Entscheidungsdatum
04.12.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W159 2182324-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.12.2017, Zl. XXXX RD Oberöstereich, Aussenstelle Linz, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.12.2019 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
III. In Stattgabe der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) auf Dauer unzulässig ist.
IV. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 58 Abs. 2 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung Plus“ erteilt.
V. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Moslem, gelangte illegal ins österreichische Bundesgebiet und stellte am 25.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am gleichen Tag wurde er dazu vor der Landespolizeidirektion (LPD) Oberösterreich, Polizeiinspektion XXXX einer niederschriftlichen Erstbefragung zugeführt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen an, dass sein Onkel mütterlicherseits, eine einflussreiche Persönlichkeit, ihn zwingen hätte wollen mit ihm im Drogenhandel zusammenzuarbeiten. Der Beschwerdeführer hätte sich geweigert und sei mit dem Tod bedroht worden.
Am 15.03.2017 wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mitgeteilt, dass für den Beschwerdeführer eine Beschäftigungsbewilligung (Erntehelfer) ausgestellt wurde. Am 23.10.2017 brachte der Beschwerdeführer sein Sammelzeugnis über eine Höhere Schule in Vorlage. Am 6.11.2017 übermittelte der Beschwerde das ÖSD Zertifikat A1 (bestanden am 26.07.2016), das ÖSD Zertifikat A2 (bestanden am 02.02.2017) sowie div. Kursbestätigungen und Lohnbestätigungen (Erntehelfer).
Am 17.11.2017 wurde der Beschwerdeführer vor BFA, Regionaldirektion (RD) Oberösterreich, Außenstelle Linz, im Beisein einer Vertrauensperson und eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Er gab an wegen Magenproblemen seit zwei Jahren Medikamente zu nehmen. Der Beschwerdeführer gab zu Protokoll, er sei afghanischer Staatsangehöriger und in der Provinz Kabul, im Ort XXXX geboren worden. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei sunnitischer Moslem. Er habe die Tazkira der Behörde vorgelegt. Zu seinem Fluchtgrund gab er an, er habe nie vorgehabt Afghanistan zu verlassen. Sein Vater sei verstorben, er sei vom Bruder der Mutter des Beschwerdeführers getötet worden. Die Mutter und sein Bruder würden in der Türkei leben. Die finanzielle Situation sei gut gewesen, der Beschwerdeführer gab an, er habe für seinen Lebensunterhalt gearbeitet.
Nachgefragt gab der Beschwerdeführer zu Protokoll er sei in seinem Heimatland weder inhaftiert worden noch hätte er Probleme mit den Behörden gehabt. Es bestünde gegen ihn keine staatlichen Fahndungsmaßnahmen, er sei nicht politisch tätig gewesen, er sei kein Mitglied einer politischen Partei gewesen, er habe keine Probleme aufgrund seiner Religionszugehörigkeit oder Volksgruppenzugehörigkeit gehabt, er habe auch keine Probleme mit Privatpersonen (Blutfehde, Racheakte, etc.) gehabt und habe an keinen bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen teilgenommen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt erzählte der Beschwerdeführer seine Mutter hätte seinen Vater beim Studium in Russland kennengelernt und gegen den Willen des Onkels mütterlicherseits geheiratet. Der Onkel hätte sich danach in die Ehe der Eltern des Beschwerdeführers eingemischt. In der Folge hätte der Onkel den ältesten Bruder des Beschwerdeführers zu Straftaten, wie etwa Drogenhandel angestiftet, da er seinen Lebensunterhalt auf diese Weise verdient hätte. Der Bruder des Beschwerdeführers sei in Arabien inhaftiert gewesen und nach Erreichung seiner Volljährigkeit geköpft worden. Der Vater des Beschwerdeführers sei im Zuge einer Auseinandersetzung mit dem Onkel mütterlicherseits getötet worden. Die Onkel väterlicherseits hätten keine Hilfe leisten können, da der Onkel mütterlicherseits in guten Kontakt einerseits mit der Regierung, andererseits mit den Taliban gestanden sei. Aus diesen Grund sei die Familie etwa zweieinhalb Jahre nach dem Tod des Vaters nach Pakistan geflüchtet. Dort habe sie der Onkel mütterlicherseits ausfindig gemacht. Er hätte den großen Bruder zwingen wollen mit Drogen zu handeln und die Schwester des Beschwerdeführers hätte er mit einem alten Mann verheiraten wollen. Nach der Rückkehr der Familie nach Afghanistan hätten die Probleme mit dem Onkel mütterlicherseits nicht aufgehört. Die Schwester des Beschwerdeführers heiratete dann jemanden, dem auch die Mutter zugestimmt hätte. Der Onkel mütterlicherseits sei sehr freundlich gewesen. Er habe den Beschwerdeführer angestiftet im Diplomatenviertel für ihn zu spionieren. Als Sprengstoffanschläge vereitelt wurden, sei der Onkel mütterlicherseits sehr wütend geworden und habe die Familie geschlagen, weil er gedacht hätte, der Beschwerdeführer hätte seine Freunde verraten. Da der Onkel mütterlicherseits seiner Familie gedroht hätte, sei die Mutter des Beschwerdeführers mit ihren Söhnen ausgereist.
Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid vom 01.12.2017 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. §§ 3 Abs. 1 bzw. 8 Abs. 1 jeweils iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 leg. cit. nicht (Spruchpunkt III.), erließ gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG; Spruchpunkt IV.), stellte gem. § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und setzte gem. § 55 Abs. 1–3 die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).
Beweiswürdigend führte das BFA aus, es hätte sich aus den Ausführungen zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers keine asylrelevante Verfolgung ableiten lassen. Hierzu wurde angeführt, dass die Mutter und der Bruder des Beschwerdeführers sowie der Beschwerdeführer legal aus Afghanistan ausgereist seien. Auch hätte sich der Beschwerdeführer bei den Schilderungen zu der Ausreise nach Afghanistan widersprochen. Er hätte die Probleme mit seinem Onkel der belangten Behörde nicht glaubhaft darlegen können. Da im gesamten Staatsgebiet Afghanistans aufgrund der Länderfeststellungen keine allgemeine Gefahr festgestellt werden hätte können, gehe das BFA davon aus, dass im Heimatstaat des Beschwerdeführers keine individuelle bzw. konkrete Bedrohung i.S. des Art. 2 bzw. 3 EMRK drohe.
Rechtlich begründend führte das BFA zu den Spruchpunkten I. und II. aus, dass der Beschwerdeführer keinen asylrelevanten Fluchtgrund nach der Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug auf sein Heimatland glaubhaft machen hätte können. Der Verwaltungsgerichshof verlange exzeptionelle Umstände für die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art 3 EMRK. Der Beschwerdeführer sei gesund und arbeitsfähig, könne Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und eine in Kabul fehlende familiäre Anknüpfung führe nicht zu einer Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative bzw. zu einer realen Gefahr einer Verletzung im Sinne des Art. 3 EMRK. Zu Spruchpunkt III. hielt es rechtlich fest, § 57 AsylG 2005 sei nicht erfüllt. In der Begründung zu Spruchpunkt IV. kam das BFA nach Durchführung einer Interessenabwägung iSd Art. 8 EMRK zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers überwiegen würden und daher die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig sei. Zu Spruchpunkt V. führte das BFA mit näherer Begründung aus, dass sich keine Gründe nach § 50 Abs. 1–3 ergeben hätten, weshalb die Abschiebung zulässig sei. Spruchpunkt VI. begründete das BFA damit, dass keine Gründe hervorgekommen seien, wonach eine längere als die 14tägige Frist gesetzt hätte werden können.
Dagegen erhob der Beschwerdeführer durch die XXXX innerhalb offener Frist gegenständliche Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin wurde neben einer Wiederholung des Vorbringens die Verletzung von Verfahrensvorschriften vorgebracht. Es sei auch ein Nachfluchtgrund nach den „UNHCR eligibility guidelins for assessing the international protection needs of asylum“ – der Beschwerdeführer sei als „westernized“ anzusehen - entstanden. Die Beschwerde führt weiters aus, bei richtiger rechtlicher Beurteilung hätte das BFA erkennen müssen, dass eine Abschiebung eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers nach Art. 3 EMRK bedeuten würde, weshalb das BFA dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten hätte zuerkennen müssen. Zudem sei der Beschwerdeführer so gut in Österreich integriert, dass bei einer Abschiebung Art. 8 EMRK verletzt würde.
Die Beschwerde beantragt, dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten, in eventu, den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu, festzustellen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und daher festzustellen, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Aufenthaltsberechtigung (plus) vorlägen und daher ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen sei, in eventu, die oa. Spruchpunkte des Bescheides zu beheben und (gemeint: das Verfahren) zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen sowie zur gebotenen Ergänzung des mangelhaft gebliebenen Ermittlungsverfahrens jedenfalls eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.
Das Bundesverwaltungsgericht führte eine solche antragsgemäß am 17.12.2019 durch. An der Verhandlung nahmen der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertretung: XXXX , eine Zeugin und eine Dolmetscherin teil. Ein Vertreter des BFA war entschuldigt nicht erschienen.
Folgende Dokumente und Schreiben wurden vorgelegt: Deutschzertifikat B1 B, Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs B2, weiters Studienbestätigung der XXXX samt Lehrveranstaltungszeugnissen, Bestätigung der XXXX über gemeinnützige Tätigkeit, Bestätigungen der Gemeinde XXXX über gemeinnützige Tätigkeit, Einsatzdokumentation über gemeinnützige Tätigkeit, Bestätigung der XXXX über freiwilligere Arrangement und gemeinnützige Tätigkeit, diverse Empfehlungsschreiben sowie eine Fotodokumentation über einen Ferienworkshop mit Kindern.
BF legte weiters eine Fotodokumentation „Mein Leben in Österreich“ vor. In diese wurde Einsicht genommen. Die Rechtsvertretung beantragte die Einvernahme der Zeugin XXXX zum Beweis des Privatlebens in Österreich.
Der Beschwerdeführer hielt die Beschwerde und sein bisheriges Vorbringen aufrecht. Der Beschwerdeführer gab an, er sei bei der Erstbefragung zu Missverständnissen gekommen, die er versuchen werde richtig zu stellen.
Der Beschwerdeführer gab an er sei afghanischer Staatsangehöriger, Tadschike und sunnitischer Moslem. Er würde seine Religion auch in Österreich ausüben. Seine Familie sei religiös, die Familie väterlicherseits sowie mütterlicherseits. Ein Teil der Familie mütterlicherseits sei streng gläubig. Er sei ledig und habe keine Kinder.
Befragt gab der Beschwerdeführer weiters an, er sei am XXXX in Kabul geboren worden (umgerechnet ist es der XXXX ). Von seiner Geburt bis ungefähr zu seinem sechsten Lebensjahr hätte er in Kabul gelebt. Er sei etwa vier oder fünf Jahre alt gewesen, als sein Vater verstorben sei. Mit etwa sechs Jahren sei er mit meiner Familie nach Pakistan ( XXXX ) gezogen, wo sie etwa acht bis neun Jahre gelebt hätten. Nach dem Talibanregime seien sie wieder nach Kabul zurückgekehrt und dort sei er bis zu seiner Ausreise verblieben.
Er gab an, er hätte in Pakistan die 10. Schulstufe abgeschlossen. Nach der Rückkehr nach Afghanistan hätte er bis zur 12. Schulstufe absolviert und die Matura abgelegt. Er habe Politikwissenschaften studiert, hätte jedoch sein Studium aufgrund von Problemen nicht beenden können. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, er hätte bereits während der Schulzeit nebenbei in einem Büro - im administrativen Bereich gearbeitet. Der Arbeitgeber hätte die Studiengebühren bezahlt, so hätte er das Studium besuchen können, an welchem er großes Interesse gehabt hätte.
Befragt zum Tod seines Vaters, erzählte der Beschwerdeführer, sein Vater sei nicht eines natürlichen Todes gestorben, er sei von seinem Onkel mütterlicherseits erschossen worden. Es sei zu keiner Verurteilung gekommen, denn der Onkel mütterlicherseit hätte die Flucht ergriffen. Das sei gewesen bevor das Regime begonnen habe zu regieren. Es sei Bürgerkrieg in Afghanistan gewesen.
„RI: Sind Sie gleich nach dem Tod Ihres Vaters nach Pakistan?
BF: Nein. Genau in diesem Punkt hat mich der Dolmetscher missverstanden bzw. ist es zu einem Missverständnis gekommen. Ungefähr ein Jahr sind wir unter der Talibanregime in Afghanistan geblieben. Dann durfte meine Mutter nicht mehr als Bauingenieurin arbeiten und wir mussten wegziehen.
RI: Beim BFA (AS280) haben Sie gesagt, dass Sie zweieinhalb bis drei Jahre nach dem Tod Ihres Vaters nach Pakistan gegangen sind? Stimmt das?
BF: Ich habe auch damals gesagt, dass ich nur ungefähre Angaben machen kann. Ich war damals ein Kind. Nach meinen Wahrnehmungen habe ich damals diese Angaben gemacht. Ich weiß nur, dass damals in Afghanistan unsere finanzielle Situation enorm schlecht war.“
Seine Mutter würde zurzeit in der Türkei leben. Er habe insgesamt vier Geschwister., ein Bruder, der älter gewesen sei, wurde getötet. Ein Bruder sei adoptiert worden und würde sich in Kanada aufhalten. Eine Schwester würde nachwievor in Afghanistan leben. Ein Bruder halte sich mit der Mutter in der Türkei und einer in Pakistan auf.
Auf die Frage des Richters, wann und wie der Konflikt zwischen seinen Eltern und seinem Onkel mütterlicherseits begonnen hätte, führte der Beschwerdeführer aus: „Mein Onkel mütterlicherseits war von Anfang an gegen eine Ehe zwischen meinen Eltern. Das lag daran, weil er eine andere Sichtweise hatte. Mein Onkel war davon überzeugt, dass die Menschen in Kabul freizügig und freidenkend sind. Er ist hingegen streng religiös.“
Anmerkung: Bei der Namensnennung seines Onkels mütterlicherseits, zeigte sich der Beschwerdeführer stark emotional berührt.
Beruflich habe sich sein Onkel mütterlicherseits als ein Geschäftsmann gegeben, jedoch habe er viele krumme Sachen gemacht. „Solange ich keine Probleme mit ihm hatte und nichts direkt mit ihm zu tun hatte, wusste ich nicht, was für Machenschaften er getrieben hat. Meine Mutter hat mich später aufgeklärt und mir mitgeteilt, dass er gesetzwidrige Sachen macht.“
Auf die Frage des Richters, wie es zum Tod des älteren Bruders gekommen sei, erzählte der Beschwerdeführer: „Der Hauptverdiener meiner Familie in Pakistan war mein ältester Bruder. Er hat in einem Hotel gearbeitet. Weil er seine Arbeit hervorragend gemacht hat, wurde ihm vorgeschlagen nach Saudi Arabien als Vertreter seiner Firma zu reisen. Am Flughafen in Pakistan wurde ihm eine Tasche mitgegeben. Es wurde ihm erzählt, dass der Arbeitgeber darin Geschenke, die er zu überbringen hat, mitzunehmen. Als er in Saudi Arabien angekommen ist, wurde er überprüft. Mein Bruder wurde danach gefragt, wem die Tasche gehört. Mein Bruder meinte daraufhin, dass ihm diese Tasche gehören würde. In dieser Tasche befanden sich Suchtmittel, Drogen. Hinter dieser Aktion steckte mein Onkel mütterlicherseits. Mein Bruder wurde in Saudi-Arabien von einem Gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.“
Dieser Konflikt zwischen seinem Onkel mütterlicherseits und der Familie hätte direkte Auswirkungen auf den Beschwerdeführer persönlich gehabt, er hätte die Flucht ergreifen müssen: „Ich habe ein normales Leben geführt. Nach einer gewissen Zeit habe ich einen Freund kennen gelernt. Ich habe nicht mit diesem Freund zusammengearbeitet. Mit der Zeit haben wir uns auch ausgetauscht, sodass er für mich vertrauenswürdig war. Vor meiner Flucht habe ich erfahren, dass dieser Freund ein enger Vertrauter meines Onkels ist. Von da an haben meine Probleme angefangen. ….. Wie bereits zuvor geschildert, habe ich ein normales Leben geführt. Ich habe gearbeitet und habe studiert. Dieser Freund war ein ständiger Begleiter von mir. Mein Arbeitsplatz und die Universität, an der ich studiert habe, habe sich im diplomatischen Viertel befunden. Ich hatte Mitstudenten, die direkte Verwandte von politischen Persönlichkeiten waren, wie der Bruder des zweiten Stellvertreters des Staatspräsidenten. Der zweite Stellvertreter heißt XXXX und sein Bruder XXXX . Das Haus des zweiten Stellvertreters des Präsidenten befand sich neben unserer Universität. Auch das Parlament war neben der Universität. Weiters waren das Finanzministerium und das Wirtschafsministerium sowie die Sicherheitsbehörde in unmittelbarer Umgebung. Ich habe mich in einer hochseniblen Gegend frei bewegen können. Ich hatte auch einen Zulassungsschein für mein Auto und konnte die Gegend befahren. Die Sicherheitsbehörde hat Personen aufgegriffen und danach jede einzelne Person in der Gegend verhört. Auch ich wurde befragt. Mein Freund, den ich zuvor genannt habe, ist dann eine Zeit lang verschollen. Mein Onkel mütterlicherseits wollte wissen, wo sich dieser Freund aufhält. Er meinte, ich würde ständig Zeit mit ihm verbringen und daher müsste ich das wissen. Meine Antworten haben ihn nicht zufrieden gestellt. Er hat dann angefangen mich zu bedrohen. Es ist dann nicht nur zu einer verbalen, sondern zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen. Meine Mutter hat seine Drohungen sehr ernst genommen. Sie hat es dann nicht mehr zugelassen, dass ich arbeite gehe oder mein Studium voranbringe. Mein Onkel mütterlicherseits hat angenommen, dass ich über seine Machenschaften Bescheid wissen würde. Während dieser Zeit ist mein Freund untergetaucht. Nachdem die Sicherheitsbehörde die Aufgriffe durchgeführt hat und danach mein Freund verschollen ist, hat mein Onkel mütterlicherseits angenommen, dass ich meinen Freund verraten hätte.“
Der Onkel hätte ihm gedroht, er müsse diesen Freund finden oder er würde den Beschwerdeführer töten. Der Onkel habe zuerst nach dem Kragen des Beschwerdeführers gegriffen und versucht ihn zu erwürgen.
„RI: Vorhalt: Bei der Erstbefragung (AS11) haben Sie angegeben, dass Ihr Onkel wollte, dass Sie mit Ihm beim Drogenhandel zusammenarbeiten und dass er Sie wegen Ihrer Weigerung das zu tun, mit dem Tode bedroht habe, beim BFA (AS280) hingegen haben Sie angegeben, dass Ihr Onkel Sie aufgefordert habe, auf der Universität Nachforschungen zu betreiben und aufgrund des Verdachts, seine Freunde verraten zu haben, Sie bedroht und geschlagen habe. Heute sagen Sie, dass Ihr Onkel Sie für das Verschwinden eines gemeinsamen Freundes bedroht und gewürgt habe. Was stimmt nun?
BF: Zu der Erstbefragung möchte ich angeben, dass es mehrere Missverständnisse gegeben hat, u.a. auch an dieser Stelle. Vor dem BFA habe ich gemeint, dass dieser Freund durch mich mehr über die Personen die sich an der Universität befunden haben, erfahren wollte, weil er selbst nicht befugt war, sich in diesem Gebiet aufzuhalten. Dieser Freund hat mich ständig begleitet. Sein Verhalten kam mir dann eigenartig vor. Nachdem ich ein Gespräch mit meiner Mutter über ihn hatte, hat sie mir angeraten, Abstand von ihm zu halten. Sie meinte auch, er sei nicht meine Lebensgefährtin, die mich 24 Stunden am Tag begleitet. Zu dem Punkt, dass er den Verdacht hätte, ich hätte seine Freunde verraten, möchte ich erklären, dass ich mich mit einem Freund in drei unterschiedlichen sufistischen Gebetsstätten treffen. Nach meinen Besuchend dieser Gebetsstätten gab es dort Aufgriffe der Sicherheitsbehörden. Daher hat mein Onkel geglaubt, das ich dahinterstecken würde. Ich habe heute nur diesen gemeinsamen Freund erwähnt, weil er eine wichtige Person für meinen Onkel ist. Der letzte Aufgriff fand in der Nähe meines Arbeitsplatzes statt. Es wurden viele andere Personen auch aus diesen Gebetsstätten abgeführt und verhört. Ich habe mich selbst in 48 Stunden Untersuchungshaft befunden. Nachdem die Behörde meine Ausweise und meinen Arbeitsplatz und die Universität kontrolliert hatten, wurde ich frei gelassen.“
Warum diese Personen von den Sicherheitsbehörden aufgegriffen worden seien, wisse er nicht. Der Onkel habe mit seinem Privatvermögen sufistische Glaubensrichtungen finanziert. Der Beschwerdeführer habe in den Nachrichten im Fernsehen gehört, dass die Sicherheitsbehörde ein Blutbad durch kriminelle Terroristen verhindert hätte und glaube, dass diese Aufgriffe damit zu tun haben könnten.
„RI: Vorhalt: Normalerweise sind die Sufisten ja friedliche Mystiker und keine gewaltbereiten Jihadisten?
BF: Auch ich war dieser Meinung. Deswegen habe ich auch angestrebt ein Teil dieser Bewegung zu sein. Dazu möchte ich erklären, dass diese Bewegung, solange ich keine Probleme hatte, eine komplett friedliche Bewegung war. Danach habe ich festgestellt, dass es Personen gibt, die in dieser Bewegung eine kriminelle Energie aufweisen.
RI: Beim BFA haben Sie weiters angegeben, dass Ihr Onkel zeitweilig sehr nett zu Ihnen gewesen war (AS279).
BF: Das ist richtig. Ich habe diese Gebetsstätten besucht. Allerdings wusste ich damals nicht, dass mein Onkel mütterlicherseits finanzielle Unterstützung leistet. Wir haben uns eine Zeit lang gesehen, wobei es keine direkte Konfrontation seinerseits mit mir gab, bis mein Freund verschollen ist.
RI: Vorhalt: Beim BFA (AS280) haben Sie angegeben, dass Ihr Onkel nicht nur Sie, sondern auch Ihre Mutter und Bruder geschlagen hat. Heute sprechen Sie davon, dass er Sie gewürgt hat.
BF: Nachdem ich Afghanistan verlassen habe, ist meine Familie übersiedelt. Also gab es eine Änderung der Adresse. Mein Onkel mütterlicherseits hat sie aufgespürt. Er war eigentlich auf der Suche nach mir. Es gab zuerst eine verbale Auseinandersetzung mit meinem Bruder. Mein Onkel hat dann auch meinen Bruder körperlich angegriffen. Sie haben dann unmittelbar nach diesem Vorfall Afghanistan verlassen und zwar wegen meines Onkels mütterlicherseits. Sie leben jetzt in der Türkei.“
Der unmittelbare Anlass zur Ausreise, sei der Versuch des Onkels mütterlicherseits gewesen den Beschwerdeführer zu erwürgen, nachdem sein Vater und sein Bruder vom ihm mittelbar getötet worden seien. Die Vorgehensweise seines Onkels dem Beschwerdeführer gegenüber habe seine Mutter sehr ernst genommen.
Er habe sich noch ungefähr zwei oder drei Monate in Afghanistan aufgehalten, um ein Visum und einen Reisepass zu organisieren. Bereits zuvor, aber auch nach diesem Vorfall hätte der Beschwerdeführer mehrmals seine Wohnadresse gewechselt.
„BF: Von Afghanistan in den Iran bin ich legal mit dem Flugzeug ausgereist. Gegen Ende des Jahres 2015, genauer kann ich mich nicht mehr erinnern, habe ich Afghanistan Richtung Iran verlassen.
RI: Vorhalt: Sie waren bereits Ende Oktober 2015 in Österreich?
BF: Ja. Ich hatte keine langen Zwischenaufenthalte im Iran oder der Türkei. 17 Tage habe ich mich im Iran aufgehalten. Ich habe nur mitbekommen, beim Festtagsgebet, dass man das Gebet der Sunniten nicht einmal aufgesagt hat.
RI: Sind Sie alleine oder mit Ihren Familienangehörigen ausgereist?
BF: Ganz alleine.
RI: Vorhalt: Beim BFAS (AS280) haben Sie angegeben, „wir sind dann ausgereist“.
D erklärt dazu, dass es auch in der Dari Hochsprache einen „Majestätsplural“ gibt.
RI: Habe Sie noch Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?
BF: Ja, ich stehe in Kontakt zu meiner Mutter, ganz selten zu meiner Schwester und ihren Kindern. Auch zu meinem Bruder, der sich in Pakistan aufhält, habe ich Kontakt.“
In Afghanistan würde seine Schwester leben. Ein Onkel väterlicherseit sei inzwischen verstorben und seine Familie würde zwischenzeitlich in Kanada leben. Der zweite Onkel väterlicherseits würde in Kabul leben, jedoch hätte der Beschwerdeführer schon als er sich noch in Afghanistan aufgehalten habe, kaum Kontakt zu ihm gehabt. Auf die Frage des Richters, ob er noch Kontakt zu den Freunden habe, die er beim BFA (AS277) erwähnt hätte, antwortete der Beschwerdeführer, zu einem Freund bestehe gelegentlich Kontakt. Sie erkundigten sich nach dem Wohlergehen. Sie seien alle Angestellte des Wirtschaftsministeriums gewesen.
Nachgefragt gab er an, er würde sich psychisch als nicht gesund bezeichnen. Er nehme Medikamente gegen seine Magenbeschwerden, die er verstärkt hätte. Er werde von seinem Hausarzt behandelt, habe jedoch keine psychotherapeutische Behandlung. Er nehme regelmäßig XXXX .
Auf die Frage des Richters, was der Beschwerdeführer zurzeit in Österreich mache antwortete er auf Deutsch: „Ich studiere an der XXXX “. Ich mache einen B2 Deutschkurs. Ich darf nicht arbeiten. Ich arbeite gemeinnützig für die Gemeinde XXXX . Weiters arbeite ich für die XXXX und XXXX als Dolmetscher. Weiters arbeite ich auch als Aufseher bei Ausstellungen an der Universität. …. Ich habe eine Beziehung mit XXXX . Wir haben aber getrennte Wohnungen. Meine Wohnung ist sehr klein. Sie hat einen Sohn mit 7 Jahren. Eine Woche ist er bei seinem Vater und eine Woche bei mir. Wir sind ständig zusammen. Wenn ihr Sohn bei ihr ist, dann übernachte ich bei ihr. Wenn sie alleine ist, dann sie bei mir.“ Er würde diese Beziehung seit etwa eineinhalb Jahren führen.
Der Beschwerdeführer gab des Weiteren an, er habe Deutschkurse bis B2 besucht. Eine andere Ausbildung hätte er nicht machen dürfen. Für das Studium müsse er noch eine Prüfung ablegen. Der Beschwerdeführer gab an, er sei Mitglied bei der Landesbibliothek.
Er habe österreichische Freunde aufgrund seines Studiums. Er wohne in XXXX , das sei ein kleinerer Ort, dort habe er auch Freunde. Sein Leben hätte sich geändert, er sei erwachsener geworden und sehe das Leben mit anderen Augen. Es gäbe überall freundliche und unfreundliche Menschen. Es komme immer darauf an wie man sich selbst benehme.
Zu seiner Religion befragt gab der Beschwerdeführer an, er halte die islamischen Fastengebote nicht ein und hätte ein schlechtes Gewissen. Er würde nicht regelmäßig beten und manchmal zu den islamischen Feiertagen eine Moschee besuchen. Er würde die islamischen und christlichen Feste feiern, Alkohol trinken und kein Schweinefleisch essen, weil es ihm nicht schmecken würde.
„RI: Sie sind relativ jung, nicht schwer krank, haben eine hohe Schul- und Berufsbildung sowie haben Verwandte in Afghanistan. Könnten Sie sich, wenn schon nicht in Kabul dann in Mazer-e-Sharif oder Herat niederlassen?
BF: Kabul ist aus der Sicht der Bevölkerung noch die sicherste Stadt.
RV: Beim BFA haben Sie angegeben, dass Ihr Onkel sehr mächtig ist und Kontakte zur Regierung und zu den Taliban hat. Können Sie das näher ausführen?
BF: Er hat enge Verbindungen und persönliche Kontakte zu verschiedenen Provinzinhabern z.B. In Kandahar, Nangarhar und Herat. Er hat auch intensive Verbindungen zu Regierungsvertretern in Mazer-e-Sharif, ich spreche von der Polizei. Er hat aber auch Verbindungen zu verschiedenen Regierungsgegnern.
RV: Wie sind seine Beziehungen zu den Taliban?
BF: Mit Regierungsgegnern meine ich die Taliban.
RV: Wie sieht die Verbindung aus?
BF: Über diese sufistische Bewegung. In dieser Bewegung gibt es hochrangige religiöse Personen die Verbindungen zu den Taliban, aber auch zum Staat haben.
RV: Glauben Sie, dass Ihr Onkel Sie auch in anderen Teilen von Afghanistan finden kann?
BF: Diese religiöse Bewegung ist im In- und Ausland gut miteinander vernetzt. Ich fürchte mich auch hier in Österreich und begeben mich nicht in afghanische Gesellschaft. Ich habe hier keinen einzigen afghanischen Freund.“
Befragung der Zeugin XXXX
Sie gab an, sie kenne den Beschwerdeführer seit dem Frühjahr 2016. Sie habe als Mitarbeiterin der XXXX die Betreuung des Hauses übernommen, in dem der Beschwerdeführer untergebracht gewesen wäre. Erst sei dann privat verzogen, jedoch nach wie vor in XXXX gewesen, so hätte sie ihn dann hin und wieder als Dolmetscher beigezogen.
„RI: Leben Sie mit dem BF zusammen?
Z: Wir leben in ein und demselben Haus, aber in zwei Wohnungen. Es ist aber wie ein Haushalt. Das seit Juli 2018.
RI: Der BF hat es so geschildert, wenn Ihr Sohn bei Ihnen ist, wohnen Sie in Ihrer Wohnung und wenn Ihr Sohn beim Vater ist, dann in seiner Wohnung?
Z: Ja, das ist richtig.
RI: Wie ist das Verhältnis des BF zu Ihrem Sohn?
Z: Es ist sehr entspannt, mein Sohn bezeichnet ihn als Freund.
RI: Unternehmen Sie auch in der Freizeit viel gemeinsam?
Z: Ja, ich verweise auf die bereits vorgewiesene Mappe.
RI: Haben Sie gemeinsame Freunde?
Z: Ja im Ort. Er kennt auch schon meine Freunde, die teilweise in XXXX leben.
RI: Hat er auch Kontakte zu Ihren Verwandten?
Z: Ja. Meine Familie ist neugierig und aufgeschlossen. Er ist mein Freund und das müssen sie akzeptieren.
RI: Führen Sie auch den Haushalt gemeinsam?
Z: Ja.
RI: Was wissen Sie über die Tätigkeiten des BF in Österreich?
Z: Er mach Deutschkurse, arbeitet und studiert. Ich habe ihn auch an die Uni begleitet und er hat mir auch Kollegen vorgestellt.
RI: Feiert er mit Ihnen auch christliche Feste?
Z: Ja, Weihnachten und Ostern.
RI: Was macht er in der Freizeit?
Z: Er hat auch Eislaufen und Schifahren gelernt. Wir haben auch gemeinsam Freunde in Österreich besucht.
RI: Übt er die islamische Religion nach wie vor aus?
Z: Er erzählt mir öfter, was er in der islamischen Religion gelernt hat, aber er übt sie genauso wenig aus wie ich die christliche. Es hat sich im Ort entwickelt, dass wir gemeinsam das IED (Bayram) feiern und auch Weihnachten.
RV: Keine Fragen.
RI: Wollen Sie noch etwas zum Asylverfahren bzw. zur Integration des BF angeben
Z: Er hat die deutsche Sprache sehr schnell gelernt und er hat auch ein hohes Verständnis für kulturelle Unterschiede, das ist mir beim Dolmetschen aufgefallen. Ich bin Ethnologin.“
In der Stellungnahme vom 07.01.2020 bezog sich der Beschwerdeführer auf die Verfolgung durch die Taliban und dadurch das Fehlen einer innerstaatlichen Fluchtalternative sowie zum mangelnden Schutz vor Verfolgung.
Das aktuelle LIB wurde nachträglich schriftlich dem Parteiengehör unterzogen. Trotz Zuwartens über die eingeräumte Frist ist jedoch keine Stellungnahme eingelangt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:
Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig, sunnitischen moslemischen Glaubens und am 25.10.2015 illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Nicht festgestellt werden kann eine konkrete asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers in Afghanistan. Allfälligen Behelligungen kann sich der Beschwerdeführer auch durch eine Niederlassung in anderen Landesteilen entziehen. Eine Verfolgung des Beschwerdeführers durch Privatpersonen ist nicht asylrelevant. Eine völlige Abkehr vom Islam kann nicht festgestellt werden.
Der Beschwerdeführer hat eine sexuelle Beziehung zu einer österreichischen Staatsbürgerin, Der Beschwerdeführer und seine Lebensgefährtin leben in zwei Wohnungen, in einem Haus, defakto führen sie jedoch einen Haushalt. Seine Lebensgefährtin hat einen Sohn mit 7 Jahren, welcher sich eine Woche bei seinem Vater und eine Woche bei ihr aufhält. Der Beschwerdeführer und seine Lebensgefährtin führen ein gemeinsames Leben. Sie würden wochenweise abwechselnd in den Wohnungen übernachten. Er führt diese Beziehung seit etwa eineinhalb Jahren. Es kann damit – zumindest ansatzweise – von einem Familienleben gesprochen werden-.
In Österreich hat der Beschwerdeführer die Deutschprüfungen ÖSD auf B1 Niveau und Deutschkurse auf B2 Niveau abgeschlossen. Er hat auch einen Teil der Befragung während der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 17.12.2020 in deutscher Sprache beantwortet. Zurzeit studiert er an der XXXX “. Für das Studium ist noch eine Prüfung abzulegen.
Der Beschwerdeführer beantragte eine Arbeitsbewillung als Erntehilfe und brachte diverse Lohnbestätigungen in Vorlage. Der Beschwerdeführer arbeitete gemeinnützig für die Gemeinde XXXX sowie für die XXXX und XXXX und als Aufseher bei Ausstellungen an der Universität. Der Beschwerdeführer ist Mitglied bei der Landesbibliothek.
Er hat sich einen Freundeskreis aus österreichischen Studenten aufgebaut.
Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt zu eventuellen afghanischen Verwandten in seinem Herkunftsland. Seine Mutter und ein Bruder halten sich in der Türkei, ein anderer Bruder in Pakistan auf. Zu seiner Mutter und seinen Brüdern hält der Beschwerdeführer Kontakt.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende – in Afghanistan derzeit aber noch ohne Meldung großer Fallzahlen aufgetretene – COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört im Hinblick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Zur allgemeinen Lage in Afghanistan und der Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt (Ausschnitte aus den LIB):
1. Länderspezifische Anmerkungen
COVID-19:
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).
In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
Quellen:
? AF - Asia Foundation (24.6.2020): Afghanistan’s Covid-19 Bargain, https://asiafoundation.org/2020/06/24/afghanistans-covid-19-bargain/, Zugriff 26.6.2020
? AJ - al-Jazeera (8.6.2020): Afghan schools, universities to remain closed until September, https://www.aljazeera.com/news/2020/06/afghan-schools-universities-remain-closed-september-200608062711582.html, Zugriff 26.6.2020
? AnA – Andolu Agency (24.6.2020): Afghanistan resumes international flights amid COVID-19, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/afghanistan-resumes-international-flights-amid-covid-19/1888176, Zugriff 26.6.2020
? GN – Gulf News (9.6.2020): COVID-19: Emirates to resume regular passenger flights to Kabul from June 25, https://gulfnews.com/uae/covid-19-emirates-to-resume-regular-passenger-flights-to-kabul-from-june-25-1.71950323, Zugriff 26.6.2020
? HRW - Human Rights Watch (18.6.2020): School Closures Hurt Even More in Afghanistan, https://www.hrw.org/news/2020/06/18/school-closures-hurt-even-more-afghanistan, Zugriff 26.6.2020
? JHU -John Hopkins Universität (26.6.2020): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 26.6.2020
? RA KBL – Rechtsanwalt in Kabul (19.6.2020): Antwortschreiben per Mail, liegt bei der Staatendokumentation auf.
? TN – Tolonews (15.6.2020): Govt Will Resume Bread Distribution: Palace, https://tolonews.com/afghanistan/govt-will-resume-bread-distribution-palace, Zugriff 29.6.2020
? TN – Tolonews (15.6.2020): Poor Claim ‘Unjust’ Bread Distribution in Jawzjan, https://tolonews.com/afghanistan/poor-claim-%E2%80%98unjust%E2%80%99-bread-distribution-jawzjan, Zugriff 29.6.2020
? UNHCR – (20.6.2020): Border Monitoring Update COVID-19 Response 14-20 June 2020, https://data2.unhcr.org/en/documents/download/77302, Zugriff 26.6.2020
? WHO – World Health Organization (25.3.2020): Coronavirus disease 2019 (COVID-19) Situation Report –65, https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200325-sitrep-65-covid-19.pdf?sfvrsn=2b74edd8_2, Zugriff 16.4.2020
? WP - Washington Post (25.6.2020): Coronavirus sweeps through Afghanistan’s security forces, https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/afghanistan-coronavirus-security-forces-military/2020/06/24/0063c828-b4e2-11ea-9a1d-d3db1cbe07ce_story.html, Zugriff 26.6.2020
? XI – Xinhua (23.6.2020): Pakistan receives 1st Afghan export since COVID-19 pandemic, http://www.xinhuanet.com/english/2020-06/23/c_139159139.htm, Zugriff 26.6.2020
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).
Taliban und COVID-19
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).
Quellen:
? AnA – Andalous (21.4.2020): COVID-19 rips through fragile Afghan health system, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/covid-19-rips-through-fragile-afghan-health-system-/1812821, Zugriff 23.4.2020
? ARZ KBL – Arzt in Kabul (7.5.2020): Antwortschreiben per E-Mail; liegt bei der Staatendokumentation auf.
? BBC (9.4.2020): Coronavirus: The porous borders where the virus cannot be controlled, https://www.bbc.com/news/world-asia-52210479, Zugriff 9.4.2020
? DW – Deutsche Welle (22.4.2020): Coronavirus: Tough times ahead as Afghanistan struggles to manage pandemic, https://www.dw.com/en/coronavirus-tough-times-ahead-as-afghanistan-struggles-to-manage-pandemic/a-53207173, Zugriff 23.4.2020
? IOM AUT – International Organization for Migration in Austria (27.3.2020): Antwortschreiben per E-Mail.
? IOM KBL – International Organization for Migration Kabul Chapter (13.5.2020): Antwortschreiben per E-Mail.
? IOM – International Organization for Migration (11.5.2020): Return of Undocumented Afghans - Weekly Situation Report (03-09 May 2020), https://afghanistan.iom.int/sites/default/files/Reports/ iom_afghanistan-return_of_undocumented afghans-_situation_report_03-09_may_2020.pdf, Zugriff 13.5.2020
? NYT – New York Times (22.4.2020): Afghanistan’s Next War, https://www.nytimes.com/interactive/2020/04/22/magazine/afghanistan-coronavirus.html?search ResultPosition=3, Zugriff 24.4.2020
? NZZ – Neue Züricher Zeitung (7.4.2020): Die Taliban, dein Freund und Helfer, https://www.nzz.ch/international/afghanistan-die-taliban-betreiben-corona-praevention-ld.1550115, Zugriff 9.4.2020
? TG – The Guardian (1.4.2020): 'No profit, no food': lockdown in Kabul prompts hunger fears, https://www.theguardian.com/global-development/2020/apr/01/no-profit-no-food-lockdown-in-kabul-prompts-hunger-fears, Zugriff 2.4.2020
? TG – The Guardian (1.4.2020a): Afghanistan braces for coronavirus surge as migrants pour back from Iran, https://www.theguardian.com/global-development/2020/apr/01/afghanistan-braces-for-coronavirus-surge-as-migrants-pour-back-from-iran, Zugriff 2.4.2020
? TN – Tolonews (9.4.2020): 40 New COVID-19 Cases in Afghanistan, Total 484, https://tolonews.com/health/40-new-covid-19-cases-afghanistan-total-484, Zugriff 9.4.2020
? TN – Tolonews (9.4.2020a): Andarabi: All Kabul Roads Will be Blocked, https://tolonews.com/afghanistan/andarabi-all-kabul-roads-will-be-blocked, Zugriff 9.4.2020
? TN – Tolonews (8.4.2020): Only '300' Ventilators in Afghanistan to Treat COVID-19: MoPH, https://tolonews.com/index.php/afghanistan/only-300-ventilators-afghanistan-treat-covid-19-moph, Zugriff 9.4.2020
? TN – Tolonews (8.4.2020a): Kabul Clinic Shut Down After Doctor Dies from COVID-19, https://tolonews.com/index.php/health/amiri-medical-complex%E2%80%99s-activities-suspended-health-ministry, Zugriff 9.4.2020
? TN – Tolonews (7.4.2020): Number of COVID-19 Cases in Afghanistan: 367, https://tolonews.com/health/number-covid-19-cases-afghanistan-367, Zugriff 8.4.2020
? TN – Tolonews (7.4.2020a): Coronavirus Testing Lab Opens in Kandahar: Officials, https://tolonews.com/health/coronavirus-testing-lab-opens-kandahar-officials, Zugriff 8.4.2020
? TN – Tolonews (7.4.2020b): 41 Health Workers Test Positive for Coronavirus in Herat, https://tolonews.com/afghanistan/41-health-workers-test-positive-coronavirus-herat, Zugriff 8.4.2020
? UD – Undark (2.4.2020): With Taliban Help, Afghanistan Girds for a Virus, https://undark.org/2020/04/02/afghanistan-covid-19/, Zugriff 8.4.2020
? WHO MIT – Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Mazar-e Sharif (10.5.2020): Antwortschreiben per E-Mail; liegt bei der Staatendokumentation auf.
? WP – Washington Post (20.4.2020): More than a dozen staff members in Afghanistan’s presidential palace test positive for coronavirus, https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/afghanistan-coronavirus-presidential-palace/2020/04/20/5836a856-8308-11ea-81a3-9690c9881111_story.html, Zugriff 24.4
2. Politische Lage
Letzte Änderung: 18.5.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordn