Entscheidungsdatum
03.12.2020Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W178 2167272-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch Dr.in Maria Parzer als Einzelrichterin über die Beschwerde von Herrn XXXX geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Helmut BLUM, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.07.2017, Zahl 15-1076155604/150782320, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.06.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde zu Spruchpunkt I wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf deren Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird Herrn XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 04.12.2021 erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III und IV werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: Bf), XXXX (alternative Schreibweise: XXXX ) stellte am 02.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Bei seiner niederschriftlichen Erstbefragung durch die Polizei am 02.07.2015 gab der Bf an, dass er in Afghanistan ein Motorradgeschäft gehabt habe und die Taliban von ihm kostenlos Motorräder geliefert bekommen wollten. Da er dem nicht nachkommen habe können, weil er sonst nichts mehr zum Leben gehabt hätte, hätten die Taliban ihm Drohbriefe geschickt und angedroht, ihn umzubringen. Daraufhin habe der Bf sein Heimatland verlassen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, von den Taliban umgebracht zu werden.
3. Am 02.05.2017 wurde der Bf beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA oder belangte Behörde) einvernommen. Dabei brachte er zusammengefasst Folgendes vor: Er sei ledig, gesund und kinderlos. Er spreche Dari, er gehöre der Volksgruppe der Usbeken an und sei im Ort XXXX , in der Provinz Jawzjan in Afghanistan geboren worden. Sein Vater und ein Bruder des Bf lebten noch in XXXX ; der Bruder besuche dort noch die Schule. Ein weiterer Bruder lebe und studiere in Mazar-e Sharif und werde dort vom Vater unterstützt. Die Mutter sei bereits verstorben, weitere Verwandte in Afghanistan habe er nicht. Zu seinen beiden Brüdern habe er ca ein bis zwei Mal pro Monat über Facebook Kontakt. Er habe neun Jahre lang die Schule besucht und nach der Schule unregelmäßig Englisch- und Türkischkurse besucht sowie im Jahr 2014 sein eigenes Motorradgeschäft eröffnet. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst, von den Taliban getötet zu werden. In Österreich besuche er derzeit zweimal pro Woche einen Deutschkurs, habe Kontakt mit Einheimischen, besuche ein Fitnessstudio und spiele Volleyball.
4. Mit Bescheid vom 25.07.2017, Zahl 15-1076155604 / 150782320 wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Die belangte Behörde erteilte dem Bf keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte fest, dass die Abschiebung des Bf nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 gewährte die belangte Behörde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
5. Gegen diesen Bescheid erhob der Bf am 08.08.2017 fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass er ein in sich geschlossenes, nachvollziehbares Vorbringen erstattet habe. Aus den Länderinformationen ergebe sich, dass es in Afghanistan zu keinen grundlegenden Verbesserungen gekommen und die Sicherheitslage weiterhin volatil sei. Dem Bf sei daher der Status eines Asylberechtigten, in eventu der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen bzw. die ausgesprochene Rückkehrentscheidung und der Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan zu beheben. Darüber hinaus beantrage der Bf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.06.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Bf wurde im Beisein seines Rechtsvertreters zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und zu seiner Situation befragt. Ebenso wurde im Rahmen der Verhandlung ein Zeuge befragt. Eine Vertretung der belangten Behörde nahm entschuldigt nicht teil. Der Bf legte diverse Integrationsunterlagen vor, die zum Verhandlungsprotokoll genommen wurden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer heißt den Namen XXXX (alternative Schreibweise: Samchullah Aziz), geboren am XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Usbeken an. Er ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Usbekisch. Er spricht aber auch sehr gut Dari. Weiters spricht er Türkisch und Urdu sowie ein wenig Englisch. Er ist gesund, ledig und kinderlos.
Der Bf wurde im Ort XXXX , im Distrikt Shibirghan, in der Provinz Jawzjan in Afghanistan geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zwei Brüdern bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 auf. Er besuchte etwa neun Jahre lang das örtliche Lycee.
Seine Mutter ist 2012 verstorben, einer seiner Brüder lebt bei seinem Vater in seinem Heimatort, der andere lebt und studiert in Mazar-e Sharif. Zu beiden Brüdern hat er regelmäßig Kontakt über das Internet.
Der Bf hat etwa ein Jahr lang ein eigenes Motorradgeschäft im Herkunftsort betrieben.
Der Bf hat sich in Afghanistan nur in seinem Heimatdorf aufgehalten. Der Bf ist mit den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten in dieser Gegend vertraut. Er verfügt daher über keine nennenswerten Ortskenntnisse in den größeren Städten Afghanistans (Kabul, Herat, Mazar-e-Sharif).
1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Bf hält sich seit Juli 2015 durchgehend, sohin seit mehr als 5 Jahren Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 02.07.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der Bf hat mehrere Deutschkurse besucht und besucht sie weiterhin, die Prüfung hat er nur für A1 abgelegt, er spricht aber auf höherem Niveau Deutsch als A1, vgl Bestätigungen von Refugeelearn vom 17.06.2020, Akademie der Tiroler Sozialdienste vom 29.10.2019.
Eine Verständigung mit ihm ist möglich, vgl.Eindruck aus der mündlichen Verhandlung und aufgrund der Empfehlungsschreiben von Frau Bettina Siegele, Frau Sarah Glantschnig, Herrn Mag. Stefan Hechl, BA und Frau Drin Renate Krammer-Stark.
Er war umfassend ehrenamtlich tätig (Bestätigung Flüchtlingsheim Reichenau, Bestätigungen der Tiroler Soziale Dienste vom 03.12.2018 und 24.06.2019) und auch als Übersetzer gearbeitet (Bestätigung vom 24.10.2018) und bei der Flurreinigung geholfen. Er hat einen Werte- und Orientierungskurs absolviert
Der Bf ist umfassend integriert und hat in Österreich einen gemischten Freundeskreis, der sowohl aus afghanischen als auch aus österreichischen Personen besteht.
Der Beschwerdeführer wird von Vertrauenspersonen, so etwa von engen FreundInnen, seinen DeutschlehrerInnen und Unterstützerinnen als eine Person beschrieben, die sich engagiert, auch in der Unterstützung anderer Asylwerber, motiviert, freundlich, verlässlich und kommunikativ beschrieben.
Der Bf ist gesund.
1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan von Männern, die zu den Aufständischen gehören, nach seinen Angaben der Gruppe Hezbollah Khan, bedroht und aufgefordert, sie materiell, und zwar durch kostenlose Zurverfügungstellung von Motorrädern, zu unterstützen. Der Bf hat das abgelehnt. Nach der Ausreise des Bf hat der Onkel des Bf die im Geschäft vorhandenen Motorräder verkauft. Der Bf hat glaubhaft ausgesagt, dass seine Familie „auf der Seite der Regierung“ stünde (NS BVwG vom 22.06.2020, S. 8)
1.4. Zur Situation im Herkunftsstaat
Zur Situation im Herkunftsstaat wird auf
? die aktuellen Länderfeststellungen der Staatendokumentation vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Teilaktualisierung: 21.07.2020 (in der Folge: LIB),
? auf der Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender des Hohen Flüchtlingskommissars der Verein Nationen vom 30.08.2018 in ihrer deutschen Übersetzung (in der Folge: UNHCR-Richtlinie),
? die Country Guidance: Afghanistan aus Juni 2019 des European Asylum Support Office (in der Folge: EASO Country Guidance) EASO Country Guidance Afghanistan (Stand Juni 2019) sowie
? EASO Afghanistan – Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020)
? Vortrag Stahlmann vom 18.05.2020
?
Darüber hinaus wird speziell bezüglich der Situation infolge der COVID-19-Pandemie neben den einschlägigen Aktualisierungen der oben genannten Dokumente auf folgende Berichte verwiesen:
? EASO Special Report: Asylum Trends and COVID-19 vom 07.05.2020, Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und Rückkehrerlnnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020, abrufbar unter https://www.ecoi.net/de/dokument/2031621.html ;
?
? OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report vom 06.05.2020, abrufbar unter https://www.ecoi.net/de/dokument/2029430.html, Stahlmann
? EASO Afghanistan – Key socio-economic indicators – Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020)
? ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat (23.04.2020) - https://www.ecoi.net/de/dokument/2030080.html
? ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Masar-e Scharif und Umgebung (30.04.2020) - https://www.ecoi.net/de/dokument/2030099.html
? ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) – (05.06.2020) - https://www.ecoi.net/de/dokument/2031621.html
? Konrad Adenauer Stiftung, Länderbericht Juli 2020“ Die COVID-Krise in Afghanistan: Welche Auswirkungen auf die humanitäre und politische Lage
? Vortrag Stahlmann vom 18.05.2020
1.4.1. Zur Herkunftsprovinz Jawzjan
Die Herkunftsprovinz des Bf, die Provinz Jawzjan, weist eine allgemein schlechte Sicherheitslage auf und gehört zu den volatilen Provinzen Afghanistans.
1.4.1.1. LIB (S. 116 ff)
Jawzjan liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Turkmenistan, im Osten an Balkh, im Süden an Sar-e Pul und im Westen an Faryab (UNOCHA 4.2014). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Aqchah, Darzab, Faizabad, Khamyab, Khanaqa, Khwaja Dukoh, Mardyan, Mingajik, Qarqin und Qush Tepa sowie die Provinzhauptstadt Sheberghan (CSO 2019; vgl. IEC 2018). Darzab wurde angeblich aus Sicherheitsgründen von Faryab nach Jawzjan verlegt. Später wurde der Distrikt Qush Tepa aus Darzab herausgelöst (AAN 16.8.2018).
Das afghanische Statistikamt schätzt die Bevölkerungsanzahl von Jawzjan für den Zeitraum 2019-20 auf 590.866 Personen (CSO 2019). Einer Quelle aus dem Jahr 2008 zufolge sind die beiden größten ethnischen Gruppen der Provinz Usbeken und Turkmenen, weiters gibt es kleinere Gruppen an Paschtunen und sogenannte Araber sowie einige Tadschiken und Kuchi-Nomaden, deren Anzahl je nach Jahreszeit variiert (Larsson 11.2008).
Die Ring Road verbindet die Provinzhauptstadt Jawzjans mit dem großen Ballungszentrum Mazar-e Sharif in Balkh sowie mit der westlich gelegenen Provinz Faryab. Eine weitere Hauptstraße verbindet das benachbarte Sar-i-Pul mit der Ring Road in Sheberghan (UNOCHA 4.2014; vgl. iMMAP 19.9.2017; TD 5.12.2017). Ende 2018 wurden Bauarbeiten an einer Umfahrungsstraße in Sheberghan fortgesetzt. Die 15 Kilometer lange Straße soll die Verkehrswege in der Stadt entlasten und die Umsetzung von Entwicklungsprogrammen erleichtern sowie der Wirtschaft in Jawzjan helfen (PAJ 30.12.2018). Mit Stand März 2019 gibt es keinen Linienflugbetrieb von und nach Jawzjan; diese werden über Mazar-e Sharif geführt (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Jawzjan gilt als eine der strategisch wichtigen Provinzen des Landes, da sie über bedeutsame Erdgasreserven verfügt (PAJ o.D.).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verlor Jawzjan 2016 seinen schlafmohnfreien Status. Während der Schlafmohnanbau 2017 – mit einem fast achtfachen Anstieg gegenüber 2016 – seinen Höhepunkt erreichte, nahm die Anbaufläche in Jawzjan 2018 gegenüber 2017 um 90% ab. UNODC führt den Rückgang der Anbauflächen auf die starke Dürre in Nordafghanistan im Jahr 2018 zurück (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Jawzjan ist die Heimat des ehemals mächtigen usbekischen Milizführers Abdul Rashid Dostum, seine ehemaligen Milizkämpfer sind dort präsent (RFE/RL o.D.). Aufständische der Taliban sind in Jawzjan aktiv (KP 26.6.2019; vgl. TN 5.8.2019). Ein Regierungsvertreter sprach im August 2019 von rund 1.500 Talibankämpfern in der Provinz (TN 5.8.2019). Einige Distrikte der Provinz wie z.B. Khamyab Qush Tepa (TN 5.8.2019; vgl. SIGAR 30.1.2019, AAN 4.8.2018) und Darzab, stehen unter Talibankontrolle (TN 2.10.2019; vgl. SIGAR 30.1.2019). Darzab konnte beispielsweise von den Regierungskräften zurückerobert werden (TN 2.10.2019)
In der Provinz kam es in der Vergangenheit zu Auseinandersetzung zwischen Taliban und IS-nahen Gruppierungen (SP 19.7.2018; vgl. AAN 4.3.2018; AAN 11.11.2017). Die Taliban besiegten Mitglieder des IS im Juli 2018, die sich schlussendlich den afghanischen Sicherheitskräften ergaben (UNSC 13.6.2019). Die Bewohner berichten von Grausamkeiten der selbsternannten IS-Kämpfer im Distrikt Darzab im Zeitraum ihrer Kontrolle über den Distrikt (ST 13.12.2018; vgl. PAJ 20.6.2018; PAJ 17.4.2018).
Eine weitere in Jawzjan präsente Aufständischengruppierung ist die IMU (Islamic Movement of Uzbekistan), deren Stärke die Anzahl von 100 Personen in Afghanistan nicht übersteigt, wobei die Hälfte davon Familienmitglieder sein sollen. Die IMU-Kämpfer operieren von Jawzjan und Faryab aus (UNSC 13.6.2019).
Aufseiten der Regierungstruppen befindet sich die Provinz Jawzjan in der Verantwortung des 209. ANA Shaheen Corps (USDOS 6.2019; vgl. FRP 3.7.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
[…] Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 123 zivile Opfer (29 Tote und 94 Verletzte) in der Provinz Jawzjan. Dies entspricht einem Rückgang von 33% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von nicht explodierten Kampfmitteln (unexploded ordnance, UXO), Landminen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge) (UNAMA 2.2020).
Die Sicherheitslage hat sich in manchen Gegenden der Provinz in den vergangenen Monaten verschlechtert (KP 26.6.2019). Die Regierungstruppen führten 2018 und Anfang 2019 mehrere Operationen in der Provinz durch (z.B. KP 17.7.2019; PAJ 5.3.2019; PAJ 26.2.2019; PAJ 11.4.2018; PAJ 17.3.2018; PAJ 4.3.2018; PAJ 7.2.2018; PAJ 2.1.2018). Im Juli 2019 verkündeten die ANDSF, dass sie einen der “gefährlichsten” Taliban-Kommandanten in Jawzjan während einer Militäroperation im Distrikt Qarqin getötet hätten (ST 17.7.2019; KP 17.7.2019). Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitstruppen bzw. regierungsfreundlichen Milizen (TN 5.8.2019; vgl. NYT 8.8.2019; TN 2.7.2019; KP 24.7.2019; PAJ 10.1.2019; PAJ 13.1.2019; PAJ 10.1.2019; PAJ 3.2.2019; PAJ 2.9.2018; KP 10.9.2018 ; MENAFN 14.8.2019; PAJ 15.12.2018). In der Vergangenheit wurde von sicherheitsrelevanten Vorfällen auf der Autobahn zwischen Sheberghan und Mazar-e Sharif berichtet. Reisende gerieten demnach ins Kreuzfeuer, als Sicherheitskräfte und Taliban-Aufständische auf der Autobahn in den Distrikten Aqchah in Jawzjan und Char Buluk in Balkh zusammenstießen (PAJ 18.11.2018). Auch fanden aus Sicherheitsgründen die Parlamentswahlen 2018 in den Distrikten Darzab, Khamyab und Mardyan nicht statt (PAJ 17.10.2018).
1.4.1.2. EASO Country Guidance (S. 100 f)
Jawzjan is situated in the north of Afghanistan, bordering Balkh, Sar-e Pul and Faryab, as well as Turkmenistan. The province is divided in 11 districts. The Ring Road connects the provincial capital of Jawzjan, Shiberghan, with the major population centre Mazar-e Sharif in Balkh, as well as Faryab to the west.
In 2017, it was reported that the Taliban became increasingly successful in Jawzjan, setting up administrative and military institutions. A self-proclaimed ISKP group managed to hold control over the districts of Qushtepa and Darzab for three years, fighting the Taliban - although not expanding its territory due to the widespread Taliban presence in the province. The Taliban took over Qushtepa and Darzab after the group’s defeat in 2018.
According to LWJ, most of the districts are contested; three districts are categorised as under government control and two districts are categorised as under Taliban control.
According to GIM, 111 incidents related to insurgents were reported in the period of January 2018 – February 2019 (average of 1.9 incidents per week).
Examples of incidents include ground operations, which were carried out by government forces in the province. Furthermore, a series of airstrikes by international military forces caused civilian casualties in Jawzjan province. Fighting between government forces and insurgents has been reported causing casualties among fighters throughout 2018 and early 2019, e.g. in the districts of Aqcha, Darzab, Fayzabad, Khamab, Qushtepa and Sheberghan. Travellers have been caught in crossfire as security forces and Taliban insurgents clashed on the highway in the district of Aqcha in Jawzjan.
UNAMA documented 183 civilian casualties (61 deaths and 122 injured) in 2018, representing 32 civilian victims per 100 000 inhabitants. This is an increase of 55 % compared to 2017. The leading causes for the civilian casualties were ground engagements, followed by aerial attacks and (non-suicide) IEDs.
In the period 1 January 2018 – 28 February 2019, 2 590 persons were displaced from the province of Jawzjan, within the province itself and to Balkh province. In the same period, 8 849 persons were displaced to the province of Jawzjan, all of them to the provincial capital.
In the map depicting conflict severity in 2018, UNOCHA places the district of Darzab in the highest category and the district of Qushtepa in the second highest category. The remaining districts fall in the lower categories.
Further impact on the civilian population includes, for example, an increase in the number of rapes and sexual violence against women. Furthermore, insurgents hindered healthcare in October 2018 in Darzab district. Due to security reasons, the 2018 parliamentary elections did not take place in the districts of Darzab, Khamyab and Mardyan.
Looking at the indicators, it can be concluded that indiscriminate violence is taking place in the province of Jawzjan, however not at a high level and, accordingly, a higher level of individual elements is required in order to show substantial grounds for believing that a civilian, returned to the territory, would face a real risk of serious harm within the meaning of Article 15(c).
1.4.2 EASO (European Asylum Support Office), Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, Country of Origin Information Report (COI), August 2020, S. 19.
Herat City is the provincial capital of Herat province, which is located in the western region of Afghanistan, bordered with Iran (west), Turkmenistan (north) and the provinces of Badghis (north-east), Ghor (east), and Farah (south). The population of Herat Province is one of the largest in the country; and the province is known for its production of saffron, grapes, pistachios, cashmere and wool.24 NSIA’s figures for 2018-19 estimate the total population of Herat province at over 2 million, of which around 613 000 reside in urban areas and around 1.4 million in rural areas.25 Herat city has 15 districts26 and consists of a historical city centre, suburbs built around it during the 20th century and newly built residential enclaves, shahraks, that have developed around the city.27 Herat city is a centre of trade with Iran and Turkmenistan and is connected by roads with the neighbouring provinces.
Herat is a Persian-speaking city and the majority of its people are either Sunni or Shia Tajiks/Farsiwans. There is also a consistent Pashtun minority.29 In 2015, Jolyon Leslie described Herat city as historically ‘a Tajik-dominated enclave in a Pashtun-majority province that includes sizeable Hazara and Aimaq minorities’. Up to one fourth of the urban population may be Hazaras, many of whom having spent time in exile in Iran and after their return having settled in neighbourhoods such as Jebrael in the west of the city that was estimated to be home to some 60 000 predominantly Hazara residents. According to Leslie, the degree of ethnic segregation was ‘pronounced’ in Herat, with members of certain ethnic groups inhabiting specific quarters.30
1.4.3 Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif is the provincial capital of Balkh province31, located in the northern part of Afghanistan bordered with Kunduz and Baghlan provinces to the east, Samangan province to the south-east, Sar-e Pul province to the south-west, Jawzjan province to the west and an international border with Uzbekistan to the north and Tajikistan to the north-east and Turkmenistan to the north-west.32 NSIA’s figures for 2018-19 estimate the total population of Balkh province at over 1.4 million, of which around 550 000 reside in urban areas and around 892 000 million in rural areas.
1.4.4.Zur Stadt Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5).
Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 „minimal“ (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 „stressed“ eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI, Kapitel 3.1).
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 22).
1.4.5. Zur Volksgruppe der Usbeken – LIB (S. 287 f)
Die usbekische Minderheit ist die viertgrößte Minderheit Afghanistans und umfasst etwa 9% der Gesamtbevölkerung (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012). Usbeken sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes, wo sie gemeinsam mit den Turkmenen den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens kontrollieren (MRG o.D.d). Sie siedeln sowohl im ländlichen Raum, wie auch in urbanen Zentren (Mazar-e Sharif, Kabul, Kandahar, Lashkargah u.a.), wo ihre Wirtschafts- und Lebensformen kaum Unterschiede zu Dari-sprachigen Gruppen aufweisen. In den Städten und in vielen ländlichen Gegenden beherrschen Usbeken neben dem Usbekischen in der Regel auch Dari auf nahezu muttersprachlichem Niveau. Heiratsbeziehungen zwischen Usbeken und Tadschiken sind keine Seltenheit (BFA 7.2016).
Abdul Rashid Dostum ist der Anführer der usbekischen Minderheit in Afghanistan. Der ehemalige Warlord und einer der Anführer der Nordallianz (MRG o.D.d; vgl. FAZ 19.11.2001) ist inzwischen Erster Vizepräsident Afghanistans und befand sich von Mai 2017 bis Juli 2018 im Exil in der Türkei (SP 22.7.2018).
Die usbekische Minderheit ist im nationalen Durchschnitt mit etwa 8% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017).
1.4.6.Zur Frage der Rückkehrer, vgl. LIB, S. 348 ff.
Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (BFA 4.2018). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 2.9.2019).
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (BFA 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (BFA 4.2018).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 2.9.2019). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (BFA 13.6.2019).
Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (AA 2.9.2019). Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig (USDOS 13.3.2019). Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (BFA 13.6.2019).
Viele Rückkehrer, die wieder in Afghanistan sind, werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Trotz offenem Werben für Rückkehr sind essentielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet (AAN 31.1.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).
Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA 4.2018). Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer (BFA 4.2018; vgl. Asylos 8.2017). Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück (AAN 19.5.2017).
In Kooperation mit Partnerninstitutionen des European Return and Reintegration Network (ERRIN) wird im Rahmen des ERRIN Specific Action Program sozioökonomische Reintegrationsunterstützung in Form von Beratung und Vermittlung für freiwillige und erzwungene Rückkehrer angeboten (IRARA 9.5.2019).
Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung
Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement. Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen (BFA 4.2018).
Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden (Kandiwal 9.2018; vgl. UNHCR 6.2008). Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess (Kandiwal 9.2018; vgl. UNAMA 3.2015, AAN 29.3.2016, WB/UNHCR 20.9.2017). Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller bzw. die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzen. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen (Kandiwal 9.2018). Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen (IDMC/NRC 2.2014).
Bereits 2017 hat die afghanische Regierung mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben mit neuer rechtlicher Grundlage an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Eine Hürde ist die Identifizierung von geeigneten, im Staatsbesitz befindlichen Ländereien. Generell führt die unklare Landverteilung häufig zu Streitigkeiten. Gründe hierfür sind die jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, mangelhafte Verwaltung und Dokumentation von An- und Verkäufen, das große Bevölkerungswachstum sowie das Fehlen eines funktionierenden Katasterwesens. So liegen dem afghanischen Innenministerium Berichte über widerrechtliche Aneignung von Land aus 30 Provinzen vor (AA 2.7.2019).
1.4.7 Länderspezifische Anmerkungen zu COVID-19, vgl. LIB, letzte Aktualisierung 21.07.2020, S.7ff.
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan
Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).
Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).
Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe
Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).
Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).
Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).
Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).
Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).
Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).
Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans
Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).
In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).
In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).
In der Provinz Daikundi gibt es ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Es gibt jedoch keine Auswertungsmöglichkeiten für COVID-19-Tests – es werden Proben entnommen und zur Laboruntersuchung nach Kabul gebracht. Es dauert Tage, bis ihre Ergebnisse von Kabul nach Daikundi gebracht werden. Es gibt Berichte, dass 90 Prozent der Menschen in Daikundi unter der Armutsgrenze leben und dass etwa 60 Prozent der Menschen in der Provinz stark von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (RA KBL 16.7.2020).
In der Provinz Samangan gibt es ebenso ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Wie auch in der Provinz Daikundi müssen Proben nach Kabul zur Testung geschickt werden. Eine unzureichende Wasserversorgung ist eine der größten Herausforderungen für die Bevölkerung. Nur 20 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser (RA KBL 16.7.2020).
Wirtschaftliche Lage in Afghanistan
Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).
Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).
Einreise und Bewegungsfreiheit
Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).
Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).
1.4.8 UNHCR-Richtlinie zur Frage der Rückkehrer
Aufgrund der komplexen Situation in Afghanistan, die die Region als Ganzes betrifft, haben die Islamischen Republiken Iran, Afghanistan und Pakistan mit Unterstützung von UNHCR 2011 einen vierseitigen Konsultationsprozess initiiert, um langfristige Lösungen für afghanische Flüchtlinge in der Region zu ermitteln und umzusetzen. Auf Grundlage dieses Prozesses entstand die Solutions Strategy for Afghan Refugees to Support Voluntary Repatriation, Sustainable Reintegration and Assistance for Host Countries (SSAR), die ein umfassendes und integriertes Rahmenwerk für gemeinsame Maßnahmen bietet, dessen Ziel es ist, Asylraum für afghanische Flüchtlinge in den Nachbarländern zu erhalten und die nachhaltige Integration der Afghanen zu unterstützen, die sich freiwillig für eine Rückkehr nach Afghanistan entscheiden. Vor allem Letzteres ist wichtig angesichts der Schwierigkeiten vieler Rückkehrer sich in ihren Heimatgemeinden wiedereinzugliedern. Es wird berichtet, dass es für Rückkehrer außerordentlich schwierig ist, sich ein neues Leben in Afghanistan aufzubauen. Es wird berichtet, dass sie ganz besonders schutzbedürftig sind, da sie kaum Zugang zu Lebensgrundlagen, Nahrungsmitteln und Unterkunft haben. Zu den Problemen, mit denen sowohl Binnenvertriebene als auch zurückkehrende Flüchtlinge konfrontiert sind, zählen die andauernde Unsicherheit in ihren Herkunftsgebieten, der Verlust ihrer Existenzgrundlage und Vermögenswerte, fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Bildung sowie Schwierigkeiten bei der Rückforderung von Land und Besitz. (UNHCR-Richtlinie, S. 41 f)
Der Protection Cluster in Afghanistan stellte schon im April 2017, nach den Rückkehrerströmen von 2016, aber noch vor den meisten Rückkehrern des Jahres 2017, Folgendes fest: „Der enorme Anstieg der Zahl der Heimkehrer [aus Pakistan und Iran] führte zu einer extremen Belastung der bereits an ihre Grenzen gelangten Aufnahmekapazität der wichtigsten Provinz- und Distriktzentren Afghanistans, nachdem sich viele Afghanen den Legionen von Binnenvertriebenen anschlossen, da sie aufgrund des sich zuspitzenden Konflikts nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten. [...] Mit begrenzten Lebensgrundlagen, ohne soziale Schutznetze und angewiesen auf schlechte Unterkünfte sind die Vertriebenen nicht nur mit einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert, sondern werden auch in erneute Vertreibung und negative Bewältigungsstrategien gezwungen, wie etwa Kinderarbeit, frühe Verheiratung, weniger und schlechtere Nahrung usw.”“ Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen. (UNHCR-Richtlinie, S. 126)
1.4.9 ACCORD: Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) https://www.ecoi.net/de/dokument/2031621.html
…….
Auswirkungen auf das Gesundheitssystem
Die Kapazitäten Afghanistans zur Bekämpfung des Coronavirus seien einem Bericht des Central Asia-Caucasus Analyst vom 26. Mai 2020 zufolge eingeschränkt. Die Gesundheitsinfrastruktur sei schon immer fragil und schlecht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung vorbereitet gewesen. Der Mangel an Einrichtungen sei nun umso mehr spürbar. Ein akuter Mangel an Testsets, Medikamenten und persönlicher Schutzausrüstung (personal protection equipment, PPE) lege die afghanischen Kapazitäten zum Kampf gegen Covid-19 lahm. (Central Asia-Caucasus Analyst, 26. Mai 2020)
Die Johanniter International Assistance erwähnt in einem Bericht vom 27. Mai 2020, dass es in Kabul das Central Public Health Lab und Veterinärlabore gebe, die Covid-19-Tests vornehmen würden. Zudem gebe es Labore in Herat, Jalalabad, Kandahar, Masar-e Scharif und Paktya. Ein weiteres veterinärmedizinisches Labor in Herat solle bald seine Arbeit aufnehmen. In Herat gebe es ein neues Covid-19-Krankenhaus mit 100 Betten. In Kabul seien der Darulaman Palace (mit 300 Betten) und die Studentenwohnheime zu Isolationseinrichtungen umfunktioniert worden. (Johanniter International Assistance, 27. Mai 2020, S. 17)
Als Reaktion auf die oben bereits genannten Proteste von ÄrztInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens habe ein Sprecher des afghanischen Gesundheitsministeriums gesagt, dass er den Zorn über nicht ausbezahlte Löhne verstehe, so Reuters im Mai 2020. Der Sprecher habe angegeben, dass die ÄrztInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens dringend benötigt würden. Die Löhne würden in wenigen Tagen ausbezahlt. Die Proteste würden Reuters zufolge zusätzlichen Druck auf die fragile medizinische Infrastruktur Afghanistans ausüben. Wenige Wochen zuvor seien bereits Hunderte ÄrztInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens in Kabul positiv auf das Coronavirus getestet worden. Viele seien zur häuslichen Selbstisolation gezwungen gewesen. (Reuters, 19. Mai 2020)
Auch der andauernde Krieg wirke sich auf die Kapazitäten zur Bekämpfung des Coronvirus aus. Die Reichweite der Regierung für Tests und Behandlung auf von Aufständischen kontrollierte Gebiete sei aufgrund der andauernden Angriffe der Taliban und des Islamischen Staates stark eingeschränkt. Zusätzlich sei die Regierung auf die Unterstützung der Sicherheitskräfte zur Umsetzung der Lockdownmaßnahmen sowie den Transport grundlegender Güter angewiesen. Jedoch könnten diese nicht zur Bekämpfung des Coronavirus eingesetzt werden, solange Angriffe von Aufständischen weiter andauern würden. (Central Asia-Caucasus Analyst, 26. Mai 2020)
Einem Artikel von The New Humanitarian (TNH) vom 3. Juni 2020 zufolge sei das afghanische Gesundheitssystem nach dem jahrzehntelangen Krieg ruiniert („in tatters“) und werde durch internationale Hilfsfonds gestützt. Gesundheitskliniken in umstrittenen Gebieten, die oftmals von örtlichen NGOs im Auftrag der Regierung betrieben würden, seien sogar noch schlechter ausgestattet („even more basic“). Es werde befürchtet, dass insbesondere Frauen keinen Zugang zu Tests und Gesundheitsversorgung haben könnten. Bereits vor der Pandemie seien die afghanischen Gesundheitsdienste nicht angemessen gewesen. Einem Gründer der afghanischen NGO PenPath, Attaullah Wesa, zufolge sei die Lage entsetzlich. Die NGO habe vor Kurzem eine Kampagne zu öffentlicher Gesundheit in ländlichen Gebieten gestartet, darunter auch in von den Taliban kontrollierten Gebieten. Attaullah zufolge würde es den Kliniken oftmals an grundlegender Ausrüstung und angemessen ausgebildeten MitarbeiterInnen mangeln. (TNH, 3. Juni 2020)
Friederike Stahlmann weist in ihrem Vortrag vom Mai 2020 auf eine weitere Belastung des afghanischen Gesundheitssystems hin. Viele Menschen, die ansonsten in Indien und Pakistan medizinische Hilfe in Anspruch nehmen würden, könnten diese Länder aufgrund der Covid-19-Maßnahmen nicht mehr erreichen. (Stahlmann, 11. Mai 2020)
Auswirkungen auf Versorgungslage
Am 7. April 2020 erwähnt The New Humanitarian (TNH), dass Grenzschließungen und Ausfuhrbestimmungen Auswirkungen auf die Versorgungslage hätten und die Nahrungsmittelpreise in die Höhe trieben. Während des Anstiegs der Covid-19-Fälle in den letzten beiden Märzwochen seien die Preise für Weizenmehl landesweit gestiegen, darunter um 20 Prozent in der nordöstlichen Stadt Faizabad. (TNH, 7. April 2020)
Anfang Mai 2020 erwähnt Save the Children ebenfalls die steigenden Nahrungsmittelpreise und weist zudem auf die sinkenden finanziellen Möglichkeiten der Tagelöhner zum Kauf von Nahrungsmitteln hin, da es aufgrund der landesweiten Covid-19-Beschränkungen weniger Gelegenheitsarbeit gebe. Ein großer Teil der afghanischen Arbeitskräfte sei auf den informellen Arbeitsmarkt angewiesen, der bei Arbeitsmangel keine Sicherheitsnetze biete. (Save the Children, 1. Mai 2020)
Auch die Nachrichtenagentur Reuters erwähnt am 5. Mai 2020 die steigenden Nahrungsmittelpreise. Im April 2020 sei die Nahrungsmittelinflation in Kabul dem Ökonomen Omar Joya zufolge bei 16,7 Prozent gelegen. Joya habe als Mitarbeiter des afghanischen Think-Tanks Biruni Institute Zugang zu den neusten Regierungsdaten zur Preisentwicklung. Parvathy Ramaswami vom Welternährungsprogramm in Afghanistan habe angegeben, dass sich die Covid-19-Lage in Afghanistan von einem Gesundheitsnotfall zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise entwickle. (Reuters, 5. Mai 2020)
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICE