TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/9 W270 2205911-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.11.2020
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Entscheidungsdatum

09.11.2020

Norm

AsylG 2005 §3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W270 2205911-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. AFGHANISTAN, vertreten durch XXXX , diese vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH – ARGE Rechtsberatung, Wattgasse 48/3, 1170 Wien, gegen Spruchpunkt I. des Bescheids des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 16.08.2018, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Am 17.04.2018 stellte XXXX (in Folge: „Beschwerdeführerin“), vertreten durch ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin XXXX (in Folge auch: „gesetzliche Vertreterin“), einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren. Die belangte Behörde vernahm die gesetzliche Vertreterin am selben Tag zum gestellten Antrag ein.

2. Mit Bescheid vom 16.08.2018 (in Folge: „Bescheid“) wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheids erhob die Beschwerdeführerin am 18.09.2018 Beschwerde.

II. Feststellungen:

1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

1.1. Die Beschwerdeführerin trägt den Namen XXXX und ist Staatsbürgerin der Islamischen Republik Afghanistan. Sie wurde am XXXX in Wien geboren.

1.2. Die Eltern der Beschwerdeführerin sind die Mutter mit dem Namen XXXX und der Vater XXXX . Diese stammen aus der afghanischen Provinz Maidan-Wardak.

1.3. Die Beschwerdeführerin gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam.

1.4. Die Beschwerdeführerin stellte am 17.04.2018 an die belangte Behörde einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem Bescheid wurde ihr der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

2. Zur Lage in Afghanistan:

2.1. Zur Lage der religiösen Minderheit der Schiiten:

Die Verfassung garantiert, dass Angehörige von anderen Religionen als dem Islam „innerhalb der durch die Gesetze vorgegebenen Grenzen frei sind in der Ausübung und Erfüllung ihrer religiösen Rechte“. Allerdings wird in der Verfassung auch festgestellt, dass der Islam die offizielle Religion des Staats ist und „kein Gesetz gegen die Lehren und Bestimmungen der heiligen Religion des Islam in Afghanistan verstoßen darf.” Darüber hinaus sollen die Gerichte gemäß der Verfassung in Situationen, in denen weder die Verfassung noch andere Gesetze Vorgaben enthalten, der Hanafi-Rechtsprechung folgen, einer sunnitisch-islamischen Rechtslehre, die unter zwei Dritteln der muslimischen Welt verbreitet ist. Afghanische Juristen und Regierungsvertreter wurden dafür kritisiert, dass sie dem islamischen Recht Vorrang vor Afghanistans Verpflichtungen aus internationalen Menschenrechtsabkommen in Situationen einräumen, in denen ein Widerspruch der verschiedenen Rechtsvorschriften vorliegt, insbesondere in Bezug auf die Rechte von afghanischen Staatsbürgern, die keine sunnitischen Muslime sind, und in Bezug auf die Rechte der Frauen.

Die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder entspricht in etwa dem Anteil der Schiiten an der Gesamtbevölkerung. Während einige Quellen zwar angeben, dass die offene Diskriminierung von Schiiten durch Sunniten abgenommen habe, berichten andere Quellen von fortgesetzter Diskriminierung. Außerdem wird die schiitische Bevölkerung nach wie vor gewaltsam durch regierungsfeindliche Kräfte angegriffen. Es ist darauf hinzuweisen, dass ethnische Zugehörigkeit und Religion in Afghanistan oftmals untrennbar miteinander verbunden sind, insbesondere in Bezug auf die vorwiegend schiitische ethnische Gruppe der Hazara. Daher kann oftmals nicht eindeutig zwischen einer Diskriminierung und Misshandlung aufgrund der Religion einerseits und Diskriminierung und Misshandlung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit andererseits unterschieden werden.

(Quelle: Auszüge aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 [in Folge: „UNHCR-Richtlinien 2016“], abrufbar unter: https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/04/AFG_042016.pdf, abgerufen am 04.11.2020, S. 57 und 59).

In der Provinz Maidan-Wardak ist der IS nicht operativ tätig.

(Quelle: Länderinformation auf S. 27 des angefochtenen Bescheids samt Quellennachweisen)

2.2. Zur Lage der Volksgruppe der Hazara:

In einem Update zur Sicherheitslage in Afghanistan vom September 2015 thematisiert die regierungsunabhängige Schweizerische Flüchtlingshilfe (in Folge auch: „SFH“) die Situation von Hazara und beschreibt Maßnahmen gegen Hazara wie folgt:

„Diskriminierung gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten sind verbreitet und es kommt immer wieder zu Spannungen zwischen verschiedenen Ethnien, welche zu Todesopfern führen. Die Diskriminierung Angehöriger der Hazara äußert sich in Zwangsrekrutierungen, Zwangsarbeit, Festnahmen, physischem Missbrauch oder illegaler Besteuerung. Hazara wurden überdurchschnittlich oft zu Opfern gezielter Ermordungen.“ (SFH, 13. September 2015, S. 18)

Der im April 2016 veröffentlichte Länderbericht des US-Außenministeriums zur Menschenrechtslage (Berichtsjahr: 2015) hält fest, dass Hazara von fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Inhaftierung betroffen seien. Laut NGOs seien Hazara-Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (in Folge auch: „ANSF“) einem stärkeren Risiko ausgesetzt, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden als Nicht-Hazara-Beamte. Aus mehreren Provinzen, darunter Ghazni, Zabul und Baghlan, seien eine Reihe von Entführungen von Hazara berichtet worden. Die Entführer hätten Berichten zufolge ihre Opfer erschossen, enthauptet, Lösegeld für sie verlangt oder sie freigelassen. Im Februar 2015 hätten Aufständische 31 Hazara-Männer aus einem Bus in der Provinz Zabul entführt und im Mai 2015 19 Geiseln und im November 2015 acht weitere freigelassen. Mit Stand November 2015 seien die übrigen vier Geiseln weiterhin vermisst gewesen.

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, in Folge auch „UNAMA“) bemerkt in ihrem im Februar 2016 erschienenen Jahresbericht zum Jahr 2015, dass sie während des Jahres 2015 einen starken Anstieg bei Entführungen und Tötungen von Hazara-ZivilistInnen durch regierungsfeindliche Kräfte verzeichnet habe. So hätten regierungsfeindliche Kräfte zwischen 1. Jänner und 31. Dezember 2015 mindestens 146 Mitglieder der Hazara-Gemeinde bei insgesamt 20 verschiedenen Vorfällen getötet. Mit Ausnahme eines einzigen Vorfalls hätten sich alle in ethnisch gemischten Gebieten ereignet, die sowohl von Hazara als auch von Nicht-Hazara-Gemeinden besiedelt seien, und zwar in den Provinzen Ghazni, Balch, Sari Pul, Faryab, Uruzgan, Baghlan, Wardak, Jowzjan und Ghor. UNAMA habe die Freilassung von 118 der 146 entführten Hazara bestätigen können.

13 entführte Hazara seien von regierungsfeindlichen Kräften getötet worden, während zwei weitere in Geiselhaft verstorben seien. UNAMA habe den Verbleib der übrigen Geiseln nicht eruieren können. Die Motive für die Entführungen seien unter anderem Lösegelderpressung, Gefangenenaustausche, Verdacht der Mitgliedschaft bei den Afghanischen Nationalen Sicherheitskräften (in Folge auch „ANSF“) und Nichtbezahlung illegaler Steuern gewesen. In manchen Fällen seien die zugrundeliegenden Motive unbekannt gewesen. UNAMA führt folgende Beispiele für Entführungen und anschließende Tötungen von Hazara an:

Am 23. Februar 2015 seien im Bezirk Shajoy der Provinz Zabul 30 Hazara-Insassen zweier öffentlicher Busse, die von Herat nach Kabul unterwegs gewesen seien, von regierungsfeindlichen Gruppen entführt worden. Drei der Entführungsopfer seien während ihrer Gefangenschaft getötet worden, während zwei offenbar aufgrund von natürlichen Ursachen verstorben seien. Zwischen Mai und August 2015 seien die übrigen Geiseln freigelassen worden, nachdem es Berichten zufolge zu einem Austausch mit einer Gruppe von Häftlingen gekommen sei.

Am 13. Oktober 2015 hätten regierungsfeindliche Kräfte sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter zwei Frauen, zwei Jungen und ein Mädchen, die sich auf der Autobahn zwischen Kabul und Kandahar auf dem Weg in den Distrikt Jaghuri (Provinz Ghazni) befunden hätten, entführt. Stammesälteste hätten sich vergeblich um deren Freilassung bemüht. Die Hazara seien im Distrikt Arghandab der Provinz Zabul festgehalten worden, bis Kämpfe zwischen rivalisierenden regierungsfeindlichen Gruppen, darunter auch der Gruppe, zu denen die Entführer gehört hätten, ausgebrochen seien. Im Zeitraum von 6. bis 8. November hätten die regierungsfeindlichen Kräfte allen sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter auch den Kindern, die Kehlen durchgeschnitten. Dieser Vorfall habe Demonstrationen in der Stadt Kabul ausgelöst, bei denen mehr Schutz für die Hazara-Gemeinschaft gefordert worden sei.

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, in Folge auch „EASO“), eine Agentur der Europäischen Union, die die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich fördern soll, nennt in einem Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan vom Jänner 2016 Beispiele von Sicherheitsvorfällen, die Hazara betreffen. Demnach seien im Februar 2015 bei zwei Vorfällen Mitglieder der Hazara Minderheit von maskierten bewaffneten Männern im Distrikt Kajran [in ihren Fahrzeugen gestoppt worden. Die Reisenden seien nach ihrem religiösen Glauben gefragt worden und 55 der Reisenden seien entführt und an unbekannte Orte gebracht worden. Laut offiziellen Quellen hätte es sich bei den Entführern um Taliban gehandelt, Augenzeugenberichte würden aber auf eine Beteiligung der Gruppe Islamischer Staat (in Folge auch: „IS“) hindeuten.

Rights Watch (in Folge auch: „HRW“) erwähnt in ihrem World Report vom Jänner 2016, dass es im Jahr 2015 einen Anstieg von Entführungen und Geiselnahmen von ZivilistInnen durch aufständische Gruppen gegeben habe, darunter auch die zwei Vorfälle in der Provinz Zabul, nämlich die Entführung und Tötung von 7 ZivilistInnen am 9. November und die Entführung von 31 Businsassen am 23 Februar, von denen 19 wieder freigelassen worden seien. In beiden Fällen seien die Opfer offenbar wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu den Hazara ins Visier genommen worden.

Der in Prag ansässige, vom US-Kongress finanzierte Radiosender Radio Free Europe/Radio Liberty (in Folge auch: „RFE/RL“) berichtet im August 2015, dass vier Männer, die in der Woche zuvor entführt worden seien, im Distrikt Nawur der Provinz Ghazni erschossen aufgefunden worden seien. Bei drei der Toten handle es sich um Hazara, bei dem Vierten um einen Paschtunen. Bei einem weiteren Vorfall im August seien mindestens acht weitere Hazara auf dem Weg in die Stadt Ghazni entführt worden. Im Februar seien 30 Hazara in der Provinz Zabul, im Süden von Ghazni, entführt worden. 19 seien im Mai wieder freigelassen worden, zwei seien getötet worden, und neun seien noch als vermisst gemeldet. Im Juli seien 11 Hazara im Norden der Provinz Baghlan entführt worden.

Die Nachrichtenagentur Agence France-Presse (in Folge auch: „AFP“) berichtet im September 2015, dass Bewaffnete im Distrikt Zari der größtenteils ruhigen Provinz Balch 13 männliche Hazara erschossen hätten, nachdem sie zwei Fahrzeuge aufgehalten und die Insassen gezwungen hätten, auszusteigen.

RFE/RL berichtet im November 2015 über die Entführung von mindestens sieben Hazara durch die Taliban, nachdem es zu einem lokalen Streit um Schafe gekommen sei. Die Taliban hätten drei Busse in der Provinz Zabul aufgehalten und zunächst 17 Geiseln genommen und neun von ihnen wieder freigelassen. Ein örtlicher Taliban-Anführer habe die Entführungen mit der Begründung angeordnet, dass Hazara Schafe gestohlen hätten:

In einer Pressemitteilung vom November 2015 schreibt die Menschenrechtsorganisation HRW über Proteste in der afghanischen Hauptstadt Kabul am 11. November 2015 aufgrund einer Reihe von ethnisch motivierten Tötungen.

Die Pressemitteilung berichtet über die Entführung und anschließende Tötung von sieben Hazara, darunter auch zwei Mädchen, am 9. November in der Provinz Zabul. Es habe sich keine Gruppe zu dem Anschlag bekannt.

Weiters wird beschrieben, dass sich die Sicherheitslage im Berichtsjahr 2015 in vielen Gebieten Afghanistans verschlechtert, die Gewalt gegen Zivilisten zugenommen habe und dass es zu internen Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Fraktionen innerhalb der Taliban gekommen sei. HRW berichtet, dass eine der größten Splitterfraktionen der Taliban von Mullah Abdul Manan Niazi angeführt werde, welcher zur Zeit des Massakers an tausenden von Hazara in Mazar-e-Sharif 1998 Taliban-Gouverneur in der Provinz Balch gewesen sei. Diese Gruppe werde Berichten zufolge vom IS unterstützt und sei in dem Gebiet in der Provinz Zabul aktiv, in dem die sieben Hazara getötet worden seien.

Wenngleich alle Zivilisten in Konfliktgebieten gefährdet seien, würden die Tötungen in Zabul die besondere Gefährdung aufzeigen, mit denen Hazara konfrontiert seien. In den vergangenen zwei Jahren seien bei einer Reihe von Vorfällen Hazara-Buspassagiere von anderen Insassen ausgesondert und entführt und in manchen Fällen getötet worden

BBC Monitoring schreibt in der Zusammenfassung eines Berichts der in Pakistan ansässigen privaten Nachrichtenagentur Afghan Islamic Press News Agency im März 2016, dass in der nördlichen Provinz Sar-e Pol 11 Hazara entführt worden seien. Laut des Polizeichefs der Polizeizentrale von Sar-e Pol, seien die 11 Hazara aufgrund ihrer Ethnizität von den Taliban entführt worden. Es handle sich bei den Entführten um Zivilisten, die nicht für die Regierung arbeiten würden. Die Taliban hätten sich noch nicht zu dem Vorfall geäußert.

In der Vergangenheit seien einige ethnische Hazara in Zabol, Ghazi und anderen Provinzen entführt worden. Manche seien freigelassen, andere seien getötet worden.

Im Juni 2016 berichtet AFP, dass Bewaffnete im Bezirk Santscharak der Provinz Sar-e-Pul mindestens 17 reisende Hazara, bei denen es sich allesamt um Zivilisten, die nicht mit der Regierung in Verbindung gebracht werden könnten, handle, aus ihren zivilen Fahrzeugen gezerrt und in ein entlegenes Gebiet gebracht hätten, das sich unter Taliban-Kontrolle befinde. Laut dem ortsansässigen Gouverneur seien die Dorfältesten gebeten worden mit den Taliban über die Freilassung der Entführten zu verhandeln.

Zwei Tage später berichtet RFE/RL, dass die 17 oben erwähnten, von den Taliban entführten Hazara freigelassen worden seien. Der Vorfall in der Provinz Sar-e-Pul sei Teil einer Serie von Angriffen auf zivile Fahrzeuge gewesen. Die Taliban hätten sich nicht zu dem Vorfall geäußert.

In den letzten Monaten habe es einen Anstieg der Gewalt gegen Hazara in Form einer Reihe von Entführungen und Tötungen gegeben. In einem der letzten Vorfälle hätten die Taliban 10 Busreisende getötet, viele davon seinen summarisch hingerichtet worden, und ein Dutzend andere seien im Norden der Provinz Kunduz entführt worden. Laut dem Provinz-Gouverneur hätten die Dorfältesten und die ortsansässigen Bewohner die sichere Befreiung der Geiseln, bei denen es sich um Zivilisten handelte, ausgehandelt:

In einem Statement vom Juni 2016 äußert sich UNAMA besorgt über den Anstieg von Entführungen, Geiselnahmen sowie summarischen Hinrichtungen und berichtet von einer bewaffneten Entführung von 25 ZivilistInnen, bei denen es sich Berichten zufolge allesamt um Hazara gehandelt habe. Die Entführten seien in zwei Fahrzeugen im Bezirk Balkh Ab, der nördlichen Provinz Saripul (Sar-e-Pul), unterwegs gewesen. Während vier Frauen und ein älterer Herr wieder freigelassen worden seien, sei der Verbleib der 20 Anderen nicht bekannt

Im Juli 2016 beschreibt die deutsche Tageszeitung „Taz“ einen Anschlag der Gruppe IS während einer Demonstration von Hazara in der Stadt Kabul, bei dem mindestens 80 Personen ums Leben gekommen seien.

Tausende Angehörige der ethnischen Minderheit der Hazara hatten in der afghanischen Hauptstadt für den Bau einer Stromtrasse in der vernachlässigten Region Bamijan demonstriert, als inmitten der Menschenmenge mindestens ein Sprengsatz detonierte. Ein AFP-Fotograf sah am Tatort dutzende zum Teil völlig zerfetzte Leichen. Krankenwagen hatten Schwierigkeiten, zum Explosionsort zu gelangen, weil die Behörden Straßenkreuzungen blockiert hatten, um zu verhindern, dass die Demonstranten zum Präsidentenpalast marschieren.

Zu der Tat bekannte sich die Dschihadistenorganisation IS. Die radikalislamischen Taliban, die derzeit ihre Sommeroffensive gegen die afghanischen Sicherheitsbehörden führen, wiesen jegliche Beteiligung an dem Anschlag zurück.

In einem weiteren Artikel vom Juli 2016, geht die Taz auf die Motive für den oben beschriebenen Anschlag ein:

„Der IS-Anschlag auf die Friedensdemo in Kabul mit mindestens 80 Toten hatte militärisch keinen Sinn. Ziel war eine schiitische Minderheit.

Es gibt kaum Zweifel daran, dass der schwere Anschlag am Sonnabend in Kabul vom örtlichen Ableger des Islamischen Staates (IS) durchgeführt worden ist. Die Handschrift des Anschlags spricht eindeutig dafür: Es ist ein skrupelloser Akt ohne jeglichen militärischen Sinn: gegen den friedlichen, von Zivilisten getragenen Protest der schiitischen Hazara-Minderheit und gegen die schiitische Minderheit insgesamt gerichtet, die vom IS und seinen Geistesgenossen nicht als ‚richtige‘ Muslime angesehen werden.“

(Auszug aus Anfragebeantwortung von ACCORD zu Afghanistan zur Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konfliktes zwischen Kuchis und Hazara [a-9737-V2]).

2.3. Zu bestimmten Aspekten der Lage von Frauen:

2.3.1. Die Regierung hat seit 2001 einige wichtige Schritte zur Verbesserung der Situation der Frauen im Land unternommen, darunter die Aufnahme internationaler Standards zum Schutz der Rechte der Frauen in die nationale Gesetzgebung, insbesondere durch Verabschiedung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, den Erlass von Maßnahmen zur Stärkung der politischen Teilhabe von Frauen und die Einrichtung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten. Die Verbesserungen der Situation von Frauen und Mädchen blieben jedoch Berichten zufolge marginal und Afghanistan wird weiterhin als „sehr gefährliches“ Land für Frauen und Mädchen betrachtet. Fortschritte, die in der Vergangenheit in Hinblick auf die Menschenrechte von Frauen erzielt wurden, wurden teilweise durch die Verschlechterung der Sicherheitslage in einigen Teilen des Landes zunichtegemacht. Die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleibt endemisch. Berichten zufolge ist Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor weit verbreitet und nimmt weiter zu. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte üblicherweise straflos bleiben. Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz einiger Fortschritte sind Frauen überproportional von Armut, Analphabetismus und schlechter Gesundheitsversorgung betroffen. Beobachter berichten, dass Gesetze zum Schutz von Frauenrechten weiterhin nur langsam umgesetzt werden, dies betrifft insbesondere die Umsetzung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen. Das im August 2009 verabschiedete Gesetz stellt 22 gegen Frauen gerichtete gewalttätige Handlungen und schädliche traditionelle Bräuche, einschließlich Kinderheirat, Zwangsheirat sowie Vergewaltigung und häusliche Gewalt, unter Strafe und legt die Bestrafung der Täter fest. Den Behörden fehlt Berichten zufolge der politische Wille, das Gesetz umzusetzen. Dementsprechend wird es Berichten zufolge nicht vollständig durchgesetzt, insbesondere nicht in ländlichen Gebieten. Die überwiegende Mehrheit der Fälle der gegen Frauen gerichteten Gewaltakte, einschließlich schwerer Straftaten gegen Frauen, wird immer noch nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen statt wie vom Gesetz vorgesehen strafrechtlich verfolgt. UNAMA berichtet, dass sowohl die afghanische nationale Polizei als auch die Staatsanwaltschaften zahlreiche Fälle, einschließlich schwerwiegender Straftaten, an jirgas und shuras zum Zweck der Beratung oder Entscheidung weiterleiten und dadurch die Umsetzung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen unterminieren und die Praktizierung schädlicher traditioneller Bräuche fördern. Durch Entscheidungen gemäß diesen Mechanismen sind Frauen und Mädchen der Gefahr weiterer Schikanierung und Ausgrenzung ausgesetzt. Das schiitische Personenstandsgesetz, das Familienangelegenheiten wie Heirat, Scheidung und Erbrecht für Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft regelt, enthält mehrere diskriminierende Bestimmungen für Frauen, insbesondere in Bezug auf Vormundschaft, Erbschaft, Ehen von Minderjährigen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses.

Während die in diesem Abschnitt beschriebenen Menschenrechtsprobleme Frauen und Mädchen im gesamten Land betreffen, gibt die Situation in Gebieten, die tatsächlich von regierungsfeindlichen Kräften kontrolliert werden, Anlass zu besonderer Sorge. Regierungsfeindliche Kräfte haben Berichten zufolge in diesen Gebieten die Rechte von Mädchen und Frauen in schwerwiegender Weise beschnitten, darunter ihr Recht auf Bewegungsfreiheit und politische Partizipation. Außerdem besteht in von regierungsfeindlichen Kräften kontrollierten Gebieten eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass Frauen besonderen Schwierigkeiten beim Zugang zur Justiz ausgesetzt sind und ihnen keine wirksamen Rechtsmittel gegen die Verletzung ihrer Rechte zur Verfügung stehen. Die von den regierungsfeindlichen Kräften (in den von ihnen kontrollierten Gebieten betriebene Paralleljustiz verletzt Berichten zufolge tatsächlich regelmäßig die Rechte von Frauen.

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Afghanistan ist Berichten zufolge nach wie vor weit verbreitet. Dazu gehören Ehrenmorde, Entführung, Vergewaltigung, erzwungene Abtreibung und häusliche Gewalt. Da sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe von weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft als Schande für die Familie betrachtet werden, besteht für Opfer von Vergewaltigungen außerhalb der Ehe die Gefahr, geächtet, zu Abtreibungen gezwungen, inhaftiert oder sogar getötet zu werden. Gesellschaftliche Tabus und die Angst vor Stigmatisierung und Vergeltungsmaßnahmen einschließlich durch die eigene Gemeinschaft oder Familie sind häufige Gründe dafür, dass Überlebende sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt nicht anzeigen. Gleichzeitig werden weiterhin Fälle von Selbstverbrennung aufgrund von häuslicher Gewalt gemeldet.

Behörden leiten nach wie vor die meisten Anzeigen wegen häuslicher Gewalt zur Entscheidung an traditionelle Institutionen zur Streitbeilegung weiter. Frauen und Mädchen, die vor Misshandlung oder drohender Zwangsheirat von zu Hause weglaufen, werden oftmals vager oder gar nicht definierter „moralischer Vergehen“ bezichtigt, einschließlich des Ehebruchs („zina“) oder des „von zu Hause Weglaufens“. Während Frauen in diesen Situationen oftmals verurteilt und inhaftiert werden, was eine Verletzung internationaler Menschenrechtsstandards und -rechtsprechung darstellt, bleiben die für die häusliche Gewalt oder Zwangsheirat verantwortlichen Männer nahezu grundsätzlich straflos. Da Frauen außerdem in der Regel wirtschaftlich von den Gewalttätern abhängig sind, werden viele von ihnen faktisch davon abgehalten, Klage zu erheben und haben wenig andere Möglichkeiten, als weiterhin in von Missbrauch geprägten Situationen zu leben. Der Zugang zur Justiz wird für Frauen, die Gewalttaten anzeigen möchten, zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass der Anteil der Frauen unter den Polizeikräften im Land nur bei etwas unter zwei Prozent liegt.385 Polizistinnen sind Berichten zufolge selbst der Gefahr sexueller Belästigungen und Übergriffe am Arbeitsplatz einschließlich Vergewaltigungen durch männliche Kollegen ausgesetzt. Sie sind außerdem durch gewaltsame Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte gefährdet. Berichten zufolge besteht Straflosigkeit bei Handlungen von sexueller Gewalt auch deswegen weiter fort, weil es sich bei den mutmaßlichen Vergewaltigern in einigen Gebieten um mächtige Befehlshaber oder Mitglieder bewaffneter Truppen oder krimineller Banden handelt oder um Personen, die zu solchen Gruppen oder einflussreichen Personen Kontakt haben und von ihnen vor Inhaftierung und Strafverfolgung geschützt werden.

Schädliche traditionelle Bräuche sind in Afghanistan weiterhin weit verbreitet und kommen in unterschiedlichem Ausmaß landesweit sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gemeinschaften und in allen ethnischen Gruppen vor. Die schädlichen traditionellen Bräuche, die in diskriminierenden Ansichten zur Rolle und Position der Frauen in der afghanischen Gesellschaft wurzeln, betreffen in unverhältnismäßig hohem Maße Frauen und Mädchen. Zu diesen Bräuchen gehören unterschiedliche Formen der Zwangsheirat, einschließlich Kinderheirat, Hausarrest und Ehrenmorde. Zu den Formen der Zwangsheirat in Afghanistan gehören: (i) „Verkaufsheirat“, bei der Frauen und Mädchen gegen eine bestimmte Summe an Geld oder Waren oder zur Begleichung von Schulden der Familie einer Familienschuld verkauft werden; (ii) baad dadan, eine Methode der Streitbeilegung gemäß Stammestraditionen, bei der die Familie der „Angreifer“ der Familie, der Unrecht getan wurde, ein Mädchen anbietet, zum Beispiel zur Begleichung einer Blutschuld; (iii) baadal, ein Brauch, bei dem zwei Familien ihre Töchter austauschen, um Hochzeitskosten zu sparen; (iv) Zwangsverheiratung von Witwen mit einem Mann aus der Familie des verstorbenen Ehemanns.

Wirtschaftliche Unsicherheit und der andauernde Konflikt sowie damit verbundene Vertreibung, Verlust von Eigentum und Verarmung der Familien sind Gründe, warum das Problem der Kinderheirat fortbesteht, da diese oftmals als die einzige Überlebensmöglichkeit für das Mädchen und seine Familie angesehen wird.398 Nach dem Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen stellen einige schädliche traditionelle Bräuche einschließlich des Kaufs und Verkaufs von Frauen zu Heiratszwecken, die Benutzung von Frauen als Mittel zur Streitbeilegung nach dem „baad“-Brauch sowie Kinder- und Zwangsheirat Straftatbestände dar. Die Umsetzung des Gesetzes erfolgt jedoch, wie oben festgestellt, langsam und inkonsistent.

(Quelle: Auszug aus den UNHCR-Richtlinien 2016, S. 64 ff)

2.3.2. Frauen sind besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben, beispielsweise solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind, werden nach wie vor als soziale und religioöse Normen überschreitend wahrgenommen. Als Folge können sie Opfer von häuslicher Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte „Schande“ reichen. Tatsächliche oder vermeintliche Überschreitungen der sozialen Verhaltensnormen umfassen nicht nur das Verhalten in im familiären oder gemeinschaftlichen Kontext, sondern auch die sexuelle Orientierung, das Verfolgen einer beruflichen Laufbahn und auch bloße Unstimmigkeiten über Art des Auslebens des Familienlebens.

(Quelle: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Zusammenfassende Übersetzung vom 10.11.2009)

III. Beweiswürdigung:

1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin:

Die unter II.1.1. bis II.1.4. getroffenen Feststellungen beruhen auf den von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakten und waren in Anbetracht von Bescheid- und Beschwerdeausführungen als unbestritten anzusehen.

2. Zu den Feststellungen zur Lage in Afghanistan:

2.1. Die Feststellungen unter II.2.1. zur Lage der Schiiten beruhen einerseits auf den UNHCR-Richtlinien 2016. Diese waren als schlüssig, nachvollziehbar und den allgemeinen Mindeststandards für Länderinformationen entsprechend anzusehen (s. etwa die Gemeinsamen EU Leitlinien für die Erstellung von Länderinformationen vom April 2008 [in Folge: „COI Standards“], abrufbar unter: https://www.refworld.org/docid/48493f7f2.html, abgerufen am 04.11.2020). Die Beschwerdeführerin bezog sich genau auf diese, auch die belangte Behörde bestritt sie nicht. Die Feststellungen beruhen andererseits auf den im Bescheid (S. 27 f) enthaltenen Länderinformationen, die auch von der Beschwerdeführerin unbestritten blieben (woraus – unabhängig von der Möglichkeit, etwa einzelne Anschläge zu verüben, ein beherrschender Einfluss des IS in der Provinz Maidan-Wardak sich nicht ergibt). Sie wiesen im Übrigen – bei Zusammenschau mit den jeweils angegebenen Quellen – auch die Anforderungen an entsprechende Länderinformationen auf.

2.2. Die Feststellungen unter II.2.2. zur Lage der Hazara folgen aus Anfragebeantwortung von ACCORD. Sie wurden von der Beschwerdeführerin so verwiesen und blieben auch von der belangten Behörde unbestritten. Auch sie erfüllen die zu erwartenden COI-Standards und sind schlüssig und nachvollziehbar.

2.3. Die Feststellungen unter II.2.3. zu bestimmten Aspekten der Lage von Frauen in Afghanistan beruhen auf Länderinformationen, die der UNHCR erstellte. Auch diese entsprechen den COI-Standards und sind schlüssig und nachvollziehbar. Sie wurden von der Beschwerdeführerin in der Beschwerde selbst wiedergegeben. Auch die belangte Behörde zog sie nicht in Streit.

IV. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids

1. Zu den gerügten Mängeln des verwaltungsbehördlichen Verfahrens:

1.1. Die Beschwerde führt unter Pkt. I.1. zunächst aus, dass die belangte Behörde mangelhaft zum „Kindeswohl“ ermittelt habe. Sie verweist dazu auf Übereinkommen über die Rechte des Kindes (in Folge: „Übereinkommen“), auf Rechtsprechung des EGMR zu dieser bei Auslegung der EMRK, auf Art. 24 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (in Folge: „GRC“), das Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern (in Folge: „BVG Kinderrechte“) sowie § 138 ABGB. Aus Sicht der Beschwerdeführerin widerspreche die Rückkehr nach Afghanistan eindeutig dem „Kindeswohl“, weil das Gefahrenpotential enorm sei.

1.2. Auszugehen ist insbesondere von folgender maßgeblicher Rechtslage:

1.2.1. Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens sieht die Berücksichtigung des Kindeswohls in allen behördlichen und gerichtlichen Verfahren vor. Daneben verpflichtet Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das „die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt“ oder „nach Maßgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird“, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen, denen die genannten Staaten als Vertragsparteien angehören, festgelegt sind. Dies auch unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht. Nach Art. 22 Abs. 2 des Übereinkommens sollen die Vertragsstaaten zu den in den Vorsätzen beschriebenen Zwecken in der ihnen angemessen erscheinenden Weise bei allen Bemühungen mitwirken, welche die Vereinten Nationen und andere zuständige zwischenstaatliche oder nichtstaatliche Organisationen, die mit den Vereinten Nationen zusammenarbeiten, unternehmen, um ein solches Kind zu schützen, um ihm zu helfen und um die Eltern oder andere Familienangehörige eines Flüchtlingskinds ausfindig zu machen mit dem Ziel, die für eine Familienzusammenführung notwendigen Informationen zu erlangen. Können die Eltern oder andere Familienangehörige nicht ausfindig gemacht werden, so ist dem Kind im Einklang mit den in diesem Übereinkommen enthaltenen Grundsätzen derselbe Schutz zu gewähren wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist.

1.2.2. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss gemäß Art. 24 Abs. 2 GRC das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.

1.2.3. Erwägungsgrund 18 erster Satz der EU-Richtlinie 2011/95/EU (in Folge: „Statusrichtlinie“) sieht vor, dass bei der Umsetzung dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Übereinkommen vorrangig das „Wohl des Kindes“ berücksichtigen sollen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten, so der zweite Satz von Erwägungsgrund 18 der genannten Richtlinie insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen, Sicherheitsaspekten sowie dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen. Nach Erwägungsgrund 28 Statusrichtlinie sollten die Mitgliedstaaten bei der Prüfung von Anträgen Minderjähriger auf internationalen Schutz kinderspezifische Formen von Verfolgung berücksichtigen.

1.2.4. Gemäß Art. 20 Abs. 5 Statusrichtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Minderjährige berührenden Bestimmungen von Kapitel VII vorrangig das Wohl des Kindes. Dieses Kapitel enthält Vorgaben über den Inhalt zuerkannten Internationalen Schutzes.

1.2.5. Gemäß § 18 Abs.1 AsylG 2005 haben das Bundesamt und das Bundesverwaltungsgericht haben in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.

1.3. Allfällige Verfahrensmängel im Verfahren vor der belangten Behörde können durch ein mängelfreies Verfahren vor dem Verwaltungsgericht saniert werden (vgl. VwGH 28.02.2020, Ra 2020/03/0012, Rz. 20, m.w.N.).

1.4. Der Verwaltungsgerichtshof judiziert weiters zur (amtswegigen) Ermittlungspflicht einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes nunmehr ständig, dass dem Vorbringen des Asylwerbers zentrale Bedeutung zukommt. Das geht für den Gerichtshof auch aus § 18 Abs. 1 Asylgesetz 2005 deutlich hervor, wonach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und das Bundesverwaltungsgericht in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken haben, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Für den Verwaltungsgerichtshof bedeutet diese Pflicht aber nicht, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (vgl. etwa VwGH 03.07.2020, Ra 2019/14/0608, Rz. 11).

1.5. Doch bietet das Asylverfahren nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.

1.6. Was das „Kindeswohl“ betrifft ist es ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass die Auswirkungen auf dieses bei der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 MRK bzw. § 9 BFA-VG 2014 hinreichend berücksichtigt werden müssen (vgl. etwa VwGH 26.02.2020, Ra 2019/18/0456, Rz. 19, m.w.N.; auch VfGH 08.06.2020, E4386/2019, Pkt. 3.1.).

1.7. Das von der Beschwerdeführerin ebenso zitierte BVG Kinderrechte – welches der Transposition des Übereinkommens, insbesondere auch von dessen Art. 3, in österreichisches Recht dient – enthält keine besonderen Vorgaben für die Behandlung eines Antrags auf internationalen Schutz. Besondere Bestimmungen über – minderjährige – Antragsteller auf internationalen Schutz enthält das BVG Kinderrechte nicht.

1.8. Zur einer erkennbaren Relativierung der rechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung oder Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten kommt es dadurch nicht (vgl. dazu auch die Äußerung der Bundesregierung im Gesetzesprüfungsverfahren G298/2019 u.a. vor dem Verfassungsgerichtshof).

1.9. Eine vom EASO erstellte rechtliche Analyse geht davon aus, dass im Fall minderjähriger Antragsteller bei der Würdigung der Kriterien für die Gewährung von internationalem Schutz das Wohl des Kindes zweifelsohne stets eine vorrangige Erwägung bei der Anwendung der Statusrichtlinie sein müsse. Der Grundsatz des Kindeswohls sei auch für die Auslegung und Anwendung von Verfahrensvorschriften und -normen relevant (EASO, Richterliche Analyse, Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes [2018], S. 19). Hingewiesen wird in der Analyse auch darauf, dass das Übereinkommen eine Reihe spezifischer Menschenrechte beinhalte und ein Verstoß gegen diese Rechte aufgrund seiner Art oder Wiederholung eine Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. a Statusrichtlinie darstelle oder aufgrund der Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen als eine Verletzung von Grundrechten gelten, die eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b leg. cit. darstelle. Eine Klarstellung von Art und Ausmaß der Wirkung von Art. 24 Abs. 2 GRC im Rahmen der Beurteilung kinderspezifischer Verfolgungshandlungen und ihrer hinreichenden Schwere im Licht von Art. 9 Statusrichtlinie bislang vom EuGH noch nicht vorgenommen worden sei. Eine mögliche Vergleichsbetrachtung bezüglich der Wirkung dieses Rechts im Zusammenhang mit kinderspezifischen Verfolgungshandlungen finde sich beispielsweise in der Auslegung des EuGH in der Rechtssache C-648/11, MA, BT und DA, betreffend die Überstellung unbegleiteter Minderjähriger von einem Mitgliedstaat in einen anderen im Rahmen der Dublin-II-Verordnung. In diesem Fall habe der EuGH befunden, dass Art. 6 Abs. 2 der zuvor genannten Verordnung nicht so ausgelegt werden kann, dass er dem im Art. 24 Abs. 2 GRC verankerten Grundrecht zuwiderliefe (EASO, a.a.O., 48 f).

1.10. Schließt man sich dieser Sichtweise an, so ist das Kindeswohl zumindest als Auslegungsgrundsatz beachtlich, ein materielles (Grund-)Recht i.S.d. Art. 9 Abs. 1 Statusrichtlinie – wie auf Bekundung von Religion oder Weltanschauung nach Art. 14 des Übereinkommens – damit jedoch nicht verbunden.

1.11. Auch der Verwaltungsgerichtshof hat unter Hinweis auf die Richtlinien Nr. 9 des UNHCR über Asylanträge von Kindern bereits ausgesprochen, dass bei der Beurteilung der Intensität von Verfolgungshandlungen auf die Minderjährigkeit eines Asylwerbers Rücksicht zu nehmen ist (vgl. 15.03.2016, Ra 2015/19/0180, Rz. 19, m.w.N.).

1.12. Fallbezogen ist jedoch nicht erkennbar, dass die belangte Behörde den Sachverhalt vor dem Hintergrund des § 3 AsylG 2005 bzw. der Vorgaben der Statusrichtlinie unter Beachtung des zuvor dargestellten Auslegungsgrundsatzes mangelhaft ermittelt hätte:

1.13. Die Behörde hat die Mutter der Beschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin entsprechend über mögliche Rückkehrbefürchtungen befragt (AS 12) und auch zur Lage von Kindern in Afghanistan ermittelt und Feststellungen getroffen (AS 70 ff).

1.14. Unter Pkt. I.2. der Beschwerde werden „unzulässige Verweise“ auf „andere Bescheide“ gerügt. So werde auf die Feststellungen zum Verfahren der Mutter verwiesen, welches jedoch 2012 beendet worden sei. Von einer Aktualität der Situation von Frauen in Afghanistan könne somit nicht ausgegangen werden.

1.15. Die belangte Behörde traf Feststellungen zur der über den Antrag der Mutter der Beschwerdeführerin getroffenen Entscheidungen (s. auf S. 2f des Bescheids). Dem Bundesverwaltungsgericht ist nicht ersichtlich, warum die Verweise im Lichte der Begründungsanforderungen des § 60 AVG nicht grundsätzlich zulässig sein sollten. Die von der Beschwerdeführerin zitierte Rechtsprechung des VwGH (Ra 2014/01/0085) bezog sich auf die Vorgaben für die Begründung einer verwaltungsgerichtlichen und nicht einer verwaltungsbehördlichen Entscheidung.

1.16. Soweit die Beschwerde einen Ermittlungsmangel dahingehend erblickt, dass die Mutter der Beschwerdeführerin nicht zu ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara „befragt“ worden wäre, so ist darauf hinzuweisen, dass die belangte Behörde sehr wohl eine Frage zur Volksgruppenzugehörigkeit stellte (AS 10). Ebenso fragte die Behörde zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin (AS 12 f). Mögliche Maßnahmen oder Handlungen seitens des afghanischen Staats oder anderer Akteure aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit lassen sich in den getätigten Angaben der gesetzlichen Vertreterin nicht ansatzweise erkennen.

1.17. Der UNHCR schlussfolgerte im verwaltungsbehördlichen Entscheidungszeitpunkt zu Afghanistan, dass auf Grundlage von beschriebenen Situationen einzelner Minderheiten der je nach den Umständen des Einzelfalls für Personen, die zu einer ethnischen Minderheit in Afghanistan gehören, insbesondere in Gebieten, in denen diese nicht die ethnische Mehrheit darstellt, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund ihrer Nationalität oder ethnischen Zugehörigkeit/Rasse oder aufgrund anderer relevanter Gründe bestehen kann. Zu den relevanten Erwägungen gehören die relative Machtposition der ethnischen Gruppe im Herkunftsgebiet des Antragstellers und die Geschichte der interethnischen Beziehungen in diesem Gebiet. Dabei ging der UNHCR bezogen auf die Situation der Hazara von Folgendem aus:

„Die Hazara werden Berichten zufolge weiterhin gesellschaftlich diskriminiert und gezielt durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit und körperliche Misshandlung unter Druck gesetzt. Bereits in der Vergangenheit wurden Hazara von Paschtunen marginalisiert und diskriminiert. Seit dem Ende des Taliban-Regimes im Jahr 2001 haben sie Berichten zufolge jedoch erhebliche wirtschaftliche und politische Fortschritte gemacht. Jedoch stiegen in jüngerer Zeit Berichten zufolge die Fälle von Schikanierung, Einschüchterung, Entführung und Tötung durch Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte.“ (s. UNHCR-Richtlinien 2016, S. 87 und 90).

1.18. Das EASO führt aus, dass die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara an sich normalerweise nicht das Risikoniveau erreicht, das erforderlich ist, um eine begründete Furcht vor Verfolgung zu begründen. In den meisten Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung begründet ist, würde sie mit Umständen zusammenhängen, die unter andere in diesem Leitfaden enthaltene Profile fallen, wie z.B. die Profile über Schiiten, einschließlich Ismaili, Mitglieder der Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen, Regierungsbeamte, einschließlich Richter, Staatsanwälte und Justizbedienstete, und solche, die als Unterstützung der Regierung wahrgenommen werden, usw. Bei der individuellen Beurteilung sollten auch risikobehaftete Umstände berücksichtigt werden, wie z.B. Herkunftsgebiet und Arbeitsbereich (je nach Verfolgungsakteur), Beruf, politischer Aktivismus usw. (s. EASO-Länderleitfaden Afghanistan vom Juni 2018 [in Folge: „EASO-Länderleitfaden Afghanistan 2018“], abrufbar hier: https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/easo-country-guidance-afghanistan-2018.pdf, S. 20).

1.19. Vor dem Hintergrund auch dieser – auch verbindlich beachtlichen (vgl. etwa VwGH 21.08.2020, Ra 2020/18/0315) – Leitlinien bestand für die belangte Behörde – auch in bzw. schon aufgrund ihrer Rolle als Spezialbehörde (vgl. dazu wiederum etwa VwGH 11.11.1998, 98/01/0284) – aufgrund des § 18 Abs. 1 AsylG 2005 kein Anhaltspunkt zu einer möglichen Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara zu ermitteln oder auch nur spezifische Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat diesbezüglich zu treffen. Ebenso war die belangte Behörde nicht gehalten, der gesetzlichen Vertreterin der Beschwerdeführerin nach Angabe der Volksgruppenzugehörigkeit (und in Anbetracht der sonstigen) Angaben spezifische Fragen zu stellen (etwa, ob mit dieser Zugehörigkeit bei Rückkehr nach Afghanistan Befürchtungen ob möglicher Handlungen oder Maßnahmen seitens eines Akteurs im asylrechtlichen Sinn verbunden wären).

1.20. Ebenso ist kein Ermittlungsmangel darin zu erkennen, dass die belangte Behörde keine Ermittlungsschritte ob einer möglichen Gefahr einer Verfolgung wegen einer „westlichen Orientierung“ der Beschwerdeführerin setzte:

1.21. Zwar trifft es zu, dass nach höchstgerichtlicher Rechtsprechung bei Vorliegen einer „westlich orientierten“ Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung der Grundrechte zum Ausdruck kommt, – auf der Grundlage aktueller Länderberichte – eine Auseinandersetzung damit stattfinden muss, ob und bejahendenfalls mit welchen staatlichen bzw. nicht-staatlichen Reaktionen die Asylwerberin aufgrund ihres gelebten selbstbestimmten westlichen Lebensstils rechnen müsste, ob diese Reaktionen nach ihrer Schwere als Verfolgung angesehen werden können und ob der Asylwerberin – im Falle von Privatverfolgung – staatlicher Schutz gewährt werden würde (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2014/18/0118 und 0119). Die Verfolgung von Frauen westlicher Orientierung wird darin gesehen, dass solche Frauen, obwohl ihr westliches Verhalten oder ihre westliche Lebensführung ein solch wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden ist, dieses Verhalten unterdrücken müssten (vgl. VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017 bis 0018, unter Hinweis auf VwGH 06.07.2011, 2008/19/0994 bis 1000; VwGH 18.05.2020, Ra 2019/18/0402, Rz. 17, m.w.N.; auch VfGH 12.06.2015, E573/2015, Pkt. II.3.2.1.).

1.22. Fallbezogen ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich bei der Beschwerdeführerin im Entscheidungszeitpunkt der belangten Behörde um ein nicht einmal zweijähriges Kleinkind handelte. Eine im Lichte der zuvor Rechtsprechung sowie der oben genannten Leitlinien beurteilungsrelevante – verinnerlichte und selbstbestimmte – Lebensweise oder ein entsprechender Lebensstil können hier noch gar nicht vorliegen.

1.23. Auch angesichts der Angaben bzw. Behauptungen der Mutter zu Schulbesuch wie auch Universität (AS 12) – die eben in Anbetracht von gestellten Fragen der belangten Behörde getätigt wurden, was die Beschwerdeführerin übersieht – brauchte sich die Behörde nicht veranlasst sehen, weitere Ermittlungstätigkeiten zu führen (dies im Gegensatz etwa zu VwGH 09.01.2020, Ra 2019/18/0195, Rz. 9, m.w.N., mit einem deutlich höheren Alter und einem deutlich anders gelagerten Vorbringen zur Lebenssituation wie auch zu Rückkehrbefürchtungen in den Herkunftsstaat).

1.24. In ihrer – s. oben – spezialbehördlichen Rolle konnte die belangte Behörde daher in vollkommen rechtsrichtiger Weise davon ausgehen, dass gemäß § 18 Abs. 1 AsylG 2005 in Anbetracht auch der übrigen Ausführungen der gesetzlichen Vertreterin der Beschwerdeführerin kein weitergehender Bedarf zur Sachverhaltsermittlung bestand. Was die Beschwerdeführerin mit den Hinweisen auf die „Erziehung“ und den „Ausbildungswunsch“ der gesetzlichen Vertreterin für sie aufzeigen möchte erschließt sich dem erkennenden Gericht nicht; geht es durch bei der „Verwestlichung“ zunächst um eine verinnerlichte Lebensweise bzw. einen derartigen Lebensstil. Ebenso unverständlich bleibt für das Bundesverwaltungsgericht, wie den ein knapp zweijähriges Kind überhaupt eine – für das Treffen entsprechender Feststellungen geeignete – Antwort auf die Frage geben sollte, ob die Beschwerdeführerin „tatsächlich gewillt“ ist, sich in das „traditionelle islamische Rollenbild der Frau in Afghanistan“ einzufügen (was überhaupt allenfalls nur soweit von Bedeutung wäre, als trotz einer [grundsätzlich mit den Umständen im Herkunftsstaat inkompatiblen] verinnerlichten Lebensweise eine wohlbegründete Furcht im Einzelfall als dennoch nicht gegeben zu sehen wäre). Dies auch in Anbetracht von Art. 4 BVG Kinderrechte, wonach jedes Kind das Recht auf angemessene Beteiligung und Berücksichtigung seiner Meinung in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten, in einer seinem Alter und seiner Entwicklung entsprechenden Weise hat und auch der Richtlinien in Rz. 70 der UNHCR-Richtlinien Nr. 8.

1.25. Ohne fallbezogene Beurteilungsrelevanz ist bzw. war dabei auch – wie die Beschwerdeführerin auf S. 5 ihres Beschwerdeschriftsatzes darzustellen versucht –, welche Lebensweise die gesetzliche Vertreterin „für die Beschwerdeführerin“ anstrebt und wie sie (selbst) ihr Leben hier (gemeint in Österreich) führt. Eine solche Relevanz kommt auch der Tatsache nicht zu, ob die gesetzliche Vertreterin der Beschwerdeführerin selbst „westlich eingestellt“ ist und ein „selbstbestimmtes Lebens“ führt und sich dieses auch für die Beschwerdeführerin „wünscht“. Es geht i.S.d. oben wiedergegebenen Rechtsprechung von Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof vielmehr darum, ob die Beschwerdeführerin eine Lebensweise oder einen Lebensstil angenommen hat, den sie (selbst) – aufgrund bestimmter sonstiger Reaktionen von Akteuren im asylrechtlichen Sinn – bei Rückkehr (hier erstmaliger Ansiedlung) an einem bestimmten Ort in ihrem Herkunftsstaat Afghanistan unterdrücken müsste.

1.26. Insgesamt liegen somit die in der Beschwerde gerügten Verletzungen von Verfahrensvorschriften – unbeschadet der Möglichkeit, diese im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu sanieren – nicht vor.

2. Zur behaupteten Verletzung materiellen Rechts:

2.1. Auszugehen ist von folgender, maßgeblicher Rechtslage:

2.1.1. „Flüchtling“ i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z2 Genfer Flüchtlingskonvention (in Folge: „GFK“) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

2.1.2. Die Statusrichtlinie lautet auszugsweise mit Überschriften wie folgt:

„Artikel 4

Prüfung der Tatsachen und Umstände

(1) Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(2) … (3) …

(4) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

(5) Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn

a) der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen;

b) alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;

c) festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;

d) der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war; und

e) die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.

Artikel 9

Verfolgungshandlungen

(1) Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder

b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

a) Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,

b) gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,

c) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,

d) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,

e) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen, und

f) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Gemäß Artikel 2 Buchstabe d muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10 genannten Gründen und den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.

Artikel 10

Verfolgungsgründe

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

a) Der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;

b) der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;

c) der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;

d) eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn

- die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und

- die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Als sexuelle Orientierung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, werden zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt;

e) unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Artikel 6 genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“

2.1.3. Das AsylG 2005 lautet auszugsweise samt Überschriften:

„Begriffsbestimmungen

§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist

1. … 10. …

11. Verfolgung: jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie;

12. ein Verfolgungsgrund: ein in Art. 10 Statusrichtlinie genannter Grund;

13. … 27. …

Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugun

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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