TE Vfgh Erkenntnis 1995/6/29 B2643/94, B2644/94, B2645/94, B2646/94, B2647/94, B2648/94

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Veröffentlicht am 29.06.1995
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

EMRK Art8
EMRK Art8 Abs2
AufenthaltsG
AufenthaltsG §5 Abs1
FremdenG §10 Abs1 Z2
FremdenG §10 Abs1 Z3

Leitsatz

Verletzung des Beschwerdeführers im Recht auf Privat- und Familienleben durch die Versagung einer Aufenthaltsbewilligung mangels einer für Inländer ortsüblichen Unterkunft wegen Unterlassung der bei verfassungskonformer Auslegung des §5 Abs1 AufenthaltsG gebotenen Interessenabwägung; keine Bedenken gegen §5 Abs1 AufenthaltsG

Spruch

Die beschwerdeführenden Parteien sind durch den jeweils angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres bevollmächtigten Vertreters die Prozeßkosten, die je Beschwerdesache mit 18.000 S bestimmt werden, binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit den im Instanzenzug ergangenen sechs Bescheiden des Bundesministers für Inneres vom 13. Oktober 1994 wurden unter Berufung auf §5 Abs1 Aufenthaltsgesetz -im folgenden kurz AufG -, BGBl. Nr. 838/1992, iS des §13 AufG gestellte Anträge einer türkischen Familie (nämlich der Eheleute und ihrer vier Kinder) mit der Begründung abgewiesen, daß die beschwerdeführenden Parteien über keine für Inländer ortsüblichen Unterkunft in Österreich verfügten.

2. Gegen diese Bescheide richten sich die auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerden B 2643 bis 2648/94, mit denen die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte geltend gemacht und die Aufhebung der angefochtenen Bescheide begehrt wird. Die Familie halte sich seit 1982 in Wien auf; der Familienerhalter sei seit 22. Mai 1989 als Küchenhilfskraft in einem Wiener Hotel beschäftigt. Der Lebensunterhalt sei durchaus gesichert; das Arbeitsverhältnis sei aufrecht.

3. Der belangte Bundesminister für Inneres legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und begehrte die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerden.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:

1. In den Erkenntnissen VfGH 2. Juli 1994, B1911/93, und VfGH

v. 16. März 1995, B2259/94, hat der Gerichtshof mit näherer Begründung dargetan, daß er gegen §5 Abs1 AufG keine verfassungsrechtlichen Bedenken hegt.

Da auch gegen die sonstigen präjudiziellen Gesetzesbestimmungen keine solchen Bedenken entstanden sind, liegt eine aus der Verfassungswidrigkeit herangezogener Vorschriften abzuleitende Rechtsverletzung nicht vor.

2. Hingegen verletzen die angefochtenen Bescheide die beschwerdeführenden Parteien in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:

a) Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfGH 16.3.1995, B2259/94, mit ausführlicher Begründung dargelegt hat, hat die Behörde in jedem Fall, in dem die Versagung der Aufenthaltsbewilligung mangels Sicherung des Lebensunterhalts und/oder einer für Inländer ortsüblichen Unterkunft in das Grundrecht des Fremden auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen würde, zu prüfen, ob die Versagung der Bewilligung aus den in Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen, insbesondere mit Rücksicht auf das "wirtschaftliche Wohl des Landes" und den "Schutz der Gesundheit", notwendig ist, und dabei auch auf die privaten und familiären Interessen des Bewilligungswerbers Bedacht zu nehmen.

b) Ein Eingriff in das durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

c) Ein derartiger Fehler ist der belangten Behörde anzulasten:

Sie hat sich nämlich, indem sie in verfehlter Weise auf eine Aussage im Erkenntnis VfSlg. 11044/1986 Bezug nahm, die die Einreise eines Fremden nach Österreich und dessen lediglich kurzfristigen Aufenthalt im Inland betraf, über die Tatsache des mehrjährigen Aufenthalts der beschwerdeführenden Parteien in Österreich hinweggesetzt und eine Abwägung ihrer sich daraus ergebenden familiären und sonstigen privaten Interessen mit den der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen entgegenstehenden öffentlichen Interessen in Wahrheit nicht vorgenommen.

Die angefochtenen Bescheide waren aus diesem Grund aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG; in den zugesprochenen Kosten ist die Umsatzsteuer von je 3.000 S enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Fremdenrecht, Interessenabwägung, Auslegung verfassungskonforme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:B2643.1994

Dokumentnummer

JFT_10049371_94B02643_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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