Zugang zu der betroffenen Bevölkerung. Zudem wurden nach dem IS wiederaufgebaute Häuser erneut beschädigt oder zerstört.

30.03.2020: Die Regierung verlängert die wegen des Coronavirus verhängte Ausgangssperre bis zum 11.04.20. Bis dahin bleiben Bildungs- und Freizeiteinrichtungen geschlossen, religiöse Zusammenkünfte wie Pilgerfahrten sind untersagt, Geschäfte sind nur wenige Stunden am Tag für die Deckung des täglichen Bedarfes geöffnet. Die Bevölkerung ist angehalten zuhause zu bleiben. Reisen zwischen den Provinzen sind außer in Notfällen und für die Erhaltung des Güterverkehrs untersagt. Inlandsflüge sind derzeit eingestellt. Kommerzielle Passagierflüge von und zu irakischen Flughäfen wurden für den Zeitraum 17.03.20 bis 28.03.20 eingestellt. Geltende Einschränkungen werden laufend erneuert.

Auch die kurdische Regionalregierung verhängt Ausgangssperren. Der öffentliche Verkehr beschränkt sich auf ein Minimum und Reisen zwischen den kurdischen sowie zwischen den kurdischen und irakischen Provinzen sind nur noch in Ausnahmefällen gestattet. Die Sicherheitskräfte sind autorisiert, Personen zu verhaften, die die Ausgangssperre nicht einhalten. In der Provinz Dohuk wurden Ausgangssperren über alle Flüchtlings- und Vertriebenenlager verhängt. Konsequenzen sind zum einen der beinahe vollständige Stillstand des öffentlichen Lebens innerhalb der Camps zum anderen die Einstellung der Bewegungen außerhalb der Camps. Dies bedeutet, dass Tagelöhner ihre Arbeitsstellen nicht mehr erreichen können und kein Einkommen mehr haben. Zudem ist die Arbeit von Hilfsorganisationen unterbrochen. Dadurch werde beispielsweise Essen nicht mehr geliefert.

06.04.2020: In mehreren irakischen Provinzen wurden Häftlinge unter bestimmten Bedingungen, z.B. auf Kaution oder auf Bewährung, freigelassen, um den Druck in den überfüllten Gefängnissen angesichts der COVID-19-Pandemie zu senken. Die Freilassungen werden von lokalen Gerichten umgesetzt und sind zeitlich begrenzt.

Im März 2020 gab es weniger sicherheitsrelevante Vorfälle, die auf Anschläge von IS-Kämpfern zurückzuführen sind. Die meisten waren in Diyala zu verzeichnen, gefolgt von Bagdad, Salahaddin, Ninive und Anbar.

Die Regierung hat die Ausgangssperren mindestens bis zum 19.04.20 verlängert. Die kurdische Regionalregierung hat Ausgangssperren bis zum 10.04.20 verlängert und gab bekannt, dass Behörden mindestens bis zum 16.04.20 geschlossen seien. Die Flughäfen im Irak und der Kurdischen Region Irak (KRI) bleiben bis zum 11.04.20 geschlossen.

Humanitäre Organisationen berichten weiterhin, dass die Ausgangssperren die Hilfsmaßnahmen, u.a. präventive Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie, behindern würden. Der Transport zwischen den zentralirakischen und kurdischen Provinzen sei weiterhin eingeschränkt. In einigen Provinzen konnten Ausnahmeregelungen erzielt werden. Diese wurden jedoch nicht namentlich genannt.

Das Gesundheitsministerium ist die einzige offizielle Quelle für Zahlen der mit dem Coronavirus infizierten Patienten. Nach einem Bericht mit wesentlich höheren Infiziertenzahlen entzogen die irakischen Behörden Reuters die Lizenz zur Berichterstattung zunächst für drei Monate und drohten mit einer Geldstrafe. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verweise darauf, dass die Zahl der Infizierten in den folgenden Tagen ansteigen würde, da nun drei spezielle Testlabore in Najaf, Bagdad und Basra eröffnet worden seien. Statt 100 Tests pro Tag seien nun bis zu 4.500 Tests täglich möglich.

20.04.2020: Am 09.04.20 wurde der Geheimdienstchef, Mustafa Kadhimi, mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Seit Adel Abd al-Mahdis Rücktritt im November 2019 sind zwei Premierministerkandidaten an der Regierungsbildung gescheitert. Fehlende Einigkeit unter den führenden Parteien sowie fehlende Unterstützung für die Kandidaten werden als Gründe für das Scheitern gesehen. Zudem haben auch die Wahlen 2018 das bestehende politische System verändert, da zwei Drittel der Minister neu in das Parlament gewählt wurden. Kadhimi hat nun 30 Tage Zeit, um mit den politischen Blöcken zu verhandeln und die Mitglieder seines Kabinetts auszuwählen, bevor er es vom Parlament bestätigt werden muss. Aufgrund der derzeitigen COVID-19-Pandemie, der sinkenden Öl-Preise und anhaltenden Sicherheitsvorfälle scheinen die politischen Parteien in Kadhimi einen Kompromiss zu sehen. Trotzdem wurde Kadhimi zuvor vom pro-iranischen Fateh Block und der Kataeb Hizbollah (KH) beschuldigt, bei der Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani und des irakischen KH-Führers Abu Mahdi al-Muhandis im Januar 2020 beteiligt gewesen zu sein. Regierungskritische Demonstranten sollen Kadhimis Kandidatur abgelehnt haben. Seit Oktober 2019 finden im Irak regierungskritische Proteste statt, die trotz der COVID-19-Pandemie in kleineren Umfängen anhalten.

Die zentralirakische Regierung verlängert Ausgangssperren und Bewegungseinschränkungen bis voraussichtlich den 23. oder 24.04.2020. Die kurdische Regionalregierung gab bekannt, dass staatliche Behörden bis zum 02.05.2020 geschlossen blieben. Die Bewegungseinschränkungen gelten voraussichtlich bis Mitternacht des 23.04.2020. Für Reisen zwischen den kurdischen Städten und Provinzen muss eine Genehmigung beim kurdischen Innenministerium beantragt werden. Am 18.04.2020 kam es in Erbil zu Protesten von u.a. Mechatronikern gegen die strikten Schutzmaßnahmen. Der Krisenstab gab daraufhin bekannt, dass in einigen Industriegebieten in Erbil die Arbeit unter bestimmten zeitlichen Vorgaben ab dem 21.04.2020 wiederaufgenommen werden könne. Kommerzielle Flüge sind im gesamten Irak seit dem 17.03.2020 bis voraussichtlich 24.04.2020 untersagt.

Am 16.04.20 riefen vier UN-Organisationen dazu auf, ein Gesetz gegen häusliche Gewalt zu verabschieden. Auslöser für den Aufruf seien Berichte über sexuellen Missbrauch und Selbstverletzungen bis hin zu Selbstmord aufgrund von häuslicher Gewalt während der COVID-19-Schutzmaßnahmen. Der Fall der 20-jährigen Malak al-Zubaidi sorgte in den sozialen Medien für Aufsehen. Al-Zubaidi soll von ihrem Ehmann gefoltert, von ihrer Familie isoliert und schließlich in Brand gesetzt worden sein. Anderen Berichten zufolge habe sie sich aufgrund von Bedrohungen seitens des Ehemannes selbst angezündet. Am 18.04.2020 erlag die Frau im Krankenhaus ihren Verletzungen. Dem zentralirakischen Parlament liegt seit 2015 ein Gesetzesentwurf vor, der bislang jedoch nicht verabschiedet worden ist. Laut irakischer Verfassung ist zwar Gewalt in der Familie verboten; das „Disziplinieren“ von Ehefrauen aber durch andere Gesetze erlaubt. In der Autonomen Region Kurdistan besteht seit 2011 ein Gesetz gegen häusliche Gewalt.

Am 15.04.2020 führte die türkische Luftwaffe Angriffe auf mutmaßliche Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Distrikt Makhmour (ca. 60 Kilometer südwestlich von Erbil) aus. Unterschiedlichen Medienaussagen zufolge wurden dabei zwischen zwei und drei Zivilistinnen aus dem Flüchtlingslager Makhmour getötet. Laut einer anonymen Sicherheitsquelle seien vier Peshmerga leicht verletzt, nach türkischen Aussagen seien außerdem vier PKK-Kämpfer zu Schaden gekommen. Die zentralirakische Regierung kritisierte die Türkei, wieder die irakische Souveränität zu verletzten. Die Türkei führt routinemäßig Land- und Luftoperationen gegen die PKK in der Region Kurdistan-Irak (KR-I) durch, außerdem in Gebieten, wie Shingal/Sinjar und Makhmour, die zwischen der KR-I und der irakischen Zentralregierung umstritten sind.

27.04.2020: Am 19.04.2020 kündigte die zentralirakische Regierung Lockerungen der COVID-19-Schutzmaßnahmen an, welche dennoch bis voraussichtlich 22.05.2020 verlängert werden. Eine nächtliche Ausgangssperre sowie eine Ausgangsperre am Wochenende bleiben bestehen. Auch internationale und nationale Reisen (zwischen den Provinzen) bleiben weiterhin verboten. Schulen, Einkaufszentren, Gebetsstätten und Veranstaltungshallen sind nach wie vor geschlossen. Allerdings dürfen Geschäfte mit minimaler Personalbesetzung öffnen. In öffentlichen Transportmitteln ist die Zahl der Fahrgäste auf vier beschränkt und es herrscht Maskenpflicht. In der Autonomen Region Kurdistan wurden die COVID-19-Schutzmaßnahmen zwar bis zum 01.05.20 verlängert, lokale Behörden dürfen jedoch Anpassungen der Ausgangsbeschränkungen zwischen Mitternacht und 18 Uhr vornehmen. Ab dem 24.04.2020 sind Einkaufzentren, Geschäfte und Kliniken unter strengen Hygienemaßnahmen wieder offen, auch Taxifahrer dürften ihre Arbeit wiederaufnehmen. Zu den Hygienemaßnahmen zählt die Masken- und Handschuhpflicht. Einem Medienbericht zufolge dürfen Bürger, die in Städten unter Kontrolle der zentralirakischen Regierung gestrandet waren, in die Autonome Region Kurdistan zurückkehren, sofern sie negativ auf das Coronavirus getestet sind. Das nationale Flugverbot für kommerzielle Flüge bleibt voraussichtlich bis zum 22.05.2020 bestehen. Humanitäre Organisationen berichten nach wie vor von Schwierigkeiten beim Erhalt von Passierscheinen, was vor allem die Freizügigkeit zwischen den Provinzen behindere.

Aktivisten zufolge wurden am 21.04.2020 regierungskritische Demonstranten von unbekannten Dritten in Zivil mit Schusswaffen angegriffen worden. Irakischen Sicherheitsquellen zufolge sei es hingegen zu einer Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und dem Inhaber eines Klimaanlagengeschäftes gekommen. Mindestens sechs Personen wurden dabei verletzt. Yusra Rajab, die parlamentarische Abgeordnete des Menschenrechtskomitees, warnte, dass Angriffe auf Demonstranten und das Nichteingreifen der Sicherheitskräfte eine Bedrohung für den Frieden darstelle. Seit Oktober 2019 kommt es in Bagdad und im Südirak zu Massenprotesten gegen die amtierende Regierung, Korruption und Misswirtschaft. Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie haben sich die Proteste abgeschwächt, finden jedoch vereinzelt in Form von stillen Kundgebungen oder im virtuellen Raum weiterhin statt

Medienberichten zufolge gab die zentralirakische Regierung bekannt, dass die Überweisungen für Lohnzahlung von Staatsbediensteten in der Autonomen Region Kurdistan Irak ausgesetzt werden. Grund sei, dass die KR-I ihren im Staatsbudget festgeschriebenen Verpflichtungen nicht nachkomme und Öl selbstständig verkaufe, anstatt einen Teil an Bagdad abzugeben. Regierungsangaben zufolge würde auch die zentralirakische Regierung Schwierigkeiten haben, ihren Staatsbediensteten Löhne zu zahlen. Grund seien die ausfallenden Einnahmen aufgrund sinkender Öl-Preise.

11.05.2020: Am 07.05.20 hat das Parlament dem neuen Ministerpräsidenten, Ex-Geheimdienstchef Mustafa al-Kasimi, das Vertrauen ausgesprochen und auch 15 Ministern seines Kabinetts zugestimmt. Al-Kasimi gilt als Kompromisskandidat. Am 10.05.20 kam es in Bagdad erneut zu Protesten. Die Demonstranten forderten nur wenige Tage nach der Wahl der neuen Regierung politische Reformen, bessere Lebensbedingungen sowie dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die für den Tod Hunderter Menschen bei Massenprotesten verantwortlich sind.

Es wird weiterhin auch von nicht protestbezogenen sicherheitsrelevanten Vorfällen sowohl mit zivilen Opfern als auch Sicherheitskräften berichtet. Kämpfer des IS sind weiterhin aktiv. Die irakischen Sicherheitskräfte führen nach wie vor Sicherheitsoperationen gegen IS-Kämpfer durch.

Bis zum 10.05.20 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2.676 Fälle von COVID-19-Erkrankungen, 107 Todesfälle und 1.702 Personen, die genesen sind, im Irak bestätigt. Ungefähr 15 % der Fälle wurden in der Autonomen Region Kurdistan registriert.

25.05.2020: Am 19.05.20 kam es erneut zu einem Raketeneinschlag nahe der amerikanischen Botschaft in Bagdad. Es handelte sich um den ersten Raketenangriff auf die sogenannte Grüne Zone seit mehreren Wochen. Zu dem Angriff bekannte sich niemand. Die amerikanische Regierung hatte in der Vergangenheit stets proiranische Milizen für Anschläge auf die Grüne Zone verantwortlich gemacht.

15.06.2020: Am 07.06.20 kam es in mehreren Provinzen, darunter Najaf, Muthanna, Diwaniyah, Dhi-Qar und Babil, zu Demonstrationen, u.a. wegen Korruptionsvorwürfen. Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften lösten eine Reihe von Bränden aus. Am 09.06.20 wurde ein Demonstrant getötet.

Es wird weiterhin auch von nicht protestbezogenen sicherheitsrelevanten Vorfällen sowohl mit zivilen Opfern als auch mit Sicherheitskräften berichtet. Kämpfer des IS sind weiterhin aktiv. Insbesondere betroffen waren die Provinzen Diyala, Ninive, Kirkuk, Salahaddin. Irakische Sicherheitskräfte und kurdische Peshmerga führten Sicherheitsoperationen gegen IS-Kämpfer durch.

Bis zum 01.06.20 hat die Weltgesundheitsorganisation (WFIO) 6.439 Fälle von COVID-19 in Irak bestätigt, 205 Todesfälle und 3.156 Patienten, die genesen sind. Ungefähr 11% der Fälle wurden in der Region Kurdistan-Irak (KR-I) registriert.

Laut dpa-Meldung vom 15.06.20 haben türkische Kampfjets Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in Irak angegriffen und Höhlen von PKK-Kämpfern zerstört. Die Operation Claw-Eagle (Adlerkralle) habe sich u.a. gegen Ziele in den Kandil-Bergen nahe der iranischen Grenze sowie Stellungen in Sinjar gerichtet. Bereits am 10.06.20 hatte das türkische Militär Luftangriffe durchgeführt, bei denen acht Mitglieder der PKK getötet wurden. Die Luftangriffe richteten sich auf die Gebiete Zap und Haftanin nahe der türkischen Grenze in der Region Kurdistan-Irak.

22.06.2020: Es kommt weiterhin zu sicherheitsrelevanten Angriffen durch Kämpfer des IS, sowohl mit zivilen Opfern als auch Opfern unter den Sicherheitskräften. Ebenso starten die irakischen Sicherheitskräfte Sicherheitsoperationen gegen Kämpfer des IS. Besonders betroffen sind die Provinzen Diyala, Salahaddin, Ninive, Kirkuk und Bagdad.

Am 18.06.20 meldete das Gesundheitsministerium, dass die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle im Land auf 25.717 angestiegen sei. Die Gebiete, aus denen die meisten neuen Fälle gemeldet wurden, waren Bagdad, Sulaimaniyah und die Provinz Maysan.

29.06.2020: Es kommt weiterhin zu sicherheitsrelevanten Angriffen durch Kämpfer des IS, sowohl mit zivilen Opfern als auch Opfern unter den Sicherheitskräften. Die Sicherheitskräfte starten Operationen gegen Kämpfer des IS. Ein Sprecher des irakischen Militärs teilte am 23.06.20 mit, dass der Iraqi Counter Terrorism Service (CTS) bei Sicherheitsoperationen in den Qarachogh-Bergen in der Nähe von Makhmour, zwischen den Provinzen Ninive und Erbil, zwölf IS-Kämpfer getötet habe. Die Internationale Koalition gegen den IS unterstützte die CTS-Operation mit 59 Luftangriffen auf IS-Verstecke in der Gegend. Am 24. Juni veröffentlichte das Iraqi Joint Operations Command die Ergebnisse der dritten Phase einer groß angelegten Sicherheitsoperation mit dem Titel "Iraq's Heroes". In der Erklärung hieß es, dass die irakischen Bodentruppen, unterstützt von der Luftwaffe, ein Gebiet von 4.853 Quadratkilometern durchsuchten, darunter 89 Dörfer. Die irakischen Sicherheitskräfte entdeckten u.a. Verstecke und Munitionsbestände und beschlagnahmten verschiedene Waffen, Sprengstoffe und Fahrzeuge.

Am 25.06.20 meldete das irakische Gesundheitsministerium, dass die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle im Land auf 39.139 angestiegen ist. Dies stellt einen Anstieg um 13.422 Fälle gegenüber der letzten Woche dar. Die Gesamtzahl der Todesfälle wird mit 1.437 und die Gesamtzahl der Genesungen mit 18.051 angegeben. Die Gebiete, aus denen die meisten neuen Fälle gemeldet wurden, war die Provinz Bagdad, gefolgt von den Provinzen Basra und Dhi Qar. UNHCR zufolge wurden mehr als 40 % der Fälle in der Provinz Bagdad festgestellt. Die Situation in vielen irakischen Krankenhäusern hat sich verschlechtert.

06.07.2020: Es kommt weiterhin zu sicherheitsrelevanten Angriffen durch Kämpfer des IS, sowohl mit zivilen Opfern als auch Opfern unter den Sicherheitskräften. Die irakischen Sicherheitskräfte starten Operationen gegen Kämpfer des IS. Besonders betroffen sind die Provinzen Diyala, Salahaddin, Ninive, Kirkuk und Bagdad.

Der WHO zufolge lag die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle am 05.07.20 bei 58.354. Die Zahl der Todesfälle wird mit 2.368 angegeben. Die meisten neuen Fälle wurden aus der Provinz Bagdad gemeldet, gefolgt von den Provinzen Salahaddin und Suleimaniyah.

13.07.2020: Die Ermordung von Hisham al-Hashemi am 06.07.20 führt derzeit zu erheblichem Aufsehen im Land. Es handelt sich um einen engen Sicherheitsberater des neuen Premierministers al-Kadhimi und einen offenen Kritiker der Rolle der diversen Milizen im Land. Das Timing und die an eine Hinrichtung erinnernde Art der Ermordung direkt vor dem Haus al-Hashemis, die von Sicherheitskameras aufgezeichnet wurde, werden von Analysten als ein Signal an den neuen Premierminister gesehen. Dieser hatte in den letzten Wochen ein entschiedeneres Vorgehen gegen Verbrechen der oft von Iran gestützten Milizen angekündigt. Im Kontext der Ermittlungen um einen Raketenangriff auf die Grüne Zone kam es zu Verhaftungen und Durchsuchungen bei Angehörigen der Kata`ib Hezbollah, einer äußerst einflussreichen Gruppe.

Die Maßnahmen v.a. innerhalb Kurdistans gegen die Ausbreitung des Coronavirus haben einen erheblichen Einfluss auf die Situation der Binnenflüchtlinge, hauptsächlich der yezidischen Minderheit. Daher lässt sich seit etwa Juni 2020 eine Rückkehrbewegung beobachten. Angeblich seien bisher einige tausend Yeziden in die Region Sinjar zurückgekehrt, obwohl diese nach wie vor weitgehend als unbewohnbar eingestuft wird. Die meisten sollen Angehörige von dort stationierten Soldaten oder Sicherheitskräften sein, deren Versorgung inzwischen der Situation in Dohuk und Umgebung vorzuziehen sei. Die fehlende Infrastruktur beschränkt den Zugang v.a. zu medizinischer Hilfe beträchtlich. Bisher sind die Rückkehrer auf internationale Hilfe angewiesen, die aufgrund der starken Reisebeschränkungen innerhalb des Iraks aber in ihrer Bewegungsfreiheit ebenfalls stark eingeschränkt ist.

20.07.2020: Am 19.07.20 landeten drei Raketen in der Grünen Zone in Bagdad; genauere Informationen über Art und Größe liegen nicht vor, Opfer wurden nicht gemeldet. Es bekannte sich keine Gruppe zu dem Anschlag, der aber allgemein im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen der Regierung und vom Iran gestützten Milizen gesehen wird. Es ist der zweite Angriff seit einem umfangreichen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Kata`ib Hizbollah am 26.06.20 und erfolgte während eines Besuches des iranischen Außenministers Mohammad Javad Zarif.

Am 17.07.20 starb der Brigadegeneral und Kommandant der 59. Brigade der irakischen Armee Ali Hameed Ghayda bei einem Anschlag nördlich von Bagdad. Der IS übernahm die Verantwortung und bezeichnete es als einen Vergeltungsschlag für diverse Operationen der irakischen Armee gegen IS-Stellungen in den letzten Monaten, die den Codenamen „Helden des Irak“ tragen. Erst kurz zuvor wurde der Beginn der vierten Phase der Operation mit Schwerpunkt in Diyala angekündigt.

Mehrere Brigaden der irakischen Armee wurden im Rahmen der vierten Phase der Operation „Helden des Irak“ in Regionen verlegt, deren legitime Kontrolle zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der Autonomen Region Kurdistan (KRG) umstritten sind. Von Seiten der KRG gab es Statements, dass diese Bewegungen nicht abgesprochen gewesen seien, während die Armeeführung öffentlich betonte, dass jede Form von Truppenbewegung in umstrittenen Gebieten mit den kurdischen Behörden koordiniert werde.

27.07.2020: In der Nacht vom 26.07. auf den 27.07.20 kam es erneut zu Eskalationen bei Demonstrationen in Bagdad. In der Nähe des Tahrir-Platzes kam es nach einer weitgehenden Blockade der Straße durch Demonstranten zum Einsatz von Tränengas und ausweislich von Videos in sozialen Medien eventuell auch zum Einsatz scharfer Munition. Bisher ist die Nachrichtenlage nicht eindeutig.

Die türkische Militäroperation „Adlerklaue“ gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nordirak läuft weiterhin. Am 27.07.20 kam es zu einem Luftangriff auf zwei Fahrzeuge in der Nähe von Dohuk, bei dem die beiden Insassen, laut türkischem Militär PKK-Angehörige, getötet wurden. Die Kollateralschäden der Offensive sind in ihren Auswirkungen lokal teilweise beträchtlich, mehrere Dörfer wurden wegen des Bombardements verlassen, bisher sind seit Anfang Juni 2020 fünf zivile Todesfälle bestätigt. In mindestens einem Fall sorgte das Bobardement in der Provinz Erbil nach einem Angriff am 12.07.20 für einen fünftägigen Waldbrand mit erheblichen wirtschaftlichen Schäden. Laut Angaben aus dem türkischen Verteidigungsministerium sind türkische Einheiten bis zu 40 Kilometer tief in irakisches Gebiet eingedrungen. Die Zahl und Reichweite der Luftschläge der Türkei sind nach übereinstimmenden Angaben beider Seiten deutlich ausgeprägter als bei früheren türkischen Militäroperationen.

03.08.2020: Premierminister Kadhimi hat nach den Unruhen der vorangegangenen zwei Wochen am 31.07.20 Neuwahlen angekündigt, die er auf den 06.06.21 terminierte. Vorausgegangen war eine Reihe von Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten, bei denen es zu Toten kam. Diese Vorfälle sollen nun untersucht werden. Kadhimi war als Übergangspremier eingesetzt worden, um unter anderem genau solche Zusammenstöße, die sich seit Oktober 2019 ereignen, zu beenden und Neuwahlen zu organisieren. Der Fatih-Block im irakischen Parlament, der größte schiitisch dominierte Block, hat am 02.08.20 zwar Einverständnis mit den Wahlen signalisiert, bevorzugt jedoch ein früheres Wahldatum im April 2021.

24.08.2020: Irakischen Militärangaben vom 18.08.20 zufolge wurden bei einer Sicherheitsoperation in den Qarachogh Mountains, nahe der Stadt Makhmour etwa 60 km südöstlich von Mosul (Provinz Ninive), 10 IS-Kämpfer getötet.

Die USA haben mehr als zwei Jahre nach dem verkündeten Sieg über den IS am 23.08.20 den Militärstützpunkt Tadschi, nördlich von Bagdad, an die irakischen Sicherheitskräfte übergeben. Tadschi wurde seit 2014 insbesondere zur Ausbildung irakischer Soldaten genutzt. Derzeit sind noch rund 5.000 US-Soldaten in Irak stationiert. Die USA wollen Angaben der irakischen Regierung zufolge ihre Truppen innerhalb von drei Jahren abziehen.

Am Abend des 21.08.20 haben Demonstranten in der südirakischen Stadt Basra versucht, ein Regionalbüro des Parlaments in Brand zu setzen. Sicherheitskräfte konnten das Feuer jedoch rechtzeitig löschen. Die Polizei sei Sicherheitsquellen zufolge gemäßigt mit den Demonstranten verfahren, obwohl einige von ihnen Benzinbomben und Steine auf die Sicherheitskräfte geworfen hätten. Anlass für die Ausschreitungen sei die Tötung von zwei Aktivisten in Basra in der vorangegangenen Woche gewesen. Der Gouverneur von Basra hat als Folge der gewaltsamen Proteste strengere Sicherheitsmaßnahmen angekündigt.

Am 19.08.20 wurden in der südirakischen Stadt Basra ein irakischer Aktivist und seine Verlobte von Unbekannten erschossen. Das Opfer, hatte die regierungsfeindlichen Proteste in Irak unterstützt und umfassende Reformen, z.B. gegen die Korruption, für die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen sowie für mehr Beschäftigungsmöglichkeiten gefordert. Nur einige Stunden zuvor war ebenfalls in Basra eine andere Aktivistin erschossen worden.

Am 15.08.20 erließ das Higher Committee for Health and National Safety in Iraq die Anweisung, die tägliche Ausgangssperre von 22 bis 5 Uhr morgens bis auf Weiteres zu verlängern. Massenansammlungen sollen verhindert werden. Durch die neuen Weisungen wird auch das Reisen zwischen den Provinzen untersagt, ausgenommen seien lediglich Notfälle. Die meisten neuen Fälle wurden aus der Provinz Bagdad gemeldet, gefolgt von den Provinzen Basra und Ninive.

31.08.2020: Jüngsten UN-Angaben zufolge sind in Irak und Syrien mehr als 10.000 Kämpfer aktiv, die sich in kleinen Zellen zwischen beiden Ländern bewegen.

UNHCR zufolge lag die Zahl der infizierten Personen am 29.08.20 bei 227.446. Mehr als 30 % dieser Fälle waren in Bagdad zu verzeichnen, gefolgt von Basra, Kerbala und Sulaimaniyah. Die Zahl der bisherigen Todesfälle wird mit 6.891 angegeben. Trotz der Warnung irakischer Gesundheitsbehörden, dass die Feiern wegen der Ausbreitung des Coronavirus eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen, feierten am 30.08.20 hunderttausende Muslime das schiitische Aschura-Fest, vor allem in der Stadt Kerbala.

2.       Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat mit allen Merkmalen der Gewaltenteilung (AA 02.03.2020), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Der Islam ist Staatsreligion und „eine“ (nicht „die“) Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 02.03.2020).

Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, Council of Representatives bzw. Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018). Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018) Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 02.03.2020).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 09.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018). Am 02.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.03.2020 wurde der als säkular geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020). Adnan al-Zurfi zog seine Kandidatur am 09.04.2020 zurück, woraufhin Geheimdienstchef Mustafa al-Kadhimi zum neuen Ministerpräsidenten designiert wurde (SN 09.04.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

Im Irak leben ca. 36 Millionen Einwohner, wobei die diesbezüglichen Schätzungen unterschiedlich sind. Die letzte Volkszählung wurde 1997 durchgeführt. Im Gouvernement Bagdad leben ca. 7,6 Millionen Einwohner. Geschätzte 99% der Einwohner sind Moslems, wovon ca. 60%-65% der schiitischen und ca. 32%-37% der sunnitischen Glaubensrichtung angehören (CIA World Factbook 2014-2015, AA 12.01.2019). Die ethnische und religiöse Zusammensetzung der einzelnen Regionen des Irak ist aus der Grafik im Punkt Minderheiten ersichtlich.

2.1.    Protestbewegung

Die Protestbewegung, die es schon seit 2014 gibt, gewinnt derzeit an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus (WZ 9.10.2018). Im Juli 2018 brachen im Süden des Landes, in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr Proteste aus. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Reich an Ölvorkommen, liefert die Provinz Basra 80 Prozent der Staatseinnahmen des Irak. Unter den Einwohnern der Provinz wächst jedoch das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen dem enormem Reichtum und ihrer eigenen täglichen Realität von Armut, Vernachlässigung, einer maroden Infrastruktur, Strom- und Trinkwasserknappheit (Carnegie 19.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

Die Proteste im Juli weiteten sich schnell auf andere Städte und Provinzen im Süd- und Zentralirak aus (DW 15.7.2018; vgl. Presse 15.7.2018, CNN 17.7.2018, Daily Star 19.7.2018). So gingen tausende Menschen in Dhi Qar, Maysan, Najaf und Karbala auf die Straße, um gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung, sowie die iranische Einmischung in die irakische Politik zu protestieren (Al Jazeera 22.7.2018). Die Proteste erreichten auch die Hauptstadt Bagdad (Joel Wing 25.7.2018; vgl. Joel Wing 17.7.2018). Am 20.7. wurden Proteste in 10 Provinzen verzeichnet (Joel Wing 21.7.2018). Demonstranten setzten die Bürogebäude der Da‘wa-Partei, der Badr-Organisation und des Obersten Islamischen Rats in Brand; praktisch jede politische Partei wurde angegriffen (Al Jazeera 22.7.2018). Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, sowie zu Todesfällen (Kurier 15.7.2018; vgl. CNN 17.7.2018, HRW 24.7.2018). Ende August war ein Nachlassen der Demonstrationen zu verzeichnen (Al Jazeera 3.8.2018). Im September flammten die Demonstrationen wieder auf. Dabei wurden in Basra Regierungsgebäude, die staatliche Fernsehstation, das iranische Konsulat, sowie die Hauptquartiere fast aller Milizen, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen. Mindestens 12 Demonstranten wurden getötet (Vox 8.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

Am Dienstag den 1.10.2019 kam es in zehn irakischen Gouvernements, Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala und Najaf, zu teils gewalttätigen Demonstrationen. Diese haben sich am Mittwoch den 2.10. auch auf die Gouvernements Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din ausgeweitet. In vielen Gebieten eskalierten die Proteste (Joel Wing 3.10.2019), die Sicherheitskräfte verloren mancherorts die Kontrolle und Demonstranten besetzten Regierungsgebäude (FAZ 3.10.2019). Die Regierungssitze in Dhi Qar, Babil, Diwaniya und Maysan wurden in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweiig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Nach einer kurzen Ruhephase gingen die gewaltsamen Proteste am 25. Oktober weiter und forderten bis zum 30. Oktober weitere 74 Menschenleben und 3.500 Verle

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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