TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/19 L504 2166636-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.11.2020
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Entscheidungsdatum

19.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1a

Spruch


L504 2166636-2/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.10.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe :

I. Verfahrenshergang

1. Die beschwerdeführende Partei [bP], ein irakischer Staatsangehöriger, stellte erstmals am 08.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Dieser wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sie von schiitischen Milizen entführt worden wäre. Sie sei vom Militär befreit worden, habe aber nach wie vor Angst vor diesen Milizen.

Dieser Antrag wurde mit Bescheid des BFA vom 04.07.2017 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBI I Nr. 100/2005 (AsylG) abgewiesen.

Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 2 Absatz 1 Ziffer 13 wurde ihr Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Irak abgewiesen.

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §57 AsylG nicht erteilt und wurde gem. §10 Abs. 1, Z. 3 AsylG i.V.m §9 BFA – VG eine Rückkehrentscheidung gem. §52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen.

Gem. § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gem. § 46 FPG in den Irak zulässig ist.

Gegen den abweisenden Bescheid des Bundesamtes wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

Das BVwG führte am 21.08.2019 in Anwesenheit der bP eine Beschwerdeverhandlung durch und hat an deren Ende die Beschwerde durch mündliche Verkündung des Erkenntnisses in allen Spruchpunkten rechtskräftig als unbegründet abgewiesen. Über Antrag wurde das Erkenntnis am 06.09.2019 ausgefertigt. Der bP war die Glaubhaftmachung der Entführung und der Bedrohung durch die Milizen infolge von Widersprüchen und Unplausibilitäten nicht gelungen.

Die bP kam in weiterer Folge der Ausreiseverpflichtung widerrechtlich nicht nach und verblieb rechtswidrig im Bundesgebiet.

Am 19.09.2019 hat das Bundesamt wegen nicht rechtmäßigem Aufenthalt im Bundesgebiet einen Festnahmeauftrag erlassen.

Am 29.01.2020 hat die BH Mistelbach mitgeteilt, dass die bP ein Gewerbe für Hausbetreuung angemeldet hat. Das Bundesamt wurde ersucht mitzuteilen, zu welchem Zeitpunkt die bP den Asylantrag eingebracht habe. Das Bundesamt teilte am 06.02.2020 mit, dass das Asylverfahren bereits seit August 2019 rk. negativ abgeschlossen wurde und sie rechtswidrig im Bundesgebiet aufhältig ist.

Im Zuge einer fremdenpolizeilichen Kontrolle wurde die bP am 04.10.2020 in St. Pankraz angetroffen und festgestellt, dass gegen die bP ein Festnahmeauftrag des Bundesamtes bestand. Sie wurde festgenommen und zur Polizeiinspektion Windischgarsten verbracht. Es wurde festgestellt, dass die bP gerade zu ihrer Arbeitsstelle im Restaurant N. wollte, um dort ihrer Arbeit als Tellerwäscher und Reinigungskraft nachzugehen. Sie sei dort seit 21.01.2020 beschäftigt. Die Nichtmitwirkung bei der Erlangung des Heimreisezertifikates im November 2019 begründete die bP damit, dass sie Angst gehabt habe in den Irak zurückzukehren.

2. Am 05.10.2020 stellte die bP im Zuge der Festnahme ihren verfahrensgegenständlichen 2. Antrag auf internationalen Schutz. Anlässlich der Erstbefragung am 05.10.2020, v. 09.38 – 10.06h, begründete sie den Folgeantrag folgendermaßen:

„[…]

1.       Ich habe eine Beziehung mit einer Frau, eine arabische Frau aus Syrien, ich habe mich integriert, ich habe die deutsche Sprache gelernt.

2.       Ich habe mich in Österreich integriert. Ich gehe in Österreich auch einer Beschäftigung nach, momentan nicht, da ich keine Arbeitserlaubnis habe.

3.       Ich habe auch in Österreich 2 Schwestern, XXXX (phon.) und XXXX wohnt in St. Pölten, XXXX lebt in Graz.

[…]“

Die alten Beweise würden noch immer gelten, neue habe sie nicht, da sie seit 2015 nicht mehr im Irak gewesen sei.

Gefragt, seit wann ihr die Änderung der Fluchtgründe bekannt sei gab sie an:

Ad1) Seit September 2017 habe sie diese Beziehung.

Ad2) Sie habe an einem Integrationskurs teilgenommen, habe auch ein Zertifikat. Das sei im Jahr 2019 gewesen. Vom 22.01.2020 bis Ende Februar 2020 habe sie gearbeitet.

Ad3) seit 5 Jahren seien diese in Österreich.

Am 13.10.2020 wurde die bP beim Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Sie bestätigte, dass die Angaben zur Begründung des Folgeantrages (05.10.2020) aus der Erstbefragung richtig seien. Seit 05.10.2020 habe sie ein „neues Problem“. Ihre Schwester habe sie aus dem Irak angerufen und gesagt, dass sie nicht in den Irak zurückkehren solle. Die Brüder der geschiedenen Frau des Bruders seien zu ihnen nach Hause gekommen und diese hätten nach der bP und dem Bruder XXXX gefragt. Diese Leute würden zu den Milizen gehören.

Konkret gestaltete sich die Einvernahme wie folgt (Auszug aus dem Bescheid):

„[…]

LA: Stimmen die damals von Ihnen gemachten Angaben und halten Sie diese auch weiterhin aufrecht?

VP: Ja. Seit 5. Oktober habe ich ein neues Problem, weil meine Schwester mich aus dem Irak angerufen hat, und sie hat gesagt, ich soll nicht in den Irak zurückkehren. Sie hat mir erzählt, dass die Brüder der geschiedenen Frau meines Bruders zu uns nach Hause gekommen sind und dass sie nach mir und meinem Bruder XXXX gefragt haben. Diese Leute gehören zu den Milizen.

LA: Sie meinen ihre Schwager?

VP: Es sind die Schwager von meinem Bruder.

Vorhalt: Das haben Sie aber nie in ihrem Vorverfahren angeführt?

VP: Ja, das habe ich nie gesagt, weil meine Schwester mich erst am 05.10.2020 angerufen hat und mir das gesagt hat. Diesen Anruf habe ich auf meinem Handy gespeichert.

Vorhalt: Sie wollen behaupten, exakt an dem Tag, wo Sie von der Polizei aufgegriffen wurden, wurden Sie zuvor angerufen?

VP: Das war nachdem ich bei der Polizei fertig war, und rauskam, da habe ich meine Schwester angerufen, und ihr gesagt, dass ich gerade bei der Polizei war.

LA: Ist es nicht vielmehr so, dass Sie das jetzt vorgeben, weil Sie diesen neuen Umstand bei der Polizei noch nicht angegeben haben?

VP: Das Telefonat mit der Schwester war nach der Erstbefragung.

LA: Um den Schwager wessen Bruders handelt es sich, wie ist sein Name?

VP: Ja, von meinem Bruder XXXX .

LA: Nach wem haben Sie gefragt?

VP: Nach mir und meinem Bruder, weil sie glauben, dass wir wieder in den Irak zurückgekehrt sind.

Ein Neffe von mir lebt auch in Österreich und dieser hat seiner Mutter im Irak geschrieben, dass unsere Asylanträge in Österreich negativ entschieden wurden und dass wir in den Irak zurückkehren.

LA: Ihr Antrag wurde aber schon im August 2019 negativ entschieden, warum sollte ihr Neffe exakt jetzt das seiner Mutter sagen?

VP: Das ist mein neuer Grund und mein Leben ist in Gefahr im Irak.

LA: Wie ist der Stand des Asylverfahrens ihres Bruders XXXX ?

VP: Der hat auch einen negativen Bescheid erhalten und ich weiß nicht, wo er derzeit ist.

Vorhalt: Sie wollen behaupten, im Zeitalter des Mobiltelefons wüssten sie nicht, wo ihr Bruder ist?

VP: Ich habe zur Zeit keinen Kontakt zu ihm.

LA: Wieso wissen Sie erst jetzt, dass diese Schwager ihres Bruders Angehörige der Milzen sind?

VP: Mein Bruder hat das schon bei seiner früheren Einvernahme gesagt,

LA: Das heißt sie wussten es schon vor ihrer Ausreise aus dem Irak im Jahre 2015 und haben diesen Umstand nie erwähnt?

VP: Als ich noch im Irak war, wurde ich schon von den Milizen entführt und jetzt erst, nachdem die Schwager meines Bruders nach mir gefragt haben, da kam ich drauf, dass diese der Grund für meine Entführung waren.t

LA: Da müsste doch schon im Heimatland eine Gefährdung von diesen Personen ausgegangen sein, sie aber haben angegeben, diese Leute nicht zu kennen, Sie haben nur einen Namen genannt?

VP: Den ich erwähnt habe, das war derjenige, der mich entführt habe. Die Milzen sind immer mehr, als eine Person. Es sind keine Behörden, sie sind stärker als die Behörden.

LA: Wissen Sie noch, was Sie für einen Namen angeführt haben?

VP: Über welches Thema meinen Sie, über die Entführung, der, der mich entführt hat?

LA: Der Sie entführt hat?

VP: Wie gesagt, ich erinnere mich nicht.

Ist es möglich, dass sie mir 5 Minuten geben, dass ich nachdenken.

Vorhalt: Sie haben einen Namen der Milizen genannt, der Sie entführt hat, da werden Sie doch wissen, wer das war?

VP: Nein, ich habe den Namen der Person vergessen, der mich entführt hat.

LA: Was genau wollen diese Schwager ihres Bruders von Ihnen?

VP: Da mein Bruder seinen Sohn vom Irak mitgenommen hat, seine Ex Frau ist zuhause geblieben, gingen sie von dem aus, dass ich das meinem Bruder gesagt hätte. Jetzt habe ich mich erinnert, an die Person, die mich entführt hat, sie hieß ´ XXXX ´

VP: Wann ist ihr Bruder aus dem Irak ausgereist?

LA: Ca. 2 bis 3 Monate nach meiner Ausreise.

LA: Warum sollten die Schwager ihres Bruders dann erst jetzt glauben, dass Sie schuld wären und nicht schon seit der Ausreise ihres Bruders und seines Sohnes?

VP: Weil mein Neffe ´ XXXX ´ der Sohn des XXXX telefonischen Kontakt zu seiner Mutter hat und ihr geschrieben hat, dass wir zurückkehren und XXXX hat kein Internetnetz, deswegen gehen die Schwager meines Bruders davon aus, dass wir im Irak sind. Sie waren bei meinen Eltern und fragten nach mir.

LA: Ist es nicht in der Kultur ihres Landes, dass das Kind beim Vater bleibt?

VP: Das Kind hat selber entscheiden, dass es mit seinem Vater reist, weil er vom Bruder seiner Mutter geschlagen wurde.

LA: Wenn ´ XXXX ´ nicht entführt wurde, zuhause vom Onkel geschlagen wurde und freiwillig den Irak mit seinem Vater verlassen hat, was genau wollen jetzt die Schwager ihres Bruders von Ihnen?

VP: Sie wollen den ´ XXXX haben und glauben, dass ich hinter der Geschichte stehe.

LA: Dann würden Sie aber schon seit ihrer Ausreise hinter dieser Geschichte stehen, warum genau jetzt am 05.10.2020 kommen diese Leute zu Ihnen nachhause?

VP: Am 05.10.2020 hat meine Schwester mir das telefonisch mitgeteilt, aber ich glaube, dass sie einen Monat vorher bei uns zuhause waren.

LA: Dann hätte ihre Schwester sie aber sofort kontaktiert, glauben Sie nicht?

VP: Sie hat mir das erst erzählt, nachdem ich ihr gesagt habe, dass ich in Österreich von der Polizei angehalten wurde.

LA: Haben sich mittlerweile ihre privaten Interessen bzw. ihre familiäre Situation geändert?

VP: Ich habe seit 3 Jahren eine Beziehung zu einer Frau, wir haben noch nicht geheiratet, weil ich keine Ledig Bestätigung aus dem Irak bekommen habe.

LA: Leben Sie jetzt mit ihr in einem Haushalt?

VP: Nein, weil ich habe ein Gewerbe beantragt habe und woanders arbeite, aber immer, wenn ich frei habe, dann gehe ich zu ihr.

LA: Was haben Sie in der Zwischenzeit unternommen um sich in Österreich zu integrieren?

VP: Ich habe ein Gewerbe am 22.01.2020 beantragt. Dieses wurde abgelehnt. Sie sagten, wenn ich ein Gewerbe und Aufenthalt bekomme, dann kann ich für eine Firma arbeiten. Ich arbeite für diese Firma.

LA: Mit welcher Arbeitsgenehmigung, wenn Sie derzeit gar nicht zum Aufenthalt berechtigt sind?

VP: die Firma hat gesagt, sobald ich das Gewerbe beantrage, bin ich selbständig und zahle meine Ausgaben und dann darf ich arbeiten.

LA: Arbeiten Sie derzeit offiziell?

VP: Ja, aber seitdem mich die Polizei mich aufgehalte hat und meinen Ausweis genommen hat, arbeite ich nicht. Ich hatte einen Dienstausweis von dieser Firma.

LA: Was hat das mit einem Dienstausweis zu tun, sie konnte doch trotzdem arbeiten?

VP: Ich muss eigentlich ein neues Gewerbe beantragen.

Das Bundesamt beabsichtigt, Ihren Asylantrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen. Dazu wird ihnen mitgeteilt, dass Sie eine Verfahrensanordnung gem. § 29 Asylgesetz 2005 und § 52a (2) BFA-VG erhalten haben.

F: Wollen Sie konkrete Gründe nennen, die dem entgegenstehen?

A: Ich hoffe, dass dieser Antrag nicht abgelehnt und möchte wie ein Mensch hier in Österreich leben. Wie gesagt, ich habe eine Beziehung zu meiner Freundin, seit 3 Jahren und ich kann sie nicht einmal für einen Tag verlassen. Sie können auch meinen Chef anrufen und der wird die Arbeitszusage bestätigen. Ich möchte wie mein Liebling hierleben. Bitte um eine Chance. Ich bin sehr gut integriert in Österreich und fühle mich zu dieser Heimat.

LA: Sie hatten die Möglichkeit, Einsicht in die Quellen der Berichte zu ihrem Heimatland Irak nehmen zu können, möchten Sie Stellung dazu nehmen?

VP: Ich brauche es nicht, weil mein Problem ist im Irak persönlich.

LA: Wurden auch tatsächlich die Länderfeststellungen zum Irak übermittelt, da in einem der Schriftstücke irrtümlich Pakistan stand?

VP: Ja, ich habe diese schon zuhause.

Vorhalt: Ihnen wurde im Vorverfahren eine Frist von 2 Wochen für eine freiwillige Ausreise gewährt, dieser sind Sie nicht nachgekommen. Zudem ergibt sich aus der Aktenlage, dass Sie seit ihrer Einreise in das österreichische Bundesgebiet fast ausschließlich aus Mitteln der Öffentlichen Hand leben.

Aus diesem Grund ist beabsichtigt, gegen Sie ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot zu erlassen. Sie könne jetzt dazu Stellung nehmen.

VP: Ich kann Österreich nicht verlassen, weil ich eine Frau hier habe, die ich liebe. Ich habe auch 2 Schwestern.

Frage an den Rechtsberater: Haben Sie Vorbringen oder Fragen?

Der Rechtsberater hat keine Frage:

LA: Hat der Dolmetsch alles, was Sie gesagt haben, richtig und vollständig rückübersetzt?

VP: Ja.

[…]“

Mit Bescheid vom 08.04.2019 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 28.10.2020

hinsichtlich des Status als Asyl- und subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 68 Absatz 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51/1991 idgF. wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihr gemäß § 57AsylG nicht erteilt.

Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen.

Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig ist.

Gemäß § 55 Absatz 1a FPG besteht keine Frist für die freiwillige Ausreise.

Gem. § 53 Abs 1 iVm Abs 2 Z 6 FPG wurde ein Einreiseverbot für die Dauer von 2 Jahren erlassen.

Dagegen wurde innerhalb offener Frist durch den Rechtsfreund der bP Beschwerde erhoben. Moniert wird im Wesentlichen:

?        Die bP habe immer noch die gleichen Fluchtgründe; zusätzlich würden nun aber die Brüder der Ex-Ehefrau des Bruders nach ihr suchen, diese würden der schiitischen Miliz angehören und sei ihr nun bewusst, dass diese für seine Entführung im Irak verantwortlich seien.

?        Die bP habe eine subs. schutzberechtigte Freundin in Österreich.

?        Die Lage in Bagdad sei derart gefährlich, dass bereits die Anwesenheit eine ernsthafte Gefährdung nach sich ziehen würde.

Gegen die Beweiswürdigung wird eingewendet:

?        Als neuer objektiver Sachverhalt habe sich ergeben, dass die bP nun von den Brüdern der Ex-Ehefrau des Bruders gesucht werde; sie würde keinen Schutz erlangen können.

?        Die Behörde hätte prüfen müssen, ob dieses neue Vorbringen einen glaubhaften Kern aufweise und sich nicht damit begnügen, dass das darauf fußende Vorbringen schon im Vorverfahren nicht glaubhaft gemacht werden konnte.

?        Die Versorgungs- und Sicherheitslage habe sich seit Covid-19 verschlechtert.

?        Die Behörde habe das schützenswerte Familienleben nicht ordentlich berücksichtigt.

Gegen das Einreiseverbot wird vorgebracht, dass die bP zwar nicht fristgerecht ausgereist sei, jedoch habe der Arbeitgeber um eine Arbeitsgenehmigung angesucht und habe der bP mitgeteilt, dass sie bis dahin arbeiten könne.

Von der bP gehe keine Gefährdung aus und sei sie bisher unbescholten.

Bescheinigungsmittel oder konkrete Beweisanbote zum Bescheinigen des vom Bundesamt nicht als glaubhaft erachteten neuen Vorbringens enthält die Beschwerde nicht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

Das Bundesamt traf auf Grund des Ermittlungsverfahrens nachfolgende Feststellungen, denen sich das BVwG anschließt:

„[..]

-        zu Ihrer Person:

Ihre Identität steht fest.

Sie sind Staatsangehöriger des Irak.

Sie sind volljährig.

Sie leiden an keinen schweren, lebensbedrohenden Krankheiten und sind nicht immungeschwächt.

-        zu Ihren Vorverfahren:

Sie brachten am 08.07.2015 beim Bundesamt einen Antrag auf internationalen Schutz ein, der mit Bescheid des Bundesamtes, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 04.07.2017, VZ 150808935 gem. § 3,8 AsylG 2005 abgewiesen wurde. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen wurde Ihnen gem. §§ 57 AsylG nicht erteilt. Gegen Sie wurde eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Zi 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 erlassen und es wurde festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gem. § 46 FPG zulässig ist. Ihnen wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt. Eine dagegen eingebrachte Beschwerde wurde mit mündlich verkündetem Erkenntnis am 21.08.2019 abgewiesen, die schriftliche Ausfertigung erfolgte mit Erkenntnis des BVwG vom 06.09.2019, GZ: L521 2166636-3/21E.

-        zu den Gründen für Ihren neuen Antrag auf internationalen Schutz:

Sie brachten im neuerlichen Asylverfahren keine asylrelevanten Gründe vor bzw. ergab sich kein neuer objektiver Sachverhalt.

-        zu Ihrem Privat- und Familienleben:

Ihre zwei Schwestern XXXX , XXXX geb und XXXX , XXXX geb., leben nach wie vor in Österreich.

Sie haben seit 2017 eine Beziehung mit XXXX , 10.10.1985 geb., diese ist syrische Staatsangehörige und in Österreich subsidiär Schutzberechtigt. Ein gemeinsamer Haushalt liegt nicht vor.

Der Aufenthalt ihres Bruders XXXX (1090039909) ist Ihnen nicht bekannt.

Ihnen wurde im Falle einer Gewerbeanmeldung ein Arbeitsplatz zugesichert.

Sie lebten vorwiegend von der Grundversorgung.

Sie wurden hier in Österreich bei der Schwarzarbeit betreten.

Sie sind strafrechtlich unbescholten.

Ihr Aufenthalt in Österreich war niemals als sicher anzusehen.

Ihr Privat- und Familienleben hat sich seit Rechtskraft ihres Vorverfahrens nicht geändert.

Unter Beachtung sämtlicher bekannten Tatsachen kann kein unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 8 erkannt werden.

-        zu den Gründen für die Erlassung des Einreiseverbots:

Fest steht, dass Sie die in ihrem Vorverfahren gewährte Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung nicht eingehalten haben und sich durch Untertauchen dem Verfahren und somit fremdenpolizeilicher Maßnahmen entzogen. Sie haben somit eine behördliche Anordnung nicht Folge geleistet und diese gröblich missachtet.

Zudem lebten Sie seit ihrer Einreise in das österreichische Bundesgebiet aus Mitteln der öffentlichen Hand, bzw. haben sich durch Untertauchen freiwillig in die Mittellosigkeit begeben. Eine auf gesetzliche Bestimmungen basierende Bewilligung zur Aufnahme einer Beschäftigung, wie sie regelmäßig der Lebenssicherung (Nahrung und Obdach) dient, haben Sie derzeit nicht. Sie können daher den Besitz von Mitteln zu Ihrem Unterhalt nicht nachweisen.

Sie wurden am 04.10.2020 im Zuge einer fremdenpolizeilichen Kontrolle dabei betreten, als Sie auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle in einem Restaurant als Tellerwäscher und Reinigungskraft waren, für welches Sie keine Beschäftigungsbewilligung haben.

[…]“

Zur Lage in im Herkunftsstaat Irak gibt die Behörde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand 17.03.2020 wieder:

1        Politische Lage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

1.1     Parteienlandschaft

[…]
2          Sicherheitslage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

2.1     Islamischer Staat (IS)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

2.2     Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).

(ACCORD 26.2.2020)

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).


(IBC 2.2020)

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

2.3     Sicherheitslage Bagdad

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]

2.4     Sicherheitslage in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

[…]
2.5          Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

[…]
2.6          Sicherheitslage Südirak

[…]
3          Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).

Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).

Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).

Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).

Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).

3.1     Rechtsschutz / Justizwesen in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

[…]
4          Sicherheitskräfte und Milizen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).

Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).

Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).

4.1     Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).

4.2     Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werde

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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