TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/26 W208 2000148-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.11.2020
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Entscheidungsdatum

26.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs2 Z2
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs2

Spruch


W208 2000148-2/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ewald SCHWARZINGER über die Beschwerde von XXXX , geboren XXXX , Staatsangehörigkeit IRAN, vertreten durch VEREIN MENSCHENRECHTE ÖSTERREICH, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des BUNDESAMTES FÜR FREMDENWESEN UND ASYL, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 10.03.2020, Zl. 830835209/180732057, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der damals 21-jährige Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) hat nach legaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 19.06.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde) vom 11.12.2013, Zl. 1308.352-BAL, wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF in Bezug auf die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (BGBl. I Nr. 100/2005 idgF (AsylG 2005) abgewiesen; ebenso wurde der Antrag in Bezug auf die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen und der BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in den IRAN ausgewiesen.

3. Gegen diesen Bescheid erhob der BF am 20.03.2013 gegen alle Spruchpunkte Beschwerde.

4. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (in der Folge: BVwG) vom 13.01.2015, GZ. L512 2000148-1/24E, gab dieses der Beschwerde des BF nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 16.09.2014 statt und erkannte dem BF gemäß § 3 AsylG 2005 den Status des Asylberechtigten zu.

Dabei stellte das erkennenden Gericht fest, dass die Familie des BF eine politische aktive Familie sei. Der Onkel des BF, der in Österreich lebe, sei Obmann der kurdischen Exilgemeinde in Österreich sowie Mitglied der demokratischen Partei Kurdistan. Der BF, dessen Vater und dessen Onkel seien im und außerhalb des Irans gegen das islamische Regime. Daher könne im Falle einer Rückkehr in den Iran und im Hinblick auf die dort aktuell herrschende Lage zum Entscheidungszeitpunkt nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in den Iran, Opfer von den iranischen Staat zurechenbaren Organen werde. Das Erkenntnis zu GZ. L512 2000148-1/24E erwuchs in Rechtskraft.

5. Am 01.08.2018 wurde die belangte Behörde vom Landesgericht XXXX (in der Folge: LG) von der Verhängung der Untersuchungshaft gegen den BF wegen §§ 15, 202 Abs. 1, 218 Abs. 1a StGB verständigt.

6. Mit Aktenvermerk der belangten Behörde vom 03.08.2018 wurde im gegenständlichen Fall ein Verfahren zur Aberkennung des Flüchtlingsstatus eingeleitet.

7. Am 11.09.2018 (1. Niederschrift/JA XXXX ) wurde der BF von der belangten Behörde, in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi, im Gegenstand einvernommen und in Kenntnis gesetzt, dass seine Straftat ein Ausschlussgrund für Asyl sei. Er wurde dabei zu seinen persönlichen Lebensumständen sowie seinem Privat- und Familienleben befragt.

Er legte in diesem Zusammenhang dar, dass er seit 10 Jahren an einer Depression leide. Er sei deswegen in den ersten sechs Monaten seines Aufenthaltes in Österreich in Behandlung gewesen. Danach sei er aus Kostengründen nicht mehr in Behandlung gewesen. Derzeit sei er ebenfalls in keiner Behandlung. Er nehme momentan keine Medikamente. Ansonsten sei er gesund.

In Österreich habe er keine Ausbildung absolviert. Als er noch in Wien gelebt habe, habe er sieben Monate in einer Schank gearbeitet. In XXXX habe er eine Woche in einer Burger King Filiale und zwei Wochen im Lager bei einer namentlich genannten Firma gearbeitet. Dann sei er festgenommen worden. Er habe von diesen Tätigkeiten leben können.

Im Heimatland habe er noch seine Mutter, seine Schwester, drei Onkeln und zwei Tanten. Im Iran habe die Familie viele Landwirtschaftsgründe und davon lebe seine Mutter. Mit seiner Mutter bzw. Schwester habe er zwei- bis dreimal wöchentlich Kontakt.

In Österreich habe er eine Schwester, zwei Onkeln und einen Cousin mütterlicherseits, die in XXXX leben würden. Mit ihnen habe er regelmäßigen engeren Kontakt. In Österreich habe er keine Freunde. Er habe generelle keine Freunde.

Zu seiner verhängten Untersuchungshaft befragt, führte er aus, dass der Verdacht der teils versuchten geschlechtlichen Nötigung und der sexuellen Belästigung sowie öffentlichen geschlechtlichen Handlungen in insgesamt zehn Fällen zutreffend sei. Er habe seit Oktober 2017 mit den Handlungen begonnen und bereue es. Er habe im Oktober 2017 seine Arbeit und seine Wohnung verloren. Er komme manchmal in eine Situation, wo er impulsiv werde und Sachen mache, die er normalerweise nicht machen würde. Als er im Oktober 2017 mit den Handlungen begonnen habe, habe sich eine Sucht entwickelt. Als er nach XXXX umgezogen sei, habe er einen Neuanfang wollen. Er habe aber nicht damit aufhören können, diese Taten auszuüben. Daran sei seine Depression schuld. Dies habe ihm auch sein Gutachter bestätigt. Es tue ihm sehr leid und er bereue es. Sein Ziel sei es, sich nach seiner Entlassung behandeln zu lassen und die richtigen Medikamente gegen seine Depression zu finden.

Auf die Frage, was gegen eine Rückkehr in den Iran sprechen würde, führte er aus, dass er im Iran verfolgt werde. Wenn er in den Iran zurückkehren müsse, dann werde er verhaftet.

Verständigungsprobleme lagen keine vor, die Rückübersetzung wurde als korrekt bezeichnet.

8. Mit rechtskräftigem Urteil des LG XXXX vom 18.11.2019, XXXX wurde der BF der (teils versuchten) Verbrechen der geschlechtlichen Nötigung (§§ 202 Abs.1, 15 Abs.1 StGB) sowie der Vergehen der sexuellen Belästigung und öffentlichen geschlechtlichen Handlung (§ 218 Abs.1a StGB) schuldig erkannt und rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Des Weiteren wurde gemäß § 21 Abs. 2 StGB eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet.

Der BF habe seine Opfer mit Gewalt zur Duldung einer geschlechtlichen Handlung genötigt oder zu nötigen versucht, indem er

1.       am 09.03.2018 eine Frau im Bereich der Hüfte packte, in Richtung einer Haustüre drückte und ihr von hinten mit der Hand zwischen die Beine griff;

2.       am 21.05.2018 eine Frau von hinten an den Schultern und im Brustbereich festhielt und auf ihre Brust und ihren Schambereich griff;

3.       am 01.07.2018 eine Frau am Arm erfasste, unterhalb der Brust festhielt und versuchte, mit der Hand ihren Rock nach unten zu ziehen, wobei es infolge Gegenwehr des Opfers beim Versuch blieb;

4.       am 04.07.2018 eine Frau am Halsbereich packte und mit der anderen Hand auf ihr Gesäß und ihren Schambereich griff;

5.       am 07.07.2018 eine Frau von hinten packte, mit der Hand gegen ihren Genitalbereich griff, ihr mit der anderen Hand den Mund zuhielt und versuchte, sie in Richtung eines Gebüsches zu drängen;

6.       am 14.07.2018 eine Frau ergriff und in Richtung einer Hecke zu ziehen versuchte, auf ihr Gesäß griff und in ihren Schambereich zu greifen versuchte;

7.       am 19.07.2018 eine Frau von hinten festhielt und auf ihr Gesäß griff, wobei es infolge Gegenwehr des Opfers beim Versuch blieb und am

8.       21.07.2018 eine Frau von hinten am Hals umklammerte und mit der anderen Hand unter ihren Rock auf ihren Schambereich griff.

Des weiteren habe der BF, Personen durch intensive Berührung von der Geschlechtssphäre zuzuordnenden Körperstellen in ihrer Würde verletzt, indem er

1.       am 04.06.2018 eine Frau, indem er ihr auf das Gesäß, auf die Brust und zwischen die Beine griff;

2.       am 10.03.2019 eine Frau, indem er ihren Mantel hochschob und fest auf ihr Gesäß griff.

Den Feststellungen des Gerichtes ist zu entnehmen, dass mildernd seine bisherige Unbescholtenheit, die überwiegend geständige Verantwortung, der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, die Minderung der Dispositionsfähigkeit infolge eines zwanghaften Verhaltens und die vorliegende geistige Abnormität höheren Grades gewertet worden ist. Dagegen ist der lange Tatzeitraum, das Zusammentreffen von zahlreichen Verbrechen und Vergehen, die Tatbegehung während bereits anhängigem Strafverfahren und der Eintritt einer psychischen Körperverletzung bei den Opfern als erschwerend gewertet worden.

9. Bei der erneuten Befragung am 28.02.2020 (2. Niederschrift/JA XXXX ) gab der BF an, dass er momentan Antidepressiva und Stimmungsstabilisatoren zu sich nehme. Bezüglich seiner familiären Beziehungen in seinem Heimatland und in Österreich wiederholte der BF seine Ausführungen der ersten Niederschrift vom 11.09.2018.

Zu seinem Leben im Iran vor seiner Ausreise befragt, gab er an, dass es sehr schwer dort gewesen sei. Er stamme von einer politischen Familie. Deswegen sei er auch immer unter polizeilicher Beobachtung gestanden. Er sei mit der Regierung nicht zufrieden gewesen. Das sei auch der Grund gewesen, dass er den Iran verlassen habe. Im Iran habe er die Schule mit Matura abgeschlossen und anschließend vier Jahre lang Geographie studiert und mit dem Bachelor abgeschlossen. Nebenbei habe er als Kellner und Servicekraft gearbeitet. In Österreich habe er als Servicekraft bei einem Heurigen in Wien und als Lagerarbeiter in einer Firma in XXXX gearbeitet. Des weiteren habe er einige Deutschkurse sowie einige Kurse beim AMS gemacht.

Zu seiner Verurteilung des LG XXXX vom 18.11.2018 befragt, führte er aus, dass er in Österreich ein ruhiges und anständiges Leben führen habe wollen. Als er Ende 2017 seine Arbeit und seine Wohnung verloren habe, habe er in einer Notschlafstelle geschlafen. In dieser Zeit habe sein Verhalten begonnen. Er sei wegen sexueller Nötigung und versuchter Vergewaltigung verurteilt worden, er habe die Opfer jedoch nur sexuell belästigt, wie zum Beispiel Po-Begrapschen. Er wolle jedoch nicht sagen, dass sexuelle Belästigung besser wäre, er leide jedoch auch selber darunter. Er habe auch Gutachter gehabt, die bei ihm eine Sexualstörung diagnostiziert hätten. Er sehe es mittlerweile positiv, dass er in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht werde, weil er niemanden verletzen wolle. Er werde dort die entsprechenden therapeutischen Behandlungen bekommen. Es tue ihm leid, dass die Opfer sehr verängstigt und verschreckt gewesen seien. Er habe diese Taten nicht gemacht, weil er einen Hass gegenüber Frauen habe, sondern aufgrund seines psychischen Zustandes. Er wolle wieder ein stabiles Leben haben und nicht mehr ins Gefängnis kommen. Er leide sehr an seinem schlechten Gewissen und Schuldgefühlen.

Ein solches Verhalten habe er bereits im Iran gezeigt. Dort habe er bei Menschenversammlungen versucht, Körperkontakt zu Frauen zu haben.

Er habe eine Form von Depression, die man bipolare Störung nennt. Er nehme seit Oktober 2018 Medikamente dagegen. Seitdem gehe es ihm viel besser.

Verständigungsprobleme lagen keine vor, die Rückübersetzung wurde als korrekt bezeichnet.

10. Die belangte Behörde hat mit Bescheid vom 10.03.2020 dem BF den mit Erkenntnis vom 13.01.2015 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Absatz 1 Z 2 AsylG dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 8 Abs. 3a AsylG iVm § 9 Abs. 2 AsylG und 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in den IRAN unzulässig ist (Spruchpunkt V.) und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs.1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Tragende Begründung war, dass das vom BF begangene Verbrechen der geschlechtlichen Nötigung nach § 201 Abs. 1 StGB ein besonders schweres Verbrechen darstelle. Die Straftat der geschlechtlichen Nötigung richte sich im Sinne der von der belangten Behörde zitierten Rechtsprechung massiv gegen das objektiv besonders wichtige Rechtsgut der sexuellen Integrität und Selbstbestimmung und stelle demgemäß typischerweise ein besonderes Verbrechen iSd § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG dar. Obwohl beim BF eine sexuelle Zwänglichkeit vorliege, welche ein tiefergreifendes Ausmaß erreicht habe, sei der BF nach dem vorliegenden Urteil des Strafgerichtes zum Zeitpunkt der Taten jedenfalls zurechnungsfähig gewesen. Es stehe zudem fest, dass der BF bereits des längeren über seine sexuelle Neigung Bescheid gewusst und bereits eine Vielzahl an Fällen verübt habe, jedoch aus eigener Initiative keinerlei Schritte zur Verhinderung dieses Verhaltens gesetzt habe.

Eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den IRAN sei unzulässig, da sich keine Hinweise ergeben hätten, die darauf schließen lassen würden, dass die vom BF vorgebrachten Verfolgungsgefährdung nicht mehr bestehe.

Hinsichtlich des auf sechs Jahren befristete Einreiseverbot habe die belangte Behörde festgestellt, dass der BF die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG durch die Verurteilung zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe erfüllt habe. Aufgrund der wiederholten Tatausübung und in Anbetracht seiner mangelnden Eigeninitiative, derartige Vorfälle in Zukunft zu verhindern, bestehe eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit.

Die belangte Behörde gehe davon aus, dass der BF durch sein Verhalten eine Gefahr für die Gemeinschaft darstelle. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der BF in Zukunft keine weiteren derartigen strafbaren Handlungen bzw. Verstöße gegen die österreichische Rechtsordnung begehen werde.

11. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Hilfe einer Rechtsberatungsorganisation am 31.03.2020 Beschwerde ein. Dabei führte er aus, dass der Strafrahmen des vom BF vollendeten Delikts sich zwischen fünf Monate und fünf Jahre bewege. Der BF sei zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren rechtskräftig verurteilt worden. Je näher die verhängte Freiheitsstrafe zur Höchststrafe liege, desto eher liege ein schweres Verbrechen vor. Der BF sei bisher unbescholten gewesen und es habe sich um seine erstmalige Verurteilung gehandelt. Einige seiner Taten seien beim Versuch geblieben. Er sei geständig und habe sich bei den Einvernahmen mehrmals entschuldigt. Er habe eingesehen, dass er an einer bipolaren Störung des Sexualverhaltens leide und gegen diese Neigung vorgehen müsse. Ob es sich bei den vom BF begangen Taten um schwere Verbrechen handle sei fraglich und müsse fallbezogen überprüft werden. Dabei seien auf Milderungs- Schuldausschließungs- und Rechtfertigungsgründe Bedacht zu nehmen. Der BF habe unter Einfluss einer geistig oder seelischen Abartigkeit höheren Grades die Taten begangen. Er nehme nun regelmäßig Medikamente ein und sei bemüht sowie gewillt sich behandeln zu lassen.

12. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG am 09.04.2020 von der belangten Behörde vorgelegt und die Abweisung der Beschwerde beantragt.


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

1.       Feststellungen

1.1. Zur Person und ihrem Netzwerk

Der BF führt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX in der Provinz West-Aserbaidschan, Stadt XXXX geboren. Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Iran und Angehöriger der Volksgruppe der Kurden. Er bekennt sich zu keiner Religion. Er ist ledig und kinderlos.

Seine Muttersprache ist Farsi, außerdem spricht er noch Kurdisch, und verfügt über Deutschkenntnisse über dem Niveau B1.

Der BF reiste legal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 19.06.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 11.12.2013, GZ: 1308.352-BAL, wurde dieser Antrag abgewiesen. Mit Erkenntnis des BVwG vom 13.01.2015, Zl. L512 2000148-1/24E wurde die dagegen erhobene Beschwerde des BF Folge gegeben und dem BF der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Der BF hat im Iran zwölf Jahre lang eine Schule besucht und mit Matura abgeschlossen. Anschließend hat er im Iran vier Jahre lang Geographie studiert. Während seiner Studienzeit hat er als Kellner gearbeitet.

Der BF hat folgende Angehörige im Iran, mit denen er in Kontakt steht (2. und 3. Niederschrift): Seine Mutter und seine Schwester.

Des weiteren verfügt der BF über drei Onkeln mütterlicherseits und zwei Tanten, welche allesamt im Iran leben. Zudem hat er einen Onkel väterlicherseits, welcher in England lebt, einen Cousin väterlicherseits, der in Deutschland lebt und einen Cousin mütterlicherseits, der in Norwegen lebt.

1.2. Zum Leben in Österreich:

Der BF befand sich vom 29.07.2018 bis 16.10.2018 und vom 17.04.2019 bis 18.11.2019 in Untersuchungshaft und ist seit dem in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht.

Der BF leidet an einer bipolaren Störung, einer selbstunsicheren ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung, einer sozialen Phobie und einer sonstigen Störung des Sexualverhaltens in Richtung Toucheurismus vorliegt, wobei seine sexuelle Zwänglichkeit ein tiefergehendes Ausmaß erreicht hat.

Es wird festgestellt, dass beim BF von einem hohen Rückfallrisiko auszugehen ist.

In Österreich leben eine Schwester sowie zwei Onkeln mütterlicherseits mit deren Familie, zu denen der BF einen regelmäßigen Kontakt pflegt. Der BF lebt hier in keiner Lebensgemeinschaft. Der BF ist in Österreich kein Mitglied eines Vereines oder einer anderen Organisation.

Der BF ging vor seiner Strafhaft gelegentlich und jeweils nur für einen kurzen Zeitraum einer Beschäftigung nach. Ansonsten bestritt er seinen Lebensunterhalt von Sozialleistungen. Der BF ist arbeits- und selbsterhaltungsfähig.

Der BF hat AMS- sowie Deutschkurse besucht und sich Deutschkenntnisse B1 angeeignet.

Der BF hat in Österreich keine Freunde. Es liegt kein besonderes Abhängigkeits- oder Naheverhältnis von bzw. zu Personen in Österreich vor.

1.3. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten:

Mit Urteil des LG XXXX vom 18.11.2019, XXXX wurde der BF wegen §§ 202 Abs. 1, 15 Abs. 1 StGB sowie § 218 Abs. 1a StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von zwei Jahren verurteilt. Des Weiteren wurde gegen den BF gemäß § 21 Abs. 2 StGB eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet.

Der BF wurde für schuldig erkannt namentlich genannte Personen mit Gewalt zur Duldung einer geschlechtlichen Handlung genötigt oder zu nötigen versucht zu haben, indem er

1.       am 09.03.2018 eine Frau im Bereich der Hüfte packte, in Richtung einer Haustüre drückte und ihr von hinten mit der Hand zwischen die Beine griff;

2.       am 21.05.2018 eine Frau von hinten an den Schultern und im Brustbereich festhielt und auf ihre Brust und ihren Schambereich griff;

3.       am 01.07.2018 eine Frau am Arm erfasste, unterhalb der Brust festhielt und versuchte, mit der Hand ihren Rock nach unten zu ziehen, wobei es infolge Gegenwehr des Opfers beim Versuch blieb;

4.       am 04.07.2018 eine Frau am Halsbereich packte und mit der anderen Hand auf ihr Gesäß und ihren Schambereich griff;

5.       am 07.07.2018 eine Frau von hinten packte, mit der Hand gegen ihren Genitalbereich griff, ihr mit der anderen Hand den Mund zuhielt und versuchte, sie in Richtung eines Gebüsches zu drängen;

6.       am 14.07.2018 eine Frau ergriff und in Richtung einer Hecke zu ziehen versuchte, auf ihr Gesäß griff und in ihren Schambereich zu greifen versuchte;

7.       am 19.07.2018 eine Frau von hinten festhielt und auf ihr Gesäß griff, wobei es infolge Gegenwehr des Opfers beim Versuch blieb und am

8.       21.07.2018 eine Frau von hinten am Hals umklammerte und mit der anderen Hand unter ihren Rock auf ihren Schambereich griff.

Der BF wurde weiters für schuldig erkannt, durch intensive Berührung von der Geschlechtssphäre zuzuordnenden Körperstellen folgende Genannte in ihre Würde verletzt zu haben, indem er

1.       am 04.06.2018 eine Frau auf das Gesäß, auf die Brust und zwischen die Beine griff;

2.       am 10.03.2019 einer Frau den Mantel hochschob und fest auf ihr Gesäß griff.

Der BF hat hierdurch das Verbrechen der geschlechtlichen Nötigung, teils lediglich versucht, nach §§ 202 Abs. 1, 15 Abs. 1 StGB sowie das Vergehen der sexuellen Belästigung und öffentlichen geschlechtlichen Handlung gemäß § 218 Abs. 1a StGB in objektiver und subjektiver Hinsicht begangen.

Das LG XXXX stellte als erschwerend das Zusammentreffen von zahlreichen Verbrechen und Vergehen, den langen Tatzeitraum, die Tatbegehung während bereits anhängigen Strafverfahrens sowie der Eintritt einer psychischen Körperverletzung bei den Opfern fest. Als mildernd wurde seine bisherige Unbescholtenheit, seine überwiegend geständige Verantwortung, der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, die Minderung seiner Dispositionsfähigkeit infolge seines zwanghaften Verhaltens sowie die vorliegende geistige Abnormität höheren Grades gewertet.

Die vom BF begangenen Handlungen stellen bei einer Gesamtbetrachtung ein besonders schweres Verbrechen dar.

Der BF ist aufgrund der Schwere seiner Straftat und seines Persönlichkeitsbildes als Gefahr für die Gemeinschaft einzuschätzen.


1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat

Das BVwG trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

1.4.1. Auszug bzw. Zusammenfassung aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 19.06.2020:

Politische Lage:

Iran ist seit 1979 eine Islamische Republik (AA 4.3.2020b). Das Staatssystem beruht auf dem Konzept der „velayat-e faqih“, der Stellvertreterschaft des Rechtsgelehrten. Dieses besagt, dass nur ein herausragender Religionsgelehrter in der Lage sei, eine legitime Regierung zu führen, bis der Imam, die eschatologische Heilsfigur des schiitischen Islam, am Ende der Zeit zurückkehren und ein Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeit einleiten werde. Dieser Rechtsgelehrte ist das Staatsoberhaupt Irans mit dem Titel „Revolutionsführer“ (GIZ 2.2020a; vgl. BTI 2020). Der Revolutionsführer (auch Oberster Führer) ist seit 1989 Ayatollah Seyed Ali Hosseini Khamenei. Er steht noch über dem Präsidenten (ÖB Teheran 10.2019; vgl. US DOS 11.3.2020). Er wird von einer Klerikerversammlung (Expertenrat) auf Lebenszeit gewählt, ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte (AA 4.3.2020a; vgl. FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020) und wesentlich mächtiger als der Präsident. Des weiteren unterstehen ihm unmittelbar die Revolutionsgarden (Pasdaran oder IRGC), die mehrere Millionen Mitglieder umfassenden, paramilitärischen Basij-Milizen und die gesamte Judikative. Für die entscheidenden Fragen ist letztlich der Oberste Führer verantwortlich (ÖB Teheran 10.2019; vgl. FH 4.3.2020). Obwohl der Revolutionsführer oberste Entscheidungsinstanz und Schiedsrichter ist, kann er zentrale Entscheidungen nicht gegen wichtige Machtzentren treffen. Politische Gruppierungen bilden sich um Personen oder Verwandtschaftsbeziehungen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen (z.B. Klerus). Diese Zugehörigkeiten und Allianzen unterliegen dabei einem ständigen Wandel. Reformorientierte Regimekritiker sind weiterhin starken Repressionen ausgesetzt (AA 26.2.2020). Das iranische Regierungssystem ist ein semipräsidiales: an der Spitze der Regierung steht der vom Volk für vier Jahre direkt gewählte Präsident. Amtsinhaber ist seit 2013 Hassan Rohani, er wurde im Mai 2017 wieder gewählt (ÖB Teheran 10.2019). Der Präsident ist, nach dem Revolutionsführer, der zweithöchste Beamte im Staat (FH 4.3.2020). Er steht der Regierung vor, deren Kabinett er ernennt. Die Kabinettsmitglieder müssen allerdings vom Parlament bestätigt werden. Der Präsident ist der Leiter der Exekutive. Zudem repräsentiert er den Staat nach außen und unterzeichnet internationale Verträge. Dennoch ist seine faktische Macht beschränkt, da der Revolutionsführer in allen Fragen das letzte Wort hat bzw. haben kann (GIZ 2.2020a). Ebenfalls alle vier Jahre gewählt wird das Einkammerparlament, genannt Majles, mit 290 Abgeordneten, das gewisse legislative Kompetenzen hat und Ministern das Vertrauen entziehen kann (ÖB Teheran 10.2019). Hauptaufgabe des Parlaments ist die Ausarbeitung neuer Gesetze, die von der Regierung auf den Weg gebracht werden. Es hat aber auch die Möglichkeit, selbst neue Gesetze zu initiieren. Die letzten Parlamentswahlen fanden im Februar 2020 statt (GIZ 2.2020a). Während bei der Parlamentswahl 2016 die Reformer und Moderaten starke Zugewinne erreichen konnten (ÖB Teheran 10.2019), drehte sich dies bei den letzten Parlamentswahlen vom Februar 2020 und die Konservativen gewannen diese Wahlen. Erstmals seit der Islamischen Revolution von 1979 lag die Wahlbeteiligung unter 50%. Zahlreiche Anhänger des moderaten Lagers um Präsident Hassan Rohani hatten angekündigt, der Wahl aus Enttäuschung über die politische Führung fernzubleiben. Tausende moderate Kandidaten waren zudem von der Wahl ausgeschlossen worden (DW 23.2.2020).

Entscheidende Gremien sind des Weiteren der vom Volk direkt gewählte Expertenrat mit 86 Mitgliedern, sowie der Wächterrat mit zwölf Mitgliedern (davon sind sechs vom Obersten Führer ernannte Geistliche und sechs von der Judikative bestimmte Juristen). Der Expertenrat ernennt den Obersten Führer und kann diesen (theoretisch) auch absetzen. Der Wächterrat hat mit einem Verfassungsgerichtshof vergleichbare Kompetenzen (Gesetzeskontrolle), ist jedoch wesentlich mächtiger. Ihm obliegt u.a. auch die Genehmigung von Kandidaten bei allen nationalen Wahlen (ÖB Teheran 10.2019; vgl. GIZ 2.2020a, FH 4.3.2020, BTI 2020). Der Wächterrat ist somit das zentrale Mittel zur Machtausübung des Revolutionsführers (GIZ 2.2020). Des weiteren gibt es noch den Schlichtungsrat. Er vermittelt im Gesetzgebungsverfahren und hat darüber hinaus die Aufgabe, auf die Wahrung der „Gesamtinteressen des Systems“ zu achten (AA 4.3.2020a; vgl. GIZ 2.2020a). Er besteht aus 35 Mitgliedern, die vom Revolutionsführer unter Mitgliedern der Regierung, des Wächterrats, des Militärs und seinen persönlichen Vertrauten ernannt werden. Die Interessen des Systems sind unter allen Umständen zu wahren und der Systemstabilität wird in der Islamischen Republik alles untergeordnet. Falls nötig, können so in der Islamischen Republik etwa auch Gesetze verabschiedet werden, die der Scharia widersprechen, solange sie den Interessen des Systems dienen (GIZ 2.2020a).

Die Basis des Wahlsystems der Islamischen Republik sind die Wahlberechtigten, also jeder iranische Bürger ab 16 Jahren. Das Volk wählt das Parlament, den Präsidenten sowie den Expertenrat (GIZ 2.2020a) in geheimen und direkten Wahlen (AA 26.2.2020). Das System der Islamischen Republik kennt keine politischen Parteien. Theoretisch tritt jeder Kandidat für sich alleine an. In der Praxis gibt es jedoch Zusammenschlüsse von Abgeordneten, die westlichen Vorstellungen von Parteien recht nahe kommen (GIZ 2.2020a; vgl. AA 4.3.2020a). Das iranische Wahlsystem entspricht nicht internationalen demokratischen Standards. Der Wächterrat, der von konservativen Hardlinern und schlussendlich auch vom Obersten Rechtsgelehrten Khamenei kontrolliert wird, durchleuchtet alle Kandidaten für das Parlament, die Präsidentschaft und den Expertenrat. Üblicherweise werden Kandidaten, die nicht als Insider oder nicht vollkommen loyal zum religiösen System gelten, nicht zu Wahlen zugelassen. Bei Präsidentschaftswahlen werden auch Frauen aussortiert. Das Resultat ist, dass die iranischen Wähler nur aus einem begrenzten und vorsortierten Pool an Kandidaten wählen können (FH 4.3.2020). Von den 1.499 Männern und 137 Frauen, die sich im Rahmen der Präsidentschaftswahl 2017 für die Kandidatur zum Präsidentenamt registrierten, wurden sechs männliche Kandidaten vom Wächterrat zugelassen. Frauen werden bei Präsidentschaftswahlen grundsätzlich als ungeeignet abgelehnt. Die Wahlbeteiligung 2017 betrug 73%. Unabhängige Wahlbeobachter werden nicht zugelassen. Ablauf, Durchführung sowie Kontroll- und Überprüfungsmechanismen der Wahlen sind in technischer Hinsicht grundsätzlich gut konzipiert (AA 26.2.2020). Auf Reformbestrebungen bzw. die wirtschaftliche Öffnung des Landes durch die Regierung Rohanis wird von Hardlinern in Justiz und politischen Institutionen mit verstärktem Vorgehen gegen „unislamisches“ oder konterrevolutionäres Verhalten reagiert. Es kann daher auch nicht von einer wirklichen Verbesserung der Menschenrechtslage gesprochen werden. Ein positiver Schritt Ende 2017 war die Aufhebung der Todesstrafe für die meisten Drogendelikte, was zu einer Halbierung der vollstreckten Todesurteile führte (ÖB Teheran 10.2019).

Sicherheitslage

Den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage im Iran auswirken. Die schwierige Wirtschaftslage und latenten Spannungen im Land führen periodisch zu Kundgebungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Preiserhöhungen oder mit (religiösen) Lokalfeiertagen und Gedenktagen. Dabei muss mit schweren Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Demonstranten gerechnet werden sowie mit Straßenblockaden. Zum Beispiel haben im November 2019 Proteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise Todesopfer und Verletzte gefordert (EDA 4.5.2020). Das Risiko von Anschlägen besteht im ganzen Land. Im Juni 2017 wurden in Teheran Attentate auf das Parlament und auf das Mausoleum von Ayatollah Khomeini verübt. Sie haben über zehn Todesopfer und zahlreiche Verletzte gefordert. Im September 2018 forderte ein Attentat auf eine Militärparade in Ahvaz (Provinz Khuzestan) zahlreiche Todesopfer und Verletzte (EDA 4.5.2020; vgl. AA 4.5.2020b). 2019 gab es einen Anschlag auf einen Bus der Revolutionsgarden in der Nähe der Stadt Zahedan (AA 4.5.2020b).

In den Grenzprovinzen im Osten und Westen werden die Sicherheitskräfte immer wieder Ziel von bewaffneten Überfällen und Anschlägen (EDA 4.5.2020). In diesen Minderheitenregionen kommt es unregelmäßig zu Zwischenfällen mit terroristischem Hintergrund. Die iranischen Behörden haben seit einiger Zeit die allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen im Grenzbereich zu Irak und zu Pakistan, aber auch in der Hauptstadt Teheran erhöht (AA 4.5.2020b). In der Provinz Sistan-Belutschistan (Südosten, Grenze zu Pakistan/Afghanistan) kommt es regelmäßig zu Konflikten zwischen iranischen Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppierungen. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt und es gibt vermehrte Sicherheits- und Personenkontrollen. Wiederholt wurden Ausländer in der Region festgehalten und längeren Verhören unterzogen. Eine Weiterreise war in manchen Fällen nur noch mit iranischer Polizeieskorte möglich. Dies geschah vor dem Hintergrund von seit Jahren häufig auftretenden Fällen bewaffneter Angriffe auf iranische Sicherheitskräfte in der Region (AA 4.5.2020b). Die Grenzzone Afghanistan, östliches Kerman und Sistan-Belutschistan, stehen teilweise unter dem Einfluss von Drogenhändlerorganisationen sowie von extremistischen Organisationen. Sie haben wiederholt Anschläge verübt und setzen teilweise Landminen auf Überlandstraßen ein. Es kann hier jederzeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften kommen (EDA 4.5.2020). In der Provinz Kurdistan und der ebenfalls von Kurden bewohnten Provinz West-Aserbaidschan gibt es wiederholt Anschläge gegen Sicherheitskräfte, lokale Repräsentanten der Justiz und des Klerus. In diesem Zusammenhang haben Sicherheitskräfte ihr Vorgehen gegen kurdische Separatistengruppen und Kontrollen mit Checkpoints noch einmal verstärkt. Seit 2015 kommt es nach iranischen Angaben in der Provinz Khuzestan und in anderen Landesteilen, auch in Teheran, wiederholt zu Verhaftungen von Personen, die mit dem sogenannten Islamischen Staat in Verbindung stehen und Terroranschläge in Iran geplant haben sollen (AA 4.5.2020b). Im iranisch- irakischen Grenzgebiet sind zahlreiche Minenfelder vorhanden (in der Regel Sperrzonen). Die unsichere Lage und die Konflikte in Irak verursachen Spannungen im Grenzgebiet. Gelegentlich kommt es zu Schusswechseln zwischen aufständischen Gruppierungen und den Sicherheitskräften. Bisweilen kommt es auch im Grenzgebiet zur Türkei zu Schusswechseln zwischen militanten Gruppierungen und den iranischen Sicherheitskräften (EDA 4.5.2020). Schmuggler, die zwischen dem iranischen und irakischen Kurdistan verkehren, werden mitunter erschossen, auch wenn sie unbewaffnet sind (ÖB Teheran 10.2019).

Verbotene Organisationen

Die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen kann zu staatlichen Zwangsmaßnahmen und Sanktionen führen. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder die islamischen Grundsätze infrage stellt. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der Islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden (AA 26.2.2020).

Zu den militanten separatistischen Gruppen in Iran zählen insbesondere die kurdisch-marxistische Komala(h)-Partei, die Democratic Party of Iranian Kurdistan (KDPI), die aus Belutschistan stammende Jundallah, und die Party for a Free Life in Kurdistan (PJAK), die eng mit ihrer Schwesterorganisation, der PKK, zusammenarbeitet (AA 26.2.2020). Die politischen Gruppierungen KDPI, Komala und PJAK sind im Untergrund aktiv (DIS/DRC 23.2.2018). Die PJAK gilt in Iran als Terrororganisation (ÖB Teheran 10.2019) und hat einen bewaffneten Flügel (AI 15.6.2018). Von Mai bis September 2016 wurden fast wöchentlich bewaffnete Konflikte zwischen kurdischen Guerillakräften und iranischen Sicherheitskräften gemeldet. In den letzten zehn Jahren hatte hauptsächlich die kurdische Partei PJAK militärische Operationen im Nordwesten des Iran durchgeführt. Seit Mai 2016 beteiligen sich auch andere kurdische Parteien (KDPI, KDP-I, PAK) an militärischen Operationen gegen iranische Sicherheitskräfte. Alle diese Parteien operieren von Militärbasen und Lagern im Nordirak aus. Die Revolutionsgarden haben im gleichen Zeitraum ihre Präsenz in der Region verstärkt und kurdische Dörfer sowohl auf iranischer als auch auf irakischer Seite angegriffen. Mitglieder und Unterstützer von KDPI und Komala werden im Allgemeinen härter behandelt als andere Aktivisten im kurdischen Raum. In der Regel unterscheiden die iranischen Behörden nicht zwischen Mitgliedern und Unterstützern der Parteien. Während die iranischen Behörden Personen, die verhaftet werden, beschuldigen, mit diesen Parteien verbunden zu sein, ist dies nicht immer der Fall. Familienmitglieder von Parteimitgliedern und Unterstützern laufen ebenfalls Gefahr, von den iranischen Behörden befragt, inhaftiert und verhaftet zu werden, um Druck auf Aktivisten auszuüben. Enge Familienmitglieder werden häufiger verhaftet als Mitglieder der Großfamilie (DIS 7.2.2020). Auch die Volksmudschahedin (MEK, MKO, PMOI) zählen zu den verbotenen Organisationen (AI 11.2.2019). Es scheint eher unwahrscheinlich, dass eine Person nur aufgrund einer einzigen politischen Aktivität auf niedrigem Niveau, wie z.B. dem Verteilen von Flyern, angeklagt wird, es ist aber schon möglich, dass man inhaftiert wird, wenn man mit politischem Material, oder beim Anbringen von politischen Slogans an Wänden erwischt wird. Es kommt darauf an, welche Art von Aktivität die Personen setzen. Andauernde politische Aktivitäten können in einer Anklage enden (DIS/DRC 23.2.2018).

[…]

PJAK - Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê (Partei für Freiheit und Leben in Kurdis- tan bzw. Partei für ein freies Leben Kurdistans)

Die PJAK begann in den späten 1990er Jahren als friedliche studentische Menschenrechtsorganisation. Es ging den Mitgliedern der Gruppierung anfangs um den Aufbau einer kurdischen Nationalidentität (BMI 2015; vgl. ACCORD 7.2015, DIS 7.2.2020), und man wollte die Assimilierung der Kurden durch die Zentralregierung verhindern. 2004 begannen die bewaffneten Angriffe auf die iranische Regierung von den Kandil-Bergen aus, von wo aus die PJAK bis heute operiert. Ebendort hat auch die PKK ihre Basen und die PJAK gilt als iranischer Ableger der PKK. Als Unterschied zur PKK gibt die PJAK selbst an, dass sie sich niemals gegen Zivilisten, sondern immer nur gegen ausschließlich iranische Regierungstruppen wendet bzw. gewandt hat. Die iranische Regierung hat die PJAK auch niemals diesbezüglich beschuldigt. Angaben über die Stärke der PJAK-Kämpfer sind schwierig. Schätzungen liegen zwischen 1.000 (JF 15.1.2018) und 3.000 Kämpfern (BMI 2015). Ein großer Teil der Kämpfer in Ostkurdistan sollen Frauen sein (TRAC o.D.; vgl. CRS 6.2.2020). Die PJAK ist zwischen einem Militärflügel, den ostkurdischen Verteidigungskräften (YRK), und dem politischen Flügel, der Demokratischen und Freien Gesellschaft Ostkurdistans (KODAR), aufgeteilt. Wie bei anderen PKK-Zweigen versucht die Gruppe angeblich, mit allen Iranern zusammenzuarbeiten, aber in der Praxis ist ihre Mitgliedschaft fast ausschließlich kurdisch. Während der militärische Flügel in den Kandil-Bergen stationiert ist, ist der politische Zweig in Europa und Irak ansässig (JF 15.1.2018) und operiert in Iran im Untergrund (DIS 7.2.2020). Der militärische Arm der PJAK führte von Anfang der 2000er Jahre bis 2011 eine sporadische Aufstandskampagne auf niedriger Ebene im Iran durch. Dabei wurden Dutzende iranische Sicherheitskräfte getötet, hauptsächlich bei Operationen in und um Städte mit kurdischer Mehrheit wie Urmia und Mariwan. 2011 erklärte die PJAK einen [brüchigen] Waffenstillstand. Der Zusammenbruch des syrischen Staates eröffnete der PKK und ihren Mitgliedsgruppen neue Möglichkeiten und es wurden Kämpfer nach Syrien geschickt. Dies wurde ab 2014 verstärkt, da die von der YPG [syrischer Ableger der PKK] gehaltenen Gebiete zunehmend von den von der Türkei unterstützten Streitkräften der Freien Syrischen Armee (FSA) und von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates (IS), insbesondere bei der Belagerung von Kobane, unter Druck gesetzt wurden. Trotz des zunehmenden Engagements der PJAK in Syrien gab die Gruppe ihren Waffenstillstand mit dem Iran im Jahr 2015 auf, vor allem, um von der weit verbreiteten Empörung und den Protesten gegen die Tötung einer kurdischen Frau durch die iranischen Sicherheitskräfte in Mahabad zu profitieren. Dies führte dazu, dass die Gruppe die Angriffe auf iranische Truppen wieder aufnahm, was zu verstärkter Gewalt zwischen PJAK und der iranischen Regierung führte und im August 2015 ihren Höhepunkt mit einem PJAK-Angriff in Mariwan erreichte, bei dem Berichten zufolge 20 Mitglieder des iranischen Revolutionsgarde-Korps (IRGC) getötet wurden. Die Regierung reagierte mit der Hinrichtung inhaftierter kurdischer Aktivisten (JF 15.1.2018). Die PJAK liefert sich somit seit Jahren einen Guerilla-Kampf mit den iranischen Sicherheitsbehörden (AA 26.2.2020). In den Jahren 2017 und 2018 kam es immer wieder zu Zusammenstößen mit kurdischen Oppositionsgruppen (PJAK, KDP-Iran, Komala), mit mehreren Dutzend Festnahmen und zahlreichen Toten (ÖB Teheran 10.2019; vgl. BTI 2020). Es ist weiterhin mit verschärften Repressalien gegen kurdische Organisationen zu rechnen. Unter den politisch Verfolgten in Iran sind verhältnismäßig viele Kurden. Auffallend sind die häufigen Verurteilungen im Zusammenhang mit Terrorvorwürfen – insbesondere die Unterstützung der als Terrororganisation geltenden PJAK und das oftmals unverhältnismäßig hohe Strafausmaß (ÖB Teheran 10.2019). Zusammenstöße der PJAK mit iranischen Sicherheitskräften wurden auch 2019 berichtet (Kurdistan24 5.8.2019).

Kurdish Democratic Party of Iran (KDPI/PDKI) und Komala(h) (Kurdistan Orga- nization of the Communist Party of Iran, Komala, SKHKI)

Neben der PJAK zählen insbesondere die marxistische Komalah-Partei und die Democratic Party of Iranian Kurdistan (KDPI) zu den militanten separatistischen Gruppen in Iran (AA 26.2.2020). Die KDPI wurde 1945 in der iranischen Stadt Mahabad gegründet (DIS 7.2.2020) und vom Schah im Jahr 1953 verboten und dadurch in den Untergrund verbannt (TRAC o.D.). Das Ziel der KDPI besteht darin, die kurdischen nationalen Rechte innerhalb eines Bundes und eines demokratischen Iran zu erlangen (DIS 7.2.2020; vgl. TRAC o.D., MERIP o.D.). Die KDPI wird von der Regierung als konterrevolutionäre und terroristische Gruppe betrachtet, die von ihrem irakischen Hauptquartier aus das Regime bekämpft (BMI 2015; vgl. MERIP o.D., ACCORD 7.2015). Die KDPI wird traditionell als die größte iranisch-kurdische Partei angesehen. Die Partei KDP-Iran hat sich 2006 von der KDPI getrennt und ist eine separate Partei (DIS 7.2.2020). Die kurdischen Oppositionsparteien, insbesondere die KDPI, sind in Iran nicht sehr stark durch Mitglieder repräsentiert, sondern am ehesten durch Sympathisanten (ACCORD 7.2015). Die Komala-Partei wurde 1969 gegründet. Ihre Mitglieder bestanden zu dieser Zeit aus kurdischen linken Studenten und Intellektuellen, hauptsächlich aus Teheran, aber auch aus anderen kurdischen Städten. Komala basiert auf sozialistischen Werten und kämpft für kurdische Rechte und einen demokratischen, säkularen, pluralistischen und föderalen Iran. Komala besteht aus drei oder mehr getrennten Parteien (DIS 7.2.2020). Das Ausmaß der zivilpolitischen Aktivitäten der iranisch-kurdischen Oppositionsparteien, insbesondere der KDPI und Komala in Iran, ist aufgrund der Kontrolle, mit der sie konfrontiert sind, im Allgemeinen begrenzt. Wenn die Parteien zivilpolitische Aktivitäten durchführen, geschieht dies unter Geheimhaltung, um zu verhindern, dass die Behörden gegen sie vorgehen. Die Parteien unterstützen jedoch die Aktivitäten anderer, beispielsweise von Organisationen, die sich sowohl auf Umweltfragen als auch auf soziale Fragen konzentrieren. Die kurdischen politischen Parteien führen Propaganda-Aktivitäten durch, um ein Bewusstsein für die Politik der iranischen Regierung zu schaffen und die Menschen zu ermutigen – durch verschiedene friedliche und entschlossene Maßnahmen wie Demonstrationen, Generalstreiks und symbolische Mittel wie das Tragen kurdischer Kleidung zu besonderen Anlässen – gegen die Regierung zu protestieren. Die meisten Aktivitäten der kurdischen Parteien finden im öffentlichen Raum, einschließlich Schulen, statt. Die Parteien ermutigen ihre Mitglieder, Unterstützer und die Öffentlichkeit, Maßnahmen über soziale Medien, Fernseh- und Radiokanäle zu ergreifen. In Bezug auf die Rekrutierung von Mitgliedern ist zu sagen, dass die Regeln für die Mitgliedschaft in den iranisch-kurdischen politischen Parteien (KDPI und Komala) nicht immer geradlinig sind und die Mitgliedschaft durch verschiedene Verfahren erlangt werden kann. Menschen in der kurdischen Region des Iran können über die geheimen Netzwerke dieser Parteien Mitglieder werden oder sie können selbst Mitglieder der Partei in der Autonomen Kurdischen Region Irak kontaktieren und dadurch Mitglieder werden. Zukünftige Mitglieder durchlaufen eine Überprüfung um z.B. Spione der iranischen Regierung ausschließen zu können. Es kommt nämlich immer wieder vor, dass das Geheimdienstministerium und die Revolutionsgarden Personen bedrohen oder bestechen, um sie als Kundschafter einzusetzen (DIS 7.2.2020).

Auffallend sind die häufigen Verurteilungen im Zusammenhang mit Terrorvorwürfen – insbesondere die Unterstützung der kommunistischen Komala-Partei und der KDP-Iran und das oftmals unverhältnismäßig hohe Strafausmaß (ÖB Teheran 10.2019). Ende April 2017 stationierte eine der Komala-Parteien ihre Streitkräfte im Grenzgebiet zwischen der Autonomen Kurdischen Region Irak und Iran (DIS 7.2.2020). Zuletzt wurden im September 2018 drei angebliche Komala-Mitglieder wegen Terrorismus nach unfairen Verfahren und trotz internationaler Proteste hingerichtet (ÖB Teheran 10.2019; vgl. DIS 7.2.2020), zeitgleich fanden Raketenangriffe auf einen Stützpunkt der KDPI in Nord-Irak statt (ÖB Teheran 10.2019; vgl. DIS 7.2.2020, BTI 2020). Seit 1979 ist Iran eine Islamische Republik, in welcher versucht wird, demokratische und islamische Elemente miteinander zu verbinden. Die iranische Verfassung besagt, dass alle Gesetze sowie die Verfassung auf islamischen Grundsätzen beruhen müssen. Mit einer demokratischen Verfassung im europäischen Sinne kann sie daher nicht verglichen werden (ÖB Teheran 10.2019). Das in der iranischen Verfassung enthaltene Gebot der Gewaltentrennung ist praktisch stark eingeschränkt. Der Revolutionsführer ernennt für jeweils fünf Jahre den Chef der Judikative. Dieser ist laut Artikel 157 der Verfassung die höchste Autorität in allen Fragen der Justiz. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in der Verfassung festgeschrieben, unterliegt jedoch Begrenzungen. Immer wieder wird deutlich, dass Exekutivorgane, v.a. der Sicherheitsapparat, trotz des formalen Verbots, in Einzelfällen massiven Einfluss auf die Urteilsfindung und die Strafzumessung nehmen. Zudem ist zu beobachten, dass fast alle Entscheidungen der verschiedenen Staatsgewalten bei Bedarf informell durch den Revolutionsführer und seine Mitarbeiter beeinflusst und gesteuert werden können. Auch ist das Justizwesen nicht frei von Korruption (AA 26.2.2020; vgl. BTI 2020). In Iran gibt es eine als unabhängige Organisation aufgestellte Rechtsanwaltskammer („Iranian Bar Association“; IBA). Allerdings sind die Anwälte der IBA staatlichem Druck und Einschüchterungsmaßnahmen, insbesondere in politischen Verfahren, ausgesetzt (AA 26.2.2020). Das Justizsystem wird als Instrument benutzt, um Regimekritiker und Oppositionelle zum Schweigen zu bringen (FH 4.3.2020). Richter werden nach religiösen Kriterien ernannt. Internationale Beobachter kritisieren weiterhin den Mangel an Unabhängigkeit des Justizsystems und der Richter und, dass die Verfahren internationale Standards der Fairness nicht erfüllen (US DOS 11.3.2020). Iranische Gerichte, insbesondere die Revolutionsgerichte, verletzen immer wieder die Regeln für faire Gerichtsverfahren. Geständnisse, die wahrscheinlich unter Anwendung von Folter erlangt wurden, werden als Beweis vor Gericht verwendet (HRW 14.1.2020; vgl. AA 26.2.2020, HRC 28.1.2020). Die Behörden setzen sich ständig über die Bestimmungen hinweg, welche die Strafprozessordnung von 2015 für ein ordnungsgemäßes Verfahren vorsieht, wie z.B. das Recht auf einen Rechtsbeistand (AI 18.2.2020; vgl. HRW 14.1.2020).

Das Verbot der Doppelbestrafung gilt nur stark eingeschränkt. Nach dem iranischen Strafgesetzbuch (IStGB) wird jeder Iraner oder Ausländer, der bestimmte Straftaten im Ausland begangen hat und in Iran festgenommen wird, nach den jeweils geltenden iranischen Gesetzen bestraft. Bei der Verhängung von islamischen Strafen haben bereits ergangene ausländische Gerichtsurteile keinen Einfluss. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen drohen drastische Strafen. In jüngster Vergangenheit sind keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden (AA 26.2.2020).

Wenn sich Gesetze nicht mit einer Situation befassen, dürfen Richter ihrem Wissen und ihrer Auslegung der Scharia Vorrang einräumen. Nach dieser Methode können Richter eine Person aufgrund ihres eigenen „göttlichen Wissens“ für schuldig erklären (US DOS 11.3.2020).

In der Strafjustiz existieren mehrere voneinander getrennte Gerichtszweige. Die beiden wichtigsten sind die ordentlichen Strafgerichte und die Revolutionsgerichte. Daneben sind die Pressegerichte für Taten von Journalisten, Herausgebern und Verlegern zuständig. Die “Sondergerichte für die Geistlichkeit“ sollen abweichende Meinungen unter schiitischen Geistlichen untersuchen und ihre Urheber bestrafen. Sie unterstehen direkt dem Revolutionsführer und sind organisatorisch außerhalb der Judikative angesiedelt (AA 9.12.2015; vgl. BTI 2018).

Die Zuständigkeit der Revolutionsgerichte beschränkt sich auf folgende Delikte:

-        Straftaten betreffend die innere und äußere Sicherheit des Landes, bewaffneter Kampf gegen das Regime, Verbrechen unter Einsatz von Waffen, insbesondere "Feindschaft zu Gott" und "Korruption auf Erden";

-        Anschläge auf politische Personen oder Einrichtungen;

-        Beleidigung des Gründers der Islamischen Republik Iran und des jeweiligen Revolutionsführers;

-        Spionage für fremde Mächte;

-        Rauschgiftdelikte, Alkoholdelikte und Schmuggel;

-        Bestechung, Korruption, Unterschlagung öffentlicher Mittel und Verschwendung von Volksvermögen (AA 9.12.2015).

Gerichtsverfahren, vor allem Verhandlungen vor Revolutionsgerichten, finden nach wie vor unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und sind extrem kurz. Manchmal dauert ein Verfahren nur wenige Minuten (AI 22.2.2018). Die iranische Strafrechtspraxis unterscheidet sich stark von jener der europäischen Staaten: Körperstrafen sowie die Todesstrafe werden verhängt (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AA 26.2.2020). Im iranischen Strafrecht sind körperliche Strafen wie die Amputation von Fingern, Händen und Füßen vorgesehen. Berichte über erfolgte Amputationen dringen selten an die Öffentlichkeit. Wie hoch die Zahl der durchgeführten Amputationen ist, kann nicht geschätzt werden (AA 26.2.2020). Amputation eines beispielsweise Fingers bei Diebstahl fällt unter Vergeltungsstrafen („Qisas“), ebenso wie die Blendung, die auch noch immer angewendet werden kann. Durch Erhalt eines Abstandsgeldes („Diya“) kann der ursprünglich Verletzte jedoch auf die Anwendung einer Blendung verzichten. Derzeit ist bei Ehebruch noch die Strafe der Steinigung vorgesehen. Auch auf diese kann vom „Geschädigten“ gegen eine Abstandsgeldzahlung verzichtet werden. Im Jahr 2002 wurde ein Moratorium für die Verhängung der Steinigungsstrafe erlassen, seit 2009 sind keine Fälle von Steinigungen belegbar (ÖB Teheran 10.2019). Zudem sieht das iranische Strafrecht bei bestimmten Vergehen wie zum Beispiel Alkoholgenuss, Missachten des Fastengebots oder außerehelichem Geschlechtsverkehr auch Auspeitschung vor. Regelmäßig besteht aber auch hier die Möglichkeit, diese durch Geldzahlung abzuwenden (AA 26.2.2020). Aussagen hinsichtlich einer einheitlichen Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis sind nur eingeschränkt möglich, da sich diese durch Willkür auszeichnet. Rechtlich möglich wird dies vorrangig durch unbestimmte Formulierungen von Straftatbeständen und Rechtsfolgen sowie eine uneinheitliche Aufsicht der Justiz über die Gerichte. Auch willkürliche Verhaftungen kommen vor und führen dazu, dass Personen ohne ein anhängiges Strafverfahren festgehalten werden. Wohl häufigster Anknüpfungspunkt für Diskriminierung im Bereich der Strafverfolgung ist die politische Überzeugung. Beschuldigten bzw. Angeklagten werden grundlegende Rechte vorenthalten, die auch nach iranischem Recht garantiert sind. Untersuchungshäftlinge werden bei Verdacht eines Verbrechens unbefristet ohne Anklage festgehalten. Oft erhalten Gefangene während der laufenden Ermittlungen keinen rechtlichen Beistand, weil ihnen dieses Recht verwehrt wird oder ihnen die finanziellen Mittel fehlen. Bei bestimmten Anklagepunkten – wie z.B. Gefährdung der nationalen Sicherheit – dürfen Angeklagte zudem nur aus einer Liste von zwanzig vom Staat zugelassenen Anwälten auswählen. Insbesondere bei politisch motivierten Verfahren gegen Oppositionelle erheben Gerichte oft Anklage aufgrund konstruierter oder vorgeschobener Straftaten. Die Strafen sind in Bezug auf die vorgeworfene Tat zum Teil unverhältnismäßig hoch, besonders deutlich wird dies bei Verurteilungen wegen Äußerungen in sozialen Medien oder Engagement gegen die Hijab- Pflicht (AA 26.2.2020).

Darüber hinaus ist die Strafverfolgungspraxis auch stark von aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen bestimmt. Im August 2018 wurde angesichts der kritischen Wirtschaftslage ein Sondergericht für Wirtschaftsstraftaten eingerichtet, das bislang schon einige Menschen wegen Korruption zum Tode verurteilt hat (AA 12.1.2019). Hafterlass ist nach Ableistung der Hälfte der Strafe möglich. Amnestien werden unregelmäßig vom Revolutionsführer auf Vorschlag des Chefs der Justiz im Zusammenhang mit hohen religiösen Feiertagen und dem iranischen Neujahrsfest am 21. März ausgesprochen. Bei Vergeltungsstrafen können die Angehörigen der Opfer gegen Zahlung eines Blutgeldes auf den Vollzug der Strafe verzichten. Unter der Präsidentschaft Rohanis hat die Zahl der Aussetzung der hohen Strafen bis hin zur Todesstrafe wegen des Verzichts der Angehörigen auf den Vollzug der Strafe stark zugenommen (AA 26.2.2020).

Rechtsschutz ist oft nur eingeschränkt möglich. Anwälte, die politische Fälle übernehmen, werden systematisch eingeschüchtert oder an der Übernahme der Mandate gehindert. Der Zugang von Verteidigern zu staatlichem Beweismaterial wird häufig eingeschränkt oder verwehrt. Die Unschuldsvermutung wird mitunter – insbesondere bei politisch aufgeladenen Verfahren – nicht beachtet. Zeugen werden durch Drohungen zu belastenden Aussagen gezwungen. Insbesondere Isolationshaft wird genutzt, um politische Gefangene und Journalisten psychisch unter Druck zu setzen. Gegen Kautionszahlungen können Familienmitglieder die Isolationshaft in einzelnen Fällen verhindern oder verkürzen (AA 26.2.2020).

Sicherheitsbehörden

Diverse Behörden teilen sich die Verantwortung für die innere Sicherheit; etwa das Informationsministerium, die Ordnungskräfte des Innenministeriums, die dem Präsidenten berichten, und die Revolutionsgarden (Sepah-e Pasdaran-e Enghelab-e Islami - IRGC), welche direkt dem Obersten Führer Khamenei berichten. Die Basij-Kräfte, eine freiwillige paramilitärische Gruppierung mit lokalen Niederlassungen im ganzen Land, sind zum Teil als Hilfseinheiten zum Gesetzesvollzug innerhalb der Revolutionsgarden tätig. Basij-Einheiten sind oft bei der Unterdrückung von politischen Oppositionellen oder bei der Einschüchterung von Zivilisten involviert (US DOS 11.3.2020). Organisatorisch sind die Basij den Pasdaran (Revolutionsgarden) unterstellt und ihnen gehören auch Frauen an (AA 26.2.2020). Basijis sind ausschließlich gegenüber dem Obersten Führer loyal und haben oft keinerlei reguläre polizeiliche Ausbildung, die sie mit rechtlichen Grundprinzipien polizeilichen Handelns vertraut gemacht hätten. Basijis haben Stützpunkte u.a. in Schulen und Universitäten, wodurch die permanente Kontrolle der iranischen Jugend gewährleistet ist. Schätzungen über die Zahl der Basijis gehen weit auseinander und reichen bis zu mehreren Millionen (ÖB Teheran 10.2019). Die Polizei unterteilt sich in Kriminalpolizei, Polizei für Sicherheit und öffentliche Ordnung (Sittenpolizei), Internetpolizei, Drogenpolizei, Grenzschutzpolizei, Küstenwache, Militärpolizei, Luftfahrtpolizei, eine Polizeispezialtruppe zur Terrorbekämpfung und Verkehrspolizei. Die Polizei hat auch einen eigenen Geheimdienst. Eine Sonderrolle nehmen die Revolutionsgarden ein, deren Auftrag formell der Schutz der Islamischen Revolution ist. Als Parallelarmee zu den regulären Streitkräften durch den Staatsgründer Khomeini aufgebaut, haben sie neben ihrer herausragenden Bedeutung im Sicherheitsapparat im Laufe der Zeit Wirtschaft, Politik und Verwaltung durchsetzt und sich zu einem Staat im Staate entwickelt. Militärisch kommt ihnen eine höhere Bedeutung als dem regulären Militär zu. Sie verfügen über fortschrittlichere Ausrüstung als die reguläre Armee, eigene Gefängnisse und eigene Geheimdienste, die auch mit Inlandsaufgaben betraut sind, sowie engste Verbindungen zum Revolutionsführer (AA 26.2.2020). Die Revolutionsgarden sind eng mit der iranischen Wirtschaft verbunden (FH 4.3.2020). Sie betreiben den Imam Khomeini International Airport in der iranischen Hauptstadt und verfügen damit allein durch Start- und Landegebühren über ein äußerst lukratives Geschäft. Auch an den anderen Flug- und Seehäfen im Land kontrollieren die Truppen der IRGC Irans Grenzen. Sie entscheiden, welche Waren ins Land gelassen werden und welche nicht. Sie zahlen weder Zoll noch Steuern. Sie verfügen über Land-, See- und Luftstreitkräfte, kontrollieren Irans strategisches Waffenarsenal und werden auf eine Truppenstärke von mehr als 120.000 geschätzt. Außerdem sind die Revolutionswächter ein gigantisches Wirtschaftsunternehmen, das Augenkliniken betreibt, Kraftfahrzeuge, Autobahnen, Eisenbahnstrecken und sogar U-Bahnen baut. Sie sind eng mit der Öl- und Gaswirtschaft des Landes verflochten, bauen Staudämme und sind im Bergbau aktiv (DW 18.2.2016). Khamenei und den Revolutionsgarden gehören rund 80% der iranischen Wirtschaft. Sie besitzen außer den größten Baufirmen auch Fluggesellschaften, Minen, Versicherungen, Banken, Elektrizitätswerke, Telekommunikationsfirmen, Fußballklubs und Hotels. Für die Auslandsaktivitäten gibt das Regime Milliarden aus (Menawatch 10.1.2018). Längst ist aus den Revolutionsgarden ein bedeutender Machtfaktor geworden – gesellschaftlich, wirtschaftlich, militärisch und politisch. Sehr zum Leidwesen von Hassan Rohani. Der Präsident versucht zwar, die Garden und ihre Chefebene in die Schranken zu weisen. Das gelingt ihm jedoch kaum (Tagesspiegel 8.6.2017; vgl. BTI 2020). Die paramilitärischen Einheiten schalten und walten nach wie vor nach Belieben – nicht nur in Iran, sondern in der Region. Es gibt nur wenige Konflikte, an denen sie nicht beteiligt sind. Libanon, Irak, Syrien, Jemen – überall mischen die Revolutionsgarden mit und versuchen, die islamische Revolution zu exportieren. Ihre Al-Quds-Brigaden sind als Kommandoeinheit speziell für Einsätze im Ausland trainiert (Tagesspiegel 8.6.2017). Das Ministerium für Information ist als Geheimdienst (Vezarat-e Etela’at) mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, Gegenspionage und der Beobachtung religiöser und illegaler politischer Gruppen beauftragt. Aufgeteilt ist dieser in den Inlandsgeheimdienst, Auslandsgeheimdienst, Technischen Aufklärungsdienst und eine eigene Universität (Imam Ali Universität). Dabei kommt dem Inlandsgeheimdienst die bedeutendste Rolle bei der Bekämpfung der politischen Opposition zu. Der Geheimdienst tritt bei seinen Maßnahmen zur Bekämpfung der politischen Opposition nicht als solcher auf, sondern bedient sich überwiegend der Sicherheitskräfte und der Justiz (AA 26.2.2020).

Das reguläre Militär (Artesh) erfüllt im Wesentlichen Aufgaben der Landesverteidigung und Gebäudesicherung. Neben dem „Hohen Rat für den Cyberspace“ beschäftigt sich die iranische Cyberpolizei mit Internetkriminalität mit Fokus auf Wirtschaftskriminalität, Betrugsfällen und Verletzungen der Privatsphäre im Internet sowie der Beobachtung von Aktivitäten in sozialen Netzwerken und sonstigen politisch relevanten Äußerungen im Internet. Sie steht auf der EU- Menschenrechtssanktionsliste (AA 26.2

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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