Entscheidungsdatum
03.12.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
L508 2211217-2/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr.in HERZOG als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Libanon, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.10.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1 und § 57 AsylG 2005 idgF sowie § 18 Abs. 1 Z 6 BFA-VG idgF als unbegründet abgewiesen.
II. Soweit die Beschwerde die Unzulässigerklärung der Abschiebung, die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 AsylG 2005 und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt, wird sie als unzulässig zurückgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend: BF), ein Staatsangehöriger aus dem Libanon und ein Angehöriger der arabischen Volksgruppe sowie der christlichen Religionsgemeinschaft, stellte am 02.07.2015 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 2 AsylG, dies unter Vorlage verschiedener Bescheinigungsmittel.
2. Am 14.07.2015 und 12.01.2016 legte der BF weitere Bescheinigungsmittel vor.
3. Am 21.01.2016 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nachfolgend: BFA) den Reisepass des BF sicher. Dieser wurde mit 02.03.2016 einer kriminaltechnischen Untersuchung zugeführt, deren Ergebnis am 07.03.2016 beim BFA einlangte.
4. Mit 24.03.2016 wurde der BF zur Abgabe einer Stellungnahme zum behördenkundigen Sachverhalt aufgefordert. Dieser Aufforderung kam der BF mit 02.04.2016, 07.04.2016, 12.04.2016 und 14.04.2016 unter Vorlage weiterer Bescheinigungsmittel nach. Mit 25.04.2016, 21.12.2016 und 01.03.2018 gab der BF weitere Stellungnahmen ab.
5. Am 04.04.2018 wurde der BF beim BFA niederschriftlich einvernommen.
6. Am 05.04.2018 übernahm der BF beim BFA seinen Reisepass.
7. Mit Bescheid des BFA vom 29.10.2018 wurde der Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG abgewiesen. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt I.) Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung in den Libanon gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 3 FPG wurde gegen ihn ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von 14 Tagen zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt IV.).
8. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 25.10.2018 wurde ihm gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG von Amts wegen ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.
9. Gegen den am 30.10.2018 zugestellten Bescheid des BFA vom 29.10.2018 erhob der BF mit Schriftsatz seines damaligen gewillkürten Vertreters vom 22.11.2018 fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang.
10. Die Beschwerdevorlage des BFA langte am 12.12.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (nachfolgend: BVwG) ein.
11. Mit Eingaben vom 05.02.2019, 21.09.2019 und 17.12.2019 legte der BF im Wege seiner Vertretung verschiedene Bescheinigungsmittel zum Privatleben im Bundesgebiet vor.
12. Die fristgerecht eingebrachte Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom 29.10.2018 wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.12.2019 mit Erkenntnis des BVwG, L502 XXXX vom 15.01.2020 als unbegründet abgewiesen. Die Revision wurde gem. Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.
13. In der Folge stellte der BF am 16.06.2020 den nunmehr verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz (Aktenseite des Verwaltungsverfahrensaktes [im Folgenden: AS] 3).
14. Im Rahmen der Erstbefragung am Tag der Antragstellung (AS 1 - 13) gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen zu Protokoll, dass nach seiner Ausreise aus dem Libanon der Krieg in seiner Region begonnen habe. Dort würden verschiedene Kräfte wie der Islamische Staat, die Hisbollah usw. kämpfen. Er wolle nicht in den Libanon zurückkehren, da ihn die Hisbollah festnehmen und zum Kämpfen zwingen werde. In Österreich sei er auf verschiedenen Medien politisch gegen die Hisbollah usw. aktiv gewesen und hätte die Fehler dieser Organisation aufgezeigt. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass ihn die Hisbollah töten oder ihn zum Kämpfen zwingen werde.
15. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 22.09.2020 (AS 105 - 122) gab der BF sodann - zu seinen Ausreisegründen befragt - an, dass der Hauptgrund darin bestünde, dass in der Gegend von XXXX terroristische Gruppierungen herrschen würden. Der zweite Grund sei, dass er auf sozialen Medien sehr aktiv gewesen sei. Er hätte viel gegenüber der Hisbollah gepostet und deswegen eine Drohung erhalten. Libanon sei als Staat - wirtschaftlich, politisch, sozial und militärisch - sehr schlecht geworden. Die Lage im Libanon habe sich verschlechtert. Es gebe keine Redefreiheit. Die Parteien hätten das Land unter Kontrolle. Das seien die Hauptgründe. Es gebe eigentlich auch andere Gründe. Es habe mit den Freiheiten im Libanon zu tun.
Weitere Angaben zu seinen angeblichen ausreisekausalen Problemen machte der Beschwerdeführer nach entsprechenden Fragen und Vorhalten durch die Leiterin der Amtshandlung.
Abschließend wurde dem BF angeboten, die aktuellen Länderfeststellungen zu seinem Herkunftsstaat für die Abgabe einer Stellungnahme ausgehändigt zu erhalten. Der BF nahm diese Möglichkeit in Anspruch.
Der Beschwerdeführer brachte zudem in der Einvernahme vor dem belangten Bundesamt ein Konvolut an Unterlagen zu seiner schulischen bzw. akademischen Ausbildung im Libanon sowie zur Integration in Österreich (AS 123 - 143) in Vorlage.
16. Mit E-Mail vom 30.09.2020 langte eine Stellungnahme des BF zu den ihm ausgehändigten Länderinformationsquellen ein (AS 147). Hierbei wurde abermals auf den Einfluss der Hisbollah im Libanon verwiesen. Des Weiteren führte der BF aus, dass sich das Land in Richtung Bürgerkrieg bewege und die Explosion in Beirut das ganze Land in Mitleidenschaft gezogen habe.
17. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 08.10.2020 (AS 169 ff) wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Libanon abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Des Weiteren sprach das BFA aus, dass einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 18 Abs. 1 Z 6 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt werde.
Dem Fluchtvorbringen wurde die Glaubwürdigkeit versagt. In der rechtlichen Beurteilung wurde begründend dargelegt, warum der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr iSd § 8 Abs. 1 AsylG ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wurde und weshalb das BFA ausgesprochen habe, dass einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 18 Abs. 1 Z 6 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt werde.
18. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.10.2020 (AS 269 f, 275 f) wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und dieser ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
19. Gegen den oa. Bescheid des BFA erhob der Beschwerdeführer fristgerecht mit Schriftsatz
vom 03.11.2020 in vollem Umfang wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und stellte einen Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gem. § 17 Abs. 1 BFA-VG. Hinsichtlich des genauen Inhaltes der Beschwerde wird auf den Akteninhalt (VwGH 16. 12. 1999, 99/20/0524) verwiesen.
19.1. Zunächst wird der bisherige Verfahrensgang kurz wiederholt und hinsichtlich der Gründe für die Antragstellung auf das bereits im asylrechtlichen Verwaltungsverfahren Vorgebrachte verwiesen. Wie der BF dem BFA bereits geschildert habe, gehe die gegen ihn gerichtete Verfolgung auf seine kritische politische Anschauung gegen die in seiner Heimat politisch aktiven terroristischen Gruppierungen, insbesondere gegenüber Anhängern der islamistisch-schiitischen Partei namens „Hisbollah“, die er hierzulande in diversen sozialen Kanälen veröffentlicht hätte, zurück. Aufgrund seiner dort veröffentlichten kritischen Meinungsäußerung sei er eines Tages durch unbekannte Personen über diverse soziale Netzwerke verbal attackiert und sogar mit dem Tod bedroht worden. Zusammengefasst habe seine hierzulande praktizierte kritische Meinungsäußerung auf sozialen Medien gegen die zuvor genannte militärische Partei eine massive, asylrelevante und gegen ihn persönlich gerichtete Verfolgung von Seiten der Anhänger der Hisbollah-Partei ausgelöst. Der BF sei von deren Mitgliedern als Ungläubiger angesehen worden und sei aus diesem Grund einer massiven Gefährdung durch diese ausgesetzt. Eine Inanspruchnahme des Schutzes durch den syrischen (wohl richtig: libanesischen) Staat sei für den BF schon deswegen auszuschließen, da diese Gruppierung seit Jahrzehnten immer wieder Teil der libanesischen Regierung sei und somit die Verfolgung teilweise gerade von diesem ausgehe. In Anbetracht der tatsächlichen Situation würden im Libanon de facto keine effizienten Schutzmechanismen für die Bürger bestehen, sich vor Übergriffen militanter und terroristischer Gruppierungen effektiv zu schützen. Im Falle der Rückkehr in seine Heimat würde der BF in eine ausweglose Situation geraten, da kriminelle Terrorgruppen, wie etwa die Hisbollah, uneingeschränkt im gesamten Gebiet Libanons straflos vorgehen, terrorisieren und verfolgen würden, weshalb dem BF auch keine innerstaatliche Fluchtmöglichkeit zur Verfügung stehe. Auch in einem anderen Teil Libanons wäre das Leben des BF in größter Gefahr und Verfolgungsfreiheit wäre mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit für ihn nicht gegeben. Insbesondere auch als Rückkehrer aus Europa und aufgrund der Aufmerksamkeit der Hisbollah-Anhänger, welche daraus resultiere, wäre der BF als Ungläubiger einer besonderen Gefährdung durch diese Gruppierung ausgesetzt. Die Hisbollah sei ein Staat im Staat, welcher seinen Einfluss auf die nationale Politik ausgedehnt habe. Dies gehe unmittelbar auch aus den dem Bescheid zugrundegelegten Länderfeststellungen hervor.
19.2. Sollte dem Vorbringen des BF keine Asylrelevanz zugebilligt werden, so seien zumindest die Voraussetzungen der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gegeben. Allein die aktuelle, prekäre Sicherheitslage im Libanon mache den Eventualantrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten jedenfalls nachvollziehbar. Die Sicherheitslage im Libanon, sei es in Beirut oder in anderen Teilen des Landes, hänge zudem stark von den politischen Entwicklungen innerhalb des Libanon und den Aktivitäten der dort operierenden bewaffneten Militärterrororganisationen ab und verändere sich von Tag zu Tag. Die Lage sei in ganz Libanon äußerst volatil und kritisch. Sie könne jederzeit eskalieren und deshalb stünde dem BF somit auch keine Relokationsalternative offen, was auch aus den getroffenen Länderfeststellungen zur aktuellen Lage im Libanon auf der Seite 31 (unübersichtliche Lage durch die seit Oktober 2019 immer wieder stattfindenden Massenproteste) zu entnehmen sei.
19.3. Des Weiteren wird dargelegt, dass auch im Asylverfahren die AVG-Prinzipien der amtswegigen Erforschung des maßgeblichen Sachverhaltes und der Wahrung des Parteiengehöres gelten würden. Laut Judikatur des VwGH haben die im Asylwesen tätigen Spezialbehörde das ihnen zugängliche Wissen von Amts wegen zu verwerten und den für die Erledigung einer Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt festzustellen sowie den Parteien Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer Rechte und rechtlichen Interessen zu geben. Sollten dem BFA die vom BF erteilten Auskünfte doch nicht ausreichend gewesen seien, so liege dies daran, dass es das BFA unterlassen habe, den BF hinreichend detailliert zu befragen. Über Nachfrage des BFA wäre der BF im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht im Verfahren gerne dazu bereit gewesen, hierzu Stellung zu nehmen. Die Behörde habe es jedoch iSd § 18 AsylG unterlassen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt werden. Das Verfahren sei aus diesem Grund mit Mangelhaftigkeit behaftet. Die belangte Behörde habe es in ihrer Beweiswürdigung im Weiteren zur Gänze unterlassen, sich mit den Länderberichten zur Heimat des BF ausführlich auseinanderzusetzen.
19.4. Der BF habe knapp acht Jahre in Österreich verbracht und habe somit zu seinem Herkunftsstaat keinen Bezug mehr und keine persönliche Verbindung oder etwa soziale Anknüpfungspunkte, welche im Leben eines jungen Libanesen eine große Rolle spielen würden. Eine Abschiebung des BF in den Libanon sei diesem in Zusammenschau seiner gesamten Lebensumstände nicht zumutbar, da er aufgrund der persönlichen wie auch allgemeinen Situation und der derzeitigen Sicherheitslage unweigerlich in eine ausweglose Situation geraten würde. Ohne richtige Anbindung an ein soziales Netz und ohne Wohnraum sei es momentan im Libanon nicht möglich, sich eine Existenz aufzubauen, Arbeit und Unterkunft zu finden und sich den notwendigsten Lebensunterhalt zu verdienen. Außerdem stelle das BFA fest, dass sein Lebensmittelpunkt im Libanon liege, da seine Verwandten dort wohnhaft seien und somit beim BF familiäre Anknüpfungspunkte vorliegen würden. Wie aus dem Vorbringen des BF zu entnehmen sei, habe er seine Heimat bereits in jungem Alter verlassen. Aufgrund dessen habe der BF keinerlei Bindung mehr zu seinem Heimatland. Der BF sei seit 2013 in Österreich aufhältig und inzwischen stark in die österreichische Gesellschaft iSd Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK integriert. Der BF fühle sich mit dem Staat sehr tief verbunden und betrachte dieses Land bereits als seine neue Heimat. Er habe hier viele nette Menschen kennengelernt, welche ihn tagtäglich unterstützen würden und die er mittlerweile zu seinen Freunden zähle. Somit betrachte der BF die vorliegende Entscheidung als einen unverhältnismäßigen Eingriff in sein Privatleben in Österreich.
19.5. Abschließend wird beantragt,
- die hier angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, dass dem Antrag auf internationalen Schutz Folge gegeben und dem BF der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde;
- hilfsweise die hier angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, dass dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Libanon zuerkannt werde;
- jedenfalls die Abschiebung des BF nach Libanon für unzulässig zu erklären;
- hilfsweise dem BF einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. §§ 55, 56 AsylG zu erteilen;
- hilfsweise den angefochtenen Bescheid zur Gänze zu beheben und zur inhaltlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen;
- jedenfalls der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und
- eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.
19.6. Mit diesem Rechtsmittel wurde jedoch kein hinreichend substantiiertes Vorbringen erstattet, welches geeignet wäre, zu einer anderslautenden Entscheidung zu gelangen.
20. Am 23.11.2020 langten beim BVwG eine Anmeldebestätigung für eine Deutschprüfung Niveau B2 und zwei als „Clanbeweise“ titulierte Schriftstücke (samt einer Übersetzung) ein (OZ 7).
21. Beweis wurde erhoben durch die Einsichtnahme in den Verwaltungsakt des BFA unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, des Bescheidinhaltes sowie des Inhaltes der gegen den Bescheid des BFA erhobenen Beschwerde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Verfahrensbestimmungen
1.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), BGBl I 87/2012 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.
1.2. Anzuwendendes Verfahrensrecht
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 idF BGBl I 144/2013 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
Gem. §§ 16 Abs. 6, 18 Abs. 7 BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.
1.3. Prüfungsumfang
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Absatz 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
2. Zur Entscheidungsbegründung:
Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den gegenständlichen Verfahrensakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, des bekämpften Bescheides sowie des Beschwerdeschriftsatzes. Ferner durch Einsichtnahme in die wesentlichen Aktenbestandteile des fremdenrechtlichen Verfahrensaktes der belangten Behörde zum Verfahren des BF.
2.1. Auf der Grundlage dieses Beweisverfahrens gelangt das BVwG nach Maßgabe unten dargelegter Erwägungen zu folgenden entscheidungsrelevanten Feststellungen:
2.1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und dessen Fluchtgründen:
Der Beschwerdeführer ist libanesischer Staatsangehöriger und gehört der arabischen Volksgruppe sowie der christlichen Religionsgemeinschaft an.
Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und ist an dem angegebenen Datum geboren.
Der Beschwerdeführer stammt aus der Stadt XXXX im Landkreis XXXX . Etwa seit dem Zeitpunkt der Einvernahme vor der belangten Behörde am 22.09.2020 ist der BF mit einer österreichischen Staatsangehörigen liiert, die er etwa vier Monate vor dem Einvernahmetermin kennenlernte.
Der BF absolvierte im Libanon die Grundschule und eine technische höhere Schule. Er schloss im Jahr 2011 ein technisches Studium mit dem Bakkalaureat auf dem Gebiet der „Automechanik“ ab.
Von der Österreichischen Botschaft in Beirut wurde ihm am 31.12.2012 ein Visum C für Österreich, gültig von 01.01.2013 bis 30.04.2013, ausgestellt.
Er verließ am 11.01.2013 den Libanon ausgehend vom Flughafen Beirut und reiste am gleichen Tag unter Verwendung seines - mittlerweile abgelaufenen - Reisepasses über den Flughafen Wien nach Österreich ein.
Ihm wurde von der zuständigen Niederlassungsbehörde, dem XXXX , am 22.11.2012 eine Aufenthaltsberechtigung für Studierende, gültig bis 21.11.2013, erteilt. Mangels ausreichender finanzieller Mittel für den weiteren Aufenthalt wurde seine Aufenthaltsberechtigung für Studierende nicht verlängert. Seit Ablauf der Gültigkeit dieses Aufenthaltstitels hält er sich unrechtmäßig im Bundesgebiet auf.
Mit Bescheid des BFA vom 29.10.2018 wurde der Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG abgewiesen. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Libanon gemäß § 46 FPG zulässig ist und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 3 FPG gegen ihn ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von 14 Tagen zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt. Die fristgerecht eingebrachte Beschwerde gegen diesen Bescheid des BFA wurde mit Erkenntnis des BVwG, XXXX vom 15.01.2020 rechtskräftig als unbegründet abgewiesen.
Im Jahr 2013 war der BF bis zum Ablauf der Gültigkeit seines Aufenthaltstitels als Hilfsarbeiter geringfügig beschäftigt. Von Jänner bis April 2015 war er beim selben Arbeitgeber angemeldet, ob er dort im Hinblick auf seinen unrechtmäßigen Aufenthalt und deshalb fehlenden legalen Zugang zum Arbeitsmarkt tatsächlich auch erwerbstätig war, war nicht feststellbar.
Mit Mai 2015 wurde der BF an der Fachhochschule OÖ – University for Applied Sciences als externer Hörer zum Bachelor degree program „Automation Engineering“ zugelassen. Im Sommersemester 2013 sowie im Wintersemester 2015/16 inskribierte er dort den Studienbefähigungslehrgang „Vorstudienlehrgang Deutsch“.
Der BF wurde bis 2014 von seinen im Libanon lebenden Eltern finanziell unterstützt. Seither geht er Gelegenheitsarbeiten für Privatpersonen nach, von denen er finanziell unterstützt wird, und erhält einmal wöchentlich eine Vergütung als Plasmaspender.
Im Libanon leben seine Eltern. Seine Eltern leben mittlerweile getrennt, sein Vater - etwa 60 Kilomter von Beirut entfernt - in der Stadt XXXX , seine Mutter in Beirut, wo sie eine Wohnung gemeinsam mit ihrer eigenen Mutter bewohnt und einer Erwerbstätigkeit als Lehrerin für die französische Sprache in einer Schule wie auch privat nachgeht. Mit dem Vater besteht kein Kontakt mehr, mit der Mutter mehrmals im Monat.
Der Beschwerdeführer wurde im Libanon niemals von der Hisbollah oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen in seinem Herkunftsstaat oder in Österreich wegen seiner hier gesetzten Aktivitäten in den sozialen Medien bedroht. Der Beschwerdeführer hatte keinen Kontakt zur Hisbollah, er wird von dieser auch nicht gesucht.
Bei einer Rückkehr in den Libanon droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Hisbollah oder durch andere Personen.
Der Beschwerdeführer war im Libanon wegen seiner christlichen Religionszugehörigkeit konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr in den Libanon wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Christen konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
2.1.2. Zur Möglichkeit der Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Es konnten im konkreten Fall auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr liefe, im Libanon einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in den Libanon in eine existenzgefährdende Notsituation geraten würde. Nicht feststellbar war, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Heimat keine Existenzgrundlage zur Befriedigung seiner elementaren Lebensbedürfnisse hätte.
Im Entscheidungszeitpunkt konnte auch keine sonstige aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in seinem Heimatland festgestellt werden.
Der Beschwerdeführer leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung, befindet sich nicht in medizinischer Behandlung und nimmt keine Medikamente ein. Er ist gesund.
Sollte sich der Beschwerdeführer aber in seiner Herkunftsregion aufgrund der allgemein unsicheren Sicherheitssituation in der Bekaa-Ebene, vor allem in und um XXXX aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage, unsicher fühlen, so stünde ihm die Möglichkeit offen, seinen Wohnsitz nach Beirut zu verlegen.
Er hat mit Ausnahme seines nunmehrigen Aufenthaltes in Europa sein Leben zum überwiegenden Teil im Libanon verbracht, wo er sozialisiert wurde und und wo sich nach wie vor Verwandte aufhalten.
Es ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr bei seiner Familie - konkret bei seiner Mutter in Beirut - wohnen wird können. Davon abgesehen ist der Beschwerdeführer als arbeitsfähig und -willig anzusehen. Der Beschwerdeführer ist jung und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Er hat eine umfassende Schulbildung und verfügt über in Österreich erworbene Berufserfahrung, die er auch in Beirut nutzen wird können. Der Beschwerdeführer spricht Arabisch, Englisch, Italienisch, Deutsch sowie etwas Französisch.
Bei einer Rückkehr in den Libanon und einer neuerlichen Ansiedelung bspw. in der Stadt Beirut kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Beirut einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.
Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
2.1.3. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der § 382b oder § 382e EO.
2.1.4. Zur aktuellen Lage im Libanon war insbesondere unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer - seitens der belangten Behörde im Zuge der Einvernahme vom 22.09.2020 (AS 118) - offengelegten Quellen festzustellen:
Politische Lage
Libanon ist eine parlamentarische Demokratie nach konfessionellem Proporzsystem. Das politische System basiert auf der Verfassung von 1926, dem ungeschriebenen Nationalpakt von 1943 und dem im Gefolge der Taif-Verhandlungen am 30. September 1989 verabschiedeten „Dokument der Nationalen Versöhnung“ (AA 24.1.2020).
In diesem sogenannten Taif-Abkommen wurde festgelegt, dass die drei wichtigsten Ämter im Land auf die drei größten Konfessionen verteilt werden:
• Das Staatsoberhaupt muss maronitischer Christ sein
• Der Parlamentspräsident muss schiitischer Muslim sein
• Der Regierungschef muss sunnitischer Muslim sein (GIZ 3.2020)
Dieser Proporz bestimmt die gesamte Verwaltung und macht auch vor der Legislative nicht halt. Das Parlament mit seinen 128 Mitgliedern setzt sich nach dem Grundsatz der konfessionellen Parität wie folgt zusammen: 34 Maroniten, 27 Schiiten, 27 Sunniten, 14 griechisch-orthodoxe Christen, 8 Drusen, 8 melikitische/griechisch-katholische Christen, 5 orthodoxe Armenier, 2 Alewiten, 1 armenischer Katholik, 1 Protestant und 1 Vertreter einer Minderheit (GIZ 3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die konfessionelle Fragmentierung des Landes bewirkt eine äußere Abhängigkeit von den jeweiligen Schutzmächten der konfessionellen Gruppen. Dies reduziert die Souveränität des Staates (GIZ 3.2020). Bei der im Abkommen von Taif vorgesehenen allmählichen Entkonfessionalisierung des politischen Systems gibt es bisher allerdings keine Fortschritte (AA 24.1.2020).
Die Hizbollah, die „Partei Gottes“, ist - wie auch jetzt – seit Jahrzehnten immer wieder Teil der libanesischen Regierung. Sie tritt dabei jedoch nicht nur als politische Partei, sondern häufig auch als soziale Organisation auf, die mit ihrem Angebot an sozialen und medizinischen Hilfsleistungen ärmeren Menschen in Not hilft. Der bewaffnete Arm der Hizbollah kämpft in Syrien an der Seite der Truppen des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. Gleichzeitig stellt die Organisation das Existenzrecht Israels offen in Frage. Immer wieder kommt es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Hizbollah und Israel (DF 30.4.2020). Die Hisbollah macht gleichzeitig Geschäfte gegen und mit dem Gesetz, schmuggelt Drogen und kontrolliert die Zollstationen am Hafen von Beirut. Dabei hilft ihr ein weltweites Netzwerk von Unterstützern in der Diaspora (Zeit 6.5.2020).
Die Hizbollah wird von den Vereinigten Staaten als terroristische Gruppe eingestuft. In der EU stand bislang nur der militärische Arm der Hizbollah auf der Terrorliste, bis Deutschland den Kurs nun verschärft und auch den politischen Arm der Hizbollah als terroristische Vereinigung bewertet und ein Betätigungsverbot der Organisation in Deutschland verfügt hat (Spiegel 30.4.2020; vgl. Spiegel 5.5.2020; DailyStar 6.11.2019).
Das Parlament des Libanon ist konfessionsübergreifend in zwei politische Blöcke gespalten, die einander unversöhnlich gegenüberstehen:
? die von der schiitisch geprägten und vom Iran beeinflussten Hizbollah angeführte 8. März-Koalition und
? die eher westlich orientierte, sunnitisch geprägte und von Saad Hariri (Future Movement; arab.: (al-)Mustaqbal) angeführte 14. März-Bewegung (GIZ 3.2020).
Die traditionelle Feindschaft zwischen diesen beiden Blöcken wurde durch den Konflikt im benachbarten Syrien zusätzlich vertieft. Die Polarisierung zwischen den beiden Lagern lähmt das Land politisch und ökonomisch, verstärkt konfessionelle Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten (GIZ 3.2020). Aufgrund schwer erzielbarer Mehrheiten war es auch jahrelang nicht möglich, ein Wahlgesetz zu verabschieden. Dies führte dazu, dass die Parlamentswahl 2013 ausgesetzt und das Mandat der Abgeordneten mehrfach verlängert wurde (GIZ 3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Am 31. Oktober 2016 wurde schließlich nach zweieinhalb Jahren und 45 gescheiterten Versuchen ein neuer Präsident gewählt. Mit der Wahl des maronitischen Christen Michel Aoun kam Bewegung in die libanesische Politik. Da Aoun als Kandidat der schiitischen Hizbollah für das Amt des Präsidenten galt, wurde er zunächst von Premierminister Saad Hariri abgelehnt. Dessen Zustimmung erfolgte erst, als Aoun Hariri im Gegenzug beauftragte, eine neue Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Diese wurde schließlich am 19. Dezember 2016 vereidigt (GIZ 3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Im Juni 2017 konnte man sich schließlich auf ein neues Wahlrecht einigen. Dieses sieht unter anderem eine Ablöse des Mehrheitswahlrechts durch das Verhältniswahlrecht vor. Hierdurch sollten kleinere Parteien und Wählergruppen gestärkt werden. Das Wahlgesetz enthält jedoch zahlreiche Einschränkungen der Verhältniswahl wie beispielsweise eine sehr hohe Einzugshürde bei zehn Prozent. Positiv ist jedoch, dass die Parteien nun faktisch gezwungen werden, konfessionsübergreifende Listen zu bilden (GIZ 3.2020).
Am 6. Mai 2018 fanden nach jahrelanger Pattstellung erstmals seit 2009 erneut Parlamentswahlen statt. 77 Listen mit insgesamt 597 Kandidaten waren für die Wahl um 128 Parlamentssitze in 26 Distrikten registriert. Die Anzahl der weiblichen Kandidaten nahm gegenüber der letzten Wahl auf 86 zu und betrug somit nun 14,4 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 49,2 Prozent. Die offiziellen Ergebnisse weisen die Sitze wie folgt zu: Future Movement [Anm.: arab. - (al-)Mustaqbal] 21; Free Patriotic Movement 20; Amal 17; Lebanese Forces 15; Hizbollah 12; Progressive Socialist Party 8; die "Determination (Azem)" Bewegung des ehemaligen Premierministers Mikati 4; Marada, die Syrian Social Nationalist Party, Kataeb und Tashnaq jeweils 3 Sitze. Zum ersten Mal gewann ein Kandidat der Zivilgesellschaft einen Sitz durch die Wahlliste "Koulouna Watani" in Beirut. Die Zahl der gewählten Frauen im Parlament stieg von vier auf sechs (UNSC 13.7.2018).
Die Hizbollah und ihre politischen Verbündeten - darunter auch das „Free Patriotic Movement“ (FPM), eine christliche Partei unter der Führung von Präsident Michel Aoun, die knapp zwanzig Sitze erringen konnte (AA 24.1.2020), besetzen nach dieser Wahl knapp die Hälfte der 128 Sitze im Parlament, während der vom Westen unterstützte sunnitische Saad al-Hariri (Premierminister bis Ende 2019, Anm.) mit 21 Parlamentsmitgliedern immer noch Führer des größten politischen Blocks ist (RFE 7.5.2018; vgl. ICG 9.6.2018). Der bisherige Premier Hariri wurde trotz Wahlverlusten neuerlich damit beauftragt, eine Regierung zu bilden (GIZ 3.2020).
Aufgrund der zunehmend prekären wirtschaftlichen Situation kam es schon Mitte Oktober 2019 zu massiven Protesten gegen Korruption und Misswirtschaft (Standard 12.2.2020; vgl. FAZ 24.1.2020). Ende Oktober gab Regierungschef Saad Hariri schließlich angesichts der Massenproteste auf und trat zurück (FAZ 24.1.2020).
Ende Januar 2020 wurde schließlich eine neue Regierung gebildet. Der neue Premierminister Hassan Diab wollte sich mit seiner technokratischen Regierung für umfassende Wirtschaftsreformen einsetzen. Diab selbst kam dank der Unterstützung der Hizbollah, der Amal-Bewegung und der Freien Patriotischen Bewegung von Präsident Michel Aoun an die Macht, die nun mit einigen kleineren Parteien gemeinsam über eine parlamentarische Mehrheit verfügten. Pro-westliche politische Rivalen wie etwa Hariris Future Movement, die größte sunnitische Partei des Landes, unterstützten die Regierung nicht (ECFR 4.2.2020).
Am 4. August 2020 ereignete sich im Hafen von Beirut eine verheerende Explosion mit mindestens 180 Toten und rund 6.000 Verletzten. 300.000 Menschen wurden obdachlos und große Teile der Stadt wurden stark beschädigt. Tausende zogen in der Folge zu Protesten auf die Straßen und forderten eine umfassendere Aufklärung der Hintergründe der Explosion. Die Regierung von Ministerpräsident Hassan Diab trat zurück (Standard 17.8.2020), nachdem dieser die endemische Korruption für die verheerende Explosion verantwortlich gemacht hatte (AJ 10.8.2020). Am 31. August 2020 wurde Mustapha Adib, bislang libanesischer Botschafter in Deutschland, von Staatspräsident Michel Aoun mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt (Spiegel 31.8.2020; vgl. Standard 31.8.2020).
Adib ist Sunnit, das ist gemäß Verfassung des Landes die Bedingung für den Premierposten. Sowohl die sunnitische Zukunftspartei von Ex-Premier Saad Hariri als auch die schiitische Hisbollah mit ihren Verbündeten sowie die maronitische Patriotenbewegung von Präsident Michel Aoun haben sich bereits öffentlich hinter Adib gestellt (Standard 31.8.2020, vgl. CNN 31.8.2020), was die Protestbewegung prompt als Fortsetzung des gescheiterten Proporzsystems ablehnte (Zeit 31.8.2020).
Sicherheitslage
Die libanesische Regierung hat weder die vollständige Kontrolle über alle Regionen des Landes noch über die Grenzen zu Syrien und Israel. Nach wie vor kontrolliert die Hizbollah den Zugang zu bestimmten Gebieten und hat überdies Einfluss auf einige Elemente innerhalb der libanesischen Sicherheitsdienste. Die Al-Nusrah-Front, der sogenannte Islamische Staat (IS) und andere sunnitische Terrorgruppen operierten auch 2019 weiterhin in unkontrollierten Gebieten entlang der unmarkierten libanesisch-syrischen Grenze. Andere terroristische Gruppen wie die Hamas, die Volksfront für die Befreiung Palästinas, das Generalkommando der Volksfront für die Befreiung Palästinas, Asbat al-Ansar, Fatah al-Islam, Fatah al-Intifada, Jund al-Sham, der Palästinensische Islamische Dschihad und die Abdullah-Azzam-Brigaden operierten weiterhin in Gebieten mit begrenzter Regierungskontrolle, vor allem in den 12 palästinensischen Flüchtlingslagern. Diese Lager werden als sichere Zufluchtsorte genutzt und sie dienen als Waffenverstecke (USDOS 24.6.2020a). Der staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen, wird deren Sicherheit teilweise durch palästinensische bewaffnete Ordnungskräfte und Volkskomitees gewährleistet, die von der jeweils politisch bestimmenden Fraktion gestellt werden. Das deutsche Außenamt berichtet von teils schweren Auseinandersetzungen, zuletzt zwischen verschiedenen Palästinenserfraktionen in den Lagern Ain El-Hilweh und Mieh-Mieh. Das Lager Nahr el-Bared stellt insofern eine Ausnahme dar, da es unter libanesischer Kontrolle steht. Allerdings beschränkt sich die libanesische Armee auf Zugangskontrollen und die Sicherung der Umgebung (AA 24.1.2020).
Der Libanon und Israel befinden sich offiziell noch im Krieg. An der gemeinsamen Grenze im Südlibanon kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah (ORF 26.8.2020).
Es besteht ein hohes Risiko von nicht explodierten Bomben und Minen (MAG o.D.). Im September 2019 kam es dort nach der Aufdeckung von Tunnelanlagen durch israelisches Militär kurzfristig zu erhöhten Spannungen und gegenseitigem Artilleriebeschuss zwischen der Hizbollah und der israelischen Armee. Die Hizbollah beschoss israelische Militärstellungen und -fahrzeuge nahe der Ortschaft Avivim mit mehreren Panzerabwehrlenkraketen. Israel reagierte seinerseits mit Artilleriebeschuss auf Ziele im südlichen Libanon. Nach wenigen Stunden wurden die Gefechte beidseitig wieder eingestellt (AA 24.1.2020).
Die Bekaa-Ebene ist bekannt für Waffen- und Drogenhandel (Al Ahram 13.2.2020).
Die Sicherheitslage in der Bekaa-Ebene hat sich durch den bewaffneten Konflikt in Syrien zunehmend verschlechtert. Es sind bewaffnete Gruppierungen aktiv, und Grenzüberschreitungen durch Kämpfer sind häufig. Es kommt regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen der Armee und militanten Gruppen, vor allem in und um Ersal, Ras Baalbek und Qaa. Spannungen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen, aber auch innerhalb einzelner Gemeinschaften, können sich in bewaffneten Konfrontationen oder Anschlägen entladen (EDA 12.8.2020). In der Provinz Baalbek-Hermel gab es neben solchen Entführungen auch Plünderungen und Mordanschläge (Asharq al-Awsat 22.9.2019). Hermel gilt als Hochburg der Hizbollah (Al Ahram 13.2.2020).
Die Spannungen im Nordlibanon (insbesondere um die Stadt Tripoli und in der Region Akkar) haben sich durch den Konflikt in Syrien und die Ankunft zahlreicher Flüchtlinge weiter verschärft. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen verschiedenen politisch-religiösen Gruppierungen. Die Gefahr von Anschlägen und einer Eskalation der Lage ist groß (EDA 12.8.2020).
Die libanesische Armee (Lebanese Armed Forces - LAF) trägt die Hauptverantwortung für die Sicherung der Land- und Seegrenzen des Libanon, während das „Directorate of General Security“ (DGS) und der Zoll für die offiziellen Einreisepunkte zuständig sind. Die Effizienz der Kontrollen der Landgrenze des Libanon mit Syrien konnte in letzter Zeit durch ein von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und Kanada finanziertes Landgrenzsicherungsprojekt gesteigert werden, was die Festnahme von aus Syrien einreisenden IS-Mitgliedern ermöglichte (USDOS 24.6.2020b).
Infolge der Krise in Syrien haben die destabilisierenden regionalen, politischen und konfessionellen Spannungen deutlich zugenommen. So ist die Hizbollah erklärtes Ziel sunnitischer Extremisten, die sich mit Selbstmordanschlägen gegen schiitische Wohn- und Einflussgebiete für den Kampf der Schiiten-Miliz an der Seite von Baschar al-Assad in Syrien rächen wollen. Die größte christliche Partei des Landes (Free Patriotic Movement) ist demgegenüber politisch mit der Hizbollah verbündet und betrachtet diese als Stabilisierungsfaktor für Libanon und seine religiösen Minderheiten. Die politische und militärische Rolle von Hizbollah, die zumindest in ihren Hochburgen auch soziale, politische und sicherheitsbehördliche Aufgaben wahrnimmt, bleibt damit struktureller Streitpunkt für den Libanon (AA 24.1.2020).
Bei der von der UN geforderten Abrüstung aller bewaffneten Gruppen einschließlich der palästinensischen Milizen und dem militärischen Flügel der Hizbollah konnten bislang keine Fortschritte erzielt werden. Die Hizbollah bestätigte immer wieder, über entsprechende militärische Kapazitäten zu verfügen. Die libanesische Regierung ist somit weiterhin nicht in der Lage, die volle Souveränität und Autorität über ihr Territorium auszuüben (UNSC 13.7.2018).
Die allgemeine Sicherheitslage ist insbesondere durch die seit Oktober 2019 immer wieder stattfindenden Massenproteste und Verkehrsblockaden unübersichtlicher geworden (AA 24.1.2020). Der Zorn der Demonstranten konzentriert sich auf die wahrgenommene Korruption libanesischer Politiker, die das Land seit dem Bürgerkrieg von 1975-1990 beherrscht haben (DailyStar 6.11.2019). Im Zuge der Demonstrationen kommt es insbesondere in Beirut immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Straßenschlachten mit der Polizei, die zum Teil zahlreiche Verletzte fordern (Spiegel 20.1.2020; vgl. Zeit-Online 7.8.2020). Auch in der Hafenstadt Tripoli kam es zu schweren Auseinandersetzungen (Tagesspiegel 29.4.2020).
Rechtsschutz / Justizwesen
Die Verfassungsinstitutionen, insbesondere Parlament, Regierung und Justizwesen, funktionieren im Prinzip nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, sind aber in ihrer tatsächlichen Arbeit politischen Einflussnahmen ausgesetzt. Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung zwar festgeschrieben, wird in der Praxis aber nur eingeschränkt respektiert; insbesondere in politisch brisanten Ermittlungsverfahren kommt es zu Versuchen der Einflussnahme auf die Justiz, z.B. bei der Ernennung von Staatsanwälten und Ermittlungsrichtern oder zum Schutz politischer Parteigänger vor Strafverfolgung. Neben den in mehrere Instanzen gegliederten und strukturell dem französischen Justizwesen angeglichenen Zivilgerichten existieren im Libanon konfessionelle Gerichtsbarkeiten, in deren Zuständigkeit die familienrechtlichen, bei den islamischen Religionsgemeinschaften auch die erbrechtlichen Verfahren fallen (AA 24.1.2020). Personen, die an zivil- und strafrechtlichen Routineverfahren beteiligt waren, baten manchmal um die Unterstützung prominenter Personen, um den Ausgang ihrer Verfahren zu beeinflussen (USDOS 11.3.2020). Die Einhaltung der in der Verfassung garantierten richterlichen Unabhängigkeit ist in der praktischen Durchführung durch verbreitete Korruption, chronischen Mangel an qualifizierten Richtern und zum Teil auch politische Einflussnahme eingeschränkt (AA 24.1.2020). Politische Führer versuchten zeitweise, die richterliche Behandlung politisch aufgeladener Fälle zu beeinflussen, und gegensätzliche politische und konfessionelle Fraktionen werfen sich jeweils unzulässige Einflussnahme vor. Beginnend mit Februar 2019 laufen auch Ermittlungen wegen des Vorwurfs der Korruption, Bestechung und Manipulation von Gerichtsakten innerhalb der Sicherheits- und Justizorgane (USDOS 11.3.2020).
- Eine Strafverfolgungs- und Strafbemessungspraxis, die nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität diskriminiert, ist im Libanon nicht gegeben. Allgemeine kriminelle Delikte werden im Rahmen feststehender straf- bzw. strafprozessrechtlicher Vorschriften nach insgesamt weitgehend rechtsstaatlichen Prinzipien verfolgt und geahndet (AA 24.1.2020).
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- Fragen des Personenstands werden nach wie vor in 15 separaten Personenstandsgesetzen geregelt, von denen keines die Grundrechte garantiert und in denen Frauen durchwegs diskriminiert werden (HRW 3.8.2020), und zwar in in Bezug auf die Ehe, das Sorgerecht für die Kinder, das Erbrecht und die Scheidung (USDOS 10.6.2020).
Anm.: Nähere Ausführungen hierzu sind dem Abschnitt „17. Frauen" zu entnehmen.
Das Rechtssystem unterscheidet im Strafrechtsbereich zwischen ordentlichen und Militärgerichten. Delikte gegen die Staatssicherheit, gegen das Militär oder deren Angehörige unterliegen dem Militärrecht (AA 24.1.2020). Diese sind zuständig für Fälle, an denen Militär-, Polizei- und Regierungsbeamte beteiligt sind, sowie für Fälle, in denen Zivilpersonen oder Militärs der Spionage, des Hochverrats, des Waffenbesitzes, der Wehrpflichtverletzung und der Begehung von Delikten gegen die Staatssicherheit, das Militär oder deren Angehörige bezichtigt werden. Es kann auch Zivilpersonen wegen Sicherheitsvorwürfen oder wegen Verstößen gegen den Militärkodex vor Gericht stellen (USDOS 11.3.2020). Die Zuständigkeiten der Militärgerichtsbarkeit werden vor allem beim Vorwurf des Terrorismus bzw. bei terroristischen Delikten mit islamistischem Hintergrund oftmals sehr extensiv ausgelegt. Militärgerichte verurteilen auch zivile Angeklagte wegen terroristischer Delikte mit islamistischem Hintergrund oft in Schnellverfahren und ohne ausreichenden Rechtsbeistand (AA 24.1.2020). Zivilgerichte können zwar auch über Militärangehörige verhandeln, aber das Militärgericht verhandelt diese Fälle häufig, auch bei nicht mit dem offiziellen Militärdienst in Zusammenhang stehenden Anklagen, oftmals in Schnellverfahren und ohne ausreichenden Rechtsbeistand. Menschenrechtsaktivisten äußerten die Befürchtung, dass solche Verfahren das Potenzial für Straflosigkeit schaffen (USDOS 11.3.2020).
Seit Jahren wird - wenn bislang auch ohne greifbare Fortschritte - erwogen, alle Militärverfahren ordentlichen Gerichten zu übertragen (AA 24.1.2020).
Regierungsführung und Justiz in den palästinensischen Lagern waren sehr unterschiedlich, wobei die meisten Lager unter der Kontrolle von gemeinsamen palästinensischen Sicherheitskräften standen, die mehrere Fraktionen vertraten (USDOS 11.3.2020).
Palästinensische Gruppen betreiben in den Flüchtlingslagern ein autonomes Justizsystem, das für Außenstehende meist undurchsichtig ist und sich der Kontrolle des Staates entzieht. Beispielsweise versuchten lokale Volkskomitees in den Lagern, Streitigkeiten durch informelle Vermittlungsmethoden zu lösen, überwiesen die betreffenden Personen im Falle schwerwiegender Vergehen (wie z.B. Mord und Terrorismus) aber gelegentlich zur Verhandlung an die staatlichen Behörden (USDOS 11.3.2020).
Sicherheitsbehörden
Die führenden Positionen in den Sicherheitsbehörden werden u.a. nach konfessionellem Proporz vergeben. Die dem Innenministerium unterstehenden Forces de Sécurité Intérieure (FSI) [auch „Internal Security Force“ – ISF, Anm.] sind die allgemein zuständige Polizei und gleichzeitig auch Hilfsorgan der Justiz (z.B. zum Führen des Kriminalregisters). Sie wird durch einen sunnitischen General geleitet und steht dem ebenfalls sunnitischen Innenminister nahe. Die schiitisch geprägte Sûreté Générale (SG) übt neben Fragen der Ein- und Ausreisekontrollen auch eine nachrichtendienstliche Funktion aus. Ihr Leiter wird der AMAL-Partei von Parlamentspräsident Berri zugeordnet. Ein Polizeigesetz im engeren Sinne gibt es nicht (AA 24.1.2020).
Das Verhältnis zwischen den Bürgern und den staatlichen Sicherheitsbehörden, einschließlich des ISF und der Sûreté Générale (SG) ist nicht immer vertrauensvoll. Es wird beklagt, dass die Sicherheitsinstitutionen wie viele andere Staatsorgane von dem selben Klientelismus betroffen sind, der den Libanon als Ganzes durchzieht. Dieser Umstand stellt die Unparteilichkeit der Polizei in Frage. Auf der anderen Seite hat der Strategische Plan 2018-2022 des ISF die Organisation zu einem allgemeinen Wechsel zu mehr Verantwortlichkeit und Schutz der Menschenrechte verpflichtet. Die Verwirklichung solcher Ambitionen wird natürlich einige Zeit in Anspruch nehmen und nicht ganz reibungslos vor sich gehen (MEI 23.1.2019).
Das General Directorate for State Security (GDSS), das an den Premierminister berichtet, ist für Spionage und Staatssicherheit verantwortlich (USDOS 11.3.2020).
Die Lebanese Armed Forces (LAF) unter der Führung des Verteidigungsministeriums sind für die äußere Sicherheit verantwortlich, aber auch zur Festnahme von Verdächtigen aus Gründen der nationalen Sicherheit befugt. Sie inhaftierten auch mutmaßliche Drogenhändler, führten die Überwachung von Protesten durch, setzten Bauvorschriften im Zusammenhang mit Flüchtlingsunterkünften durch und intervenierten, um Gewalt zwischen rivalisierenden politischen Fraktionen zu verhindern. Die zivilen Behörden behielten die Kontrolle über die Streitkräfte der Regierung (USDOS 11.3.2020). Im Gegensatz zu den anderen Sicherheitskräften gilt die Armee trotz eines stets christlichen Oberbefehlshabers und zahlreicher christlicher Generäle als parteipolitisch und konfessionell weitgehend neutral und genießt grundsätzlich hohes Ansehen in allen Bevölkerungsteilen. Sie nimmt - beispielsweise durch zahlreiche Kontrollpunkte - auch Aufgaben der inneren Sicherheit wahr (AA 24.1.2020).
Daneben gibt es noch mehrere vorwiegend nachrichtendienstlich tätige Sicherheitsbehörden (Amn ad-Daula – Staatssicherheit; Amn al-Dschaisch – militärische Sicherheit; Sicherheitsdienst der Quwat al-Amn ad-Dakhili – Polizeikräfte; Nachrichtendienstliche Abteilung der Sûreté Générale). Alle genannten Institutionen und Dienste arbeiten verstärkt zusammen, auch wenn die Abgrenzung ihrer Kompetenzen nicht immer klar ist. Ihre Professionalisierung wird auch deutlich dahingehend beschränkt, dass bestimmte Institutionen einer bestimmten Konfession und somit dem entsprechenden politischen Lager zuzuordnen sind. Die daraus resultierenden Loyalitäten beeinflussen teilweise spürbar deren Arbeit (AA 24.1.2020).
Zudem haben die staatlichen Institutionen in Teilen des Landes keinen uneingeschränkten Zugriff (AA 24.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Zum Beispiel übernimmt die Hizbollah zumindest in ihren Hochburgen, d.h. in Teilen der Bekaa-Ebene, in südlichen Beiruter Vororten und Teilgebieten des Südens faktisch auch Aufgaben der Sicherheitsbehörden. Parallel bestehen kleinere bewaffnete Milizen der AMAL-Partei des Parlamentspräsidenten Nabih Berri, drusische Bürgerwehren sowie christliche Milizen (etwa in Nähe zur Kataeb-Partei oder zur griechisch-orthodoxen Kirche), die sich zuletzt im Spätsommer 2015 auch an Kampfhandlungen gegen aus Syrien einsickernde sunnitische Extremisten beteiligt haben (AA 24.1.2020).
Folter und unmenschliche Behandlung
Das Gesetz v