TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/30 I414 2237975-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.12.2020
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Entscheidungsdatum

30.12.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I414 2237975-1/5E 30.12.2020

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian EGGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. TUNESIEN, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 05.12.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der 33-jährige tunesische Staatsangehörige reiste spätestens am 05.11.2020 in das Bundesgebiet ein. Der Beschwerdeführer (kurz: BF) wurde an der Italienisch-Österreichischen Schengengrenze ohne Reisedokument und ohne gültiges Visum oder gültigen Aufenthaltstitel von den italienischen Behörden am Bahnhof in Tarvis mit einem Zugticket Wien-Rom aufgegriffen und nach Österreich zurückgewiesen.

Bei der erkennungsdienstlichen Behandlung des BF am 05.11.2020 im Bundesgebiet gab er gegenüber den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes an, dass er keinen Reisepass besitze, er XXXX heiße und am XXXX in Tunis geboren sei. Des Weiteren gab er an, er habe nach Italien zu Freunden reisen wollen und, um in Italien zu arbeiten. Er habe in Tunesien keine Arbeit und versuche nun in Europa zu arbeiten. Eine Verfolgung beziehungsweise Bedrohung machte der BF nicht geltend.

Am gleichen Tag – 05.11.2020 – wurde der BF in das polizeiliche Anhaltezentrum überstellt und es wurde gegen den BF die Schubhaft verhängt. Im Rahmen dieser Überstellung wurde der tunesische Reisepass des BF sichergestellt. Aufgrund seines Reisepasses habe sich entgegen seinen bisherigen Angaben herausgestellt, dass er XXXX heiße und er am XXXX in Ouerdanine/ Tunesien geboren sei.

Am darauf folgenden Tag, am 06.11.2020 wurde der BF darüber verständigt, dass beabsichtigt sei eine aufenthaltsbeendende Maßnahme einzuleiten, ihm wurde eine zweiwöchige Frist zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme gewährt.

Am 09.11.2020 stellte der BF aus dem Stande der Schubhaft den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Erstbefragung durch Organe des Sicherheitsdienstes gab er zusammengefasst an, dass er der Volksgruppe der Araber angehöre, sich zum muslimischen Glauben bekenne, er in Tunesien die Schule besucht habe und eine Ausbildung als Schneider absolvierte. Er spreche Arabisch. Sein Vater sei verstorben, ein Bruder lebe in Marokko, seine Mutter und seine weiteren vier Geschwister würden in Frankreich leben. Er sei am 25.08.2020 aus Tunesien legal ausgereist und habe zu seiner Familie nach Frankreich reisen wollen. Er sei mit dem Flugzeug in die Türkei und über weitere Länder nach Österreich.

Befragt nach seinem Fluchtgrund gab er an, dass sein Vater Besitzer einer Textilfabrik gewesen sei. Die Fabrik sei aufgrund eines technischen Defekts niedergebrannt und dabei sei sein Vater sowie drei Mitarbeiter tödlich verunglückt. Aus Wut hätten die Angehörigen der verstorbenen Mitarbeiter den restlichen Teil der Fabrik, das Auto und das Haus seiner Familie verbrannt. Darüber hinaus hätten diese auch ihn und seine Geschwister umbringen wollen. Die Familie sei mit einem Visum nach Frankreich gereist. Der BF und einer seiner Bruder hätten jedoch kein Visum erhalten, daher sei ein Bruder nach Marokko und er nach Europa. Bei einer Rückkehr nach Tunesien befürchte er, dass sich die Angehörigen der verstorbenen Mitarbeiter seines Vaters an ihm rächen wollen. Die tunesischen Behörden hätten der Familie empfohlen das Land zu verlassen und würden sich in solche Angelegenheiten nicht einmischen beziehungsweise kümmern.

Am 18.11.2020 wurde der BF von einem Organ des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge auch als BFA bezeichnet) niederschriftlich einvernommen. Er gab zusammengefasst an, dass er von seiner in Frankreich lebenden Familie mit ca. EURO 300.-- bis 400.—monatlich erhalte. Er habe seine Familie zuletzt in Tunesien vor einem Jahr gesehen. Im Bundesgebiet habe er weder Verwandte noch Bekannte. Seinen Herkunftsstaat habe er vor ca. zwei Monaten verlassen. Er wolle nicht mehr nach Tunesien zurück, sondern zu seiner Familie nach Frankreich.

Befragt nach seinem Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, dass die Fabrik seines Vaters aufgrund eines Kurzschusses vor einem Jahr in Brand geraten sei. Bei diesem Vorfall sei sein Vater und drei Mitarbeiter tödlich verunglückt. Aufgrund des Brandes hätte die Firma Konkurs anmelden müssen. Die Mitarbeiteranzahl sei von ursprünglich 250 auf 50 reduziert worden. Die Angehörigen der verstorbenen Mitarbeiter hätten seiner Familie vorgeworfen, den Brand bewusst gelegt zu haben um die Löhne nicht mehr auszahlen zu müssen. Am nächsten Tag sei das Auto und das Haus seiner Familie angezündet und verbrannt worden. Da seine Familie schon vor dem Brandereignis über ein Visum in Frankreich verfügt hätte, seien sie eine Woche später ausgereist. Drei Tage nach dem Brand habe er die Polizei telefonisch verständigt und ihnen alles erzählt. Die tunesischen Sicherheitsbehörden hätten ihm mitgeteilt, dass sie ihm nicht helfen könnten und zudem sei ihm mitgeteilt worden, dass die Brandursache ein Kurzschluss gewesen sei. Er sei nach Ben Zart/ Tunesien und habe dort bis zu seiner Ausreise ca. achteinhalb Monate verbracht.

Der BF wurde zwei Tage – 20.11.2020 - nach seiner niederschriftlichen Einvernahme neuerlich von einem Organ des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Rechtsberaters niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, bisher die Wahrheit gesagt zu haben und sich nichts geändert habe. Ferner gab er an, dass er das vom BFA übermittelte Länderinformationsblatt nicht gelesen habe.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 05.12.2020, wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Tunesien (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich erteilte sie dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen den BF eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Tunesien zulässig ist (Spruchpunkt V.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht (Spruchpunkt VI.). Zugleich erkannte die belangte Behörde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt VII.).

Mit Verfahrensanordnung vom 07.12.2020 wurde dem BF der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

Mit fristgerecht eingebrachtem Beschwerdeschriftsatz erhob der BF vollumfänglich Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge als BVwG bezeichnet).

Es werde daher beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge den angefochtenen Bescheid zur Gänze beheben und dem BF Asyl gewähren, in eventu dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen und Spruchpunkt III. aufheben, in eventu den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit zur Gänze beheben und zur Durchführung eines erneuten Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückverweisen, sowie der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkennen, auf jeden Fall zur gebotenen Ergänzung des mangelhaft gebliebenen Ermittlungsverfahrens eine mündliche Verhandlung anberaumen.

Mit Beschwerdevorlage vom 18.12.2020, beim Bundesverwaltungsgericht Außenstelle Innsbruck eingelangt am 28.12.2020, legte das BFA dem BVwG die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der im Verfahrensgang dargestellte Sachverhalt wird als erwiesen festgestellt. Zudem werden nachfolgende Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der 33-jährige BF ist ledig, kinderlos, Staatsangehöriger von Tunesien, bekennt sich zum moslemischen Glauben und gehört zur Volksgruppe der Araber.

Die Identität des BF steht fest.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

Er spricht Arabisch und Englisch.

Er hat in Tunesien die Schule besucht und anschließend den Beruf des Schneiders erlernt.

Der BF beantragte im Jahr 2017 bei der Österreichischen Botschaft in Tunis ein Visum. Der Antrag wurde jedoch abgewiesen.

Der BF verließ Tunesien Ende August 2020. Er reiste legal mit dem Flugzeug in die Türkei und weiteren Ländern nach Österreich und stellte am 09.11.2020 gegenständlichen Asylantrag.

Der BF ist seit spätestens 05.11.2020 im Bundesgebiet. Er wurde an der Österreichisch-Italienischen Schengengrenze ohne gültiges Visum und/oder gültigen Aufenthaltstitel von den italienischen Behörden am Bahnhof in Tarvis mit einem Zugticket Wien-Rom aufgegriffen und nach Österreich zurückgewiesen. Der BF wurde von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes befragt, den gegenständlichen Asylantrag stellte er erst vier Tage später aus dem Stande der Schubhaft. Der Reisepass konnte erst im Rahmen seiner Überstellung in das Anhaltezentrum sichergestellt werden.

Die Familie des BF bestehend aus, seiner Mutter und seinen drei Brüdern und seiner Schwester, leben in Frankreich. Seine Familie überweist den BF monatlich einen Betrag von mindestens EURO 300,--. Ein Bruder lebt in Marokko.

Es leben keine Familienangehörigen oder Verwandten des Fremden in Österreich. Unter Zugrundelegung der Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet verfügt der Fremde über keine familiären Anknüpfungspunkte oder maßgebliche private Beziehungen und besteht kein schützenswertes Privat- und/oder Familienleben im Bundesgebiet. Zudem weist er auch keine relevante Integration in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht im Bundesgebiet auf.

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der BF befindet sich seit dem 05.11.2020 in Schubhaft.

1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF in Tunesien einer persönlichen Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung ausgesetzt war.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF wegen eines Brandes, ausgelöst durch einen Kurzschluss, in der Fabrik seines Vaters von den Angehörigen dreier Mitarbeitern einer individuellen Gefährdung ausgesetzt war.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF vor seiner Ausreise aus Tunesien Ende August 2020 einer individuellen Gefährdung durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war.

Der BF wird im Fall seiner Rückkehr nach Tunesien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung und keiner, wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.

Es existieren keine Umstände, welche einer Abschiebung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich entgegenstünden. Es spricht nichts dafür, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Tunesien eine Verletzung von Art. 2, Art. 3 oder auch der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention nach sich ziehen würde.

1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Tunesien:

Hinsichtlich der aktuellen Lage im Herkunftsstaat des BF sind gegenüber den im angefochtenen Bescheid vom 13.11.2020 getroffenen Feststellungen keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen eingetreten. Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Tunesien auszugsweise zitiert. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ist auch keine Änderung bekannt geworden, sodass das Bundesverwaltungsgericht sich diesen Ausführungen vollinhaltlich anschließt und auch zu den seinen erhebt. Im gegebenen Zusammenhang sind mangels sonstiger Bezüge zum Vorbringen die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:

Fallbezogen werden aus dem Länderinformationsblatt nachstehende Feststellungen getroffen:

Tunesien gilt als sicherer Herkunftsstaat gemäß § 1 Z 11 der Herkunftsstaaten-Verordnung.

Politische Lage

Tunesien ist gemäß der Verfassung von 2014 ein freier, unabhängiger und souveräner Staat, dessen Religion der Islam, dessen Sprache das Arabische und dessen Regierungsform die Republik ist. Die erste Phase nach der Flucht des Präsidenten Ben Ali am 14.1.2011 prägten Übergangsregierungen, unterstützt von einer Hohen Instanz zur Verwirklichung der Ziele der Revolution als Ersatzparlament. Ferner betont die Verfassung den zivilen und rechtsstaatlichen Charakter des Regierungssystems. Die Verfassung sieht ein gemischtes Regierungssystem vor, in dem sowohl der Präsident als auch das Parlament direkt vom Volk gewählt werden. Der Premierminister bestimmt die Richtlinien der Politik, mit Ausnahme der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die in der Zuständigkeit des Staatspräsidenten liegen (AA 15.11.2019a; vgl. AA 17.4.2020). Die Verfassung garantiert durch eine stärkere Gewaltenteilung und die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs eine bessere Kontrolle der verschiedenen Gewalten. Außerdem wurde die Gleichstellung von Frauen festgeschrieben. Bezüglich der Rolle der Religion einigten sich die Abgeordneten auf einen zwiespältigen Text, der sowohl den zivilen Charakter des Staates sowie Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert, als auch den Schutz des Sakralen festschreibt (GIZ 6.2020a).

Tunesien hatte nach dem sogenannten Arabischen Frühling vor acht Jahren zwar tiefgreifende demokratische Reformen eingeleitet. Das Land kämpft aber mit großen wirtschaftlichen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist groß (DP 14.10.2019; vgl. TS 14.10.2019). Innerhalb weniger Wochen wurden im Herbst 2019 sowohl der Präsident als auch das Parlament neu gewählt (DP 14.10.2019; vgl. TS 14.10.2019).

Der neue Präsident Kaïes Saïed gilt als unbestechlich und politisch unerfahren. Den Tunesiern verspricht er neben der Bekämpfung der Korruption eine rigorose Überarbeitung der Verfassung und des Wahlsystems sowie mehr Demokratie auf lokaler Ebene. Saïed ist zudem für seine sehr konservativen Ansichten in gesellschaftlichen Fragen bekannt (BAMF 21.10.2019).

Bei der Parlamentswahl wurden die bislang etablierten Parteien deutlich abgestraft (DP 14.10.2019; vgl. TS 14.10.2019). Laut dem am 9.10.2019 veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnis sicherte sich die moderat islamistische Partei Ennahda die meisten Stimmen bei den Parlamentswahlen (BAMF 14.10.2019; vgl. DP 14.10.2019) und 52 der insgesamt 217 Sitze im Parlament. Auf Platz zwei landete die Partei Qalb Tounes (Herz von Tunesien), geführt vom Präsidentschaftskandidaten Nabil Karoui, mit 38 Sitzen (BAMF 14.10.2019; vgl. DP 14.10.2019). Beide Parteien schließen eine Koalition aus. Das Parlament ist stark zersplittert, was eine Regierungsbildung nach Ansicht von Beobachtern schwierig machen könnte (DP 14.10.2019).

Tunesiens designierter Ministerpräsident Habib Jemli hat Anfang 2020 eine Regierung aus unabhängigen Technokraten gebildet, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen (DS 10.1.2020). Regierungschef Jemli hatte aber nicht genügend Unterstützung für eine Koalitionsbildung bekommen (DW 21.1.2020). Daher wurde der frühere Tourismus- und Finanzminister Elyes Fakhfakh vom Präsidenten zum designierten Ministerpräsidenten ernannt (DW 21.1.2020; vgl. BAMF 18.11.2019).

Knapp fünf Monate nach der Parlamentswahl hat Tunesien eine neue Regierung. In der Vertrauensabstimmung bestätigte das Parlament in Tunis mit 129 von 217 möglichen Stimmen Premierminister Elyes Fakhfakh und dessen Ministerriege im Amt (DS 27.2.2020; vgl. DW 27.2.2020, NZZ 27.2.2020). Die Partei übernimmt in der Regierung die Leitung von sechs Ressorts. 17 der 32 Posten im neuen Kabinett werden von parteiunabhängigen Persönlichkeiten besetzt (DW 27.2.2020; vgl. BAMF 2.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (15.11.2019a): Tunesien – Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/politisches-portrait/219068, Zugriff 30.6.2020

-        AA - Auswärtiges Amt Deutschland (17.4.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Februar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (2.3.2020): Briefing Notes 2. März 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2027815/briefingnotes-kw10-2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (18.11.2019): Briefing Notes 18 November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020354/briefingnotes-kw47-2019.pdf, Zugriff 23.6.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (21.10.2019): Briefing Notes 21. Oktober 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020341/briefingnotes-kw43-2019.pdf, Zugriff 27.1.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (14.10.2019): Briefing Notes 14 Oktober 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018357/briefingnotes-kw42-2019.pdf, Zugriff 24.10.2019

-        DP - die Presse (14.10.2019): Erdrutschsieg von Parteilosem Saied bei Präsidentschaftswahl, https://www.diepresse.com/5705812/erdrutschsieg-von-parteilosem-saied-bei-prasidentschaftswahl, Zugriff 24.10.2019

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 23.6.2020

-        DS - der Standard (27.2.2020): Tunesien trotz bestätigter Regierung in instabilen Verhältnissen, https://www.derstandard.at/story/2000115110703/tunesien-trotz-bestaetigter-regierung-in-instabilen-verhaeltnissen?ref=rss, Zugriff 23.6.2020

-        DS - der Standard (10.1.2020): Tunesisches Parlament stimmt gegen Technokraten-Kabinett von designiertem Regierungschef, https://www.derstandard.at/story/2000113173373/tunesisches-parlament-stimmt-gegen-technokraten-kabinett-von-designiertem-regierungschef, Zugriff 13.1.2020

-        DW - Deutsche Welle (27.2.2020): Parlament in Tunis spricht neuer Regierung Vertrauen aus, https://www.dw.com/de/parlament-in-tunis-spricht-neuer-regierung-vertrauen-aus/a-52550137, Zugriff 23.6.2020

-        DW - Deutsche Welle (21.1.2020): Regierungsbildung - Alles auf Anfang in Tunesien, https://www.dw.com/de/alles-auf-anfang-in-tunesien/a-52080584?maca=de-rss-de-region-afrika-4022-rdf, Zugriff 23.1.2020

-        JA - Jeune Afrique (14.10.2019): Tunisie: Kaïs Saïed élu président, d’après les résultats préliminaires officiels de l’Isie, https://www.jeuneafrique.com/842757/politique/tunisie-kais-saied-elu-president-dapres-les-resultats-preliminaires-officiels-de-lisie/, Zugriff 24.10.2019

-        NZZ - Neue Zürcher Zeitung (27.2.2020): Tunesien: Parlament spricht Regierung Vertrauen aus, https://www.nzz.ch/international/tunesien-parlament-spricht-regierung-vertrauen-aus-ld.1542991, Zugriff 23.6.2020

-        TS - Tagesschau.de (14.10.2019): Entscheidung in Stichwahl Parteiloser wird Präsident Tunesiens, https://www.tagesschau.de/ausland/tunesien-stichwahl-107.html, Zugriff 24.10.2019

Sicherheitslage

Die von den bisherigen Regierungen angestrebte Verbesserung der Sicherheitslage im Inneren und der Anti-Terrorkampf bleiben trotz vermehrter Anstrengungen und zahlreichen Verhaftungs- und Durchsuchungsaktionen weiter eine Herausforderung. Nach den tragischen Anschlägen im Jahr 2015 auf das Bardo Museum, eine Hotelanlage in Sousse sowie einen Bus der Präsidialgarde und dem schweren Angriff von IS-Milizen auf die tunesische Grenzstadt Ben Guerdane im März 2016 hat sich die Sicherheitslage verbessert. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z.B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren aber auch der inneren Sicherheit (AA 17.4.2020). Am 27.6.2019 wurden in Tunis zwei Anschläge gegen die Sicherheitskräfte verübt; eine Person wurde getötet und mehrere verletzt, darunter auch Zivilpersonen (EDA 30.6.2020; vgl. BAMF 1.7.2019).

Laut österreichischem Außenministerium gilt eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile. Am 4.4.2020 töteten tunesische Sicherheitskräfte in der Provinz Kasserine nahe der Grenze zu Algerien zwei Terroristen die mit IS-Terroristen in Verbindung gebracht werden (BAMF 6.4.2020). Reisewarnungen bestehen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis. Mit gewaltsamen Aktionen von Terrororganisationen ist zu rechnen. Das militärische Sperrgebiet an der Grenze zu Algerien in der Nähe des Berges Chaambi ist teilweise vermint und kann von den Sicherheitskräften kurzfristig ausgedehnt werden. Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen; es finden bewaffnete Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen statt (BMEIA 30.6.2020). Die Behörden haben insbesondere die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht, vor allem in den Touristenorten (EDA 30.6.2020).

Der nach der Attentatsserie von 2015 verhängte weiterhin andauernde Ausnahmezustand wird regelmäßig verlängert und gilt im ganzen Land (AA 30.6.2020; vgl. BMEIA 30.6.2020) und gewährt den Sicherheitsbehörden einen erweiterten Handlungsspielraum, der von der Zivilgesellschaft durchaus kritisch beobachtet wird (ÖB 11.2019; vgl. FH 4.3.2020). Dies gilt insbesondere für ein entsprechendes Gesetzesprojekt zum „Schutz der Sicherheitskräfte“ (ÖB 11.2019). Mit vermehrten Polizeikontrollen ist landesweit weiterhin zu rechnen (AA 30.6.2020). Der Notstandserlass ermächtigt die Behörden, Streiks oder Demonstrationen zu verbieten, die als Bedrohung der "öffentlichen Ordnung" gelten. Allerdings verfügen die Behörden somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, ohne formelle Anklage zu erheben, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 4.3.2020). Nach wochenlangen, friedlichen Protesten in der im Süden des Landes gelegenen Stadt Tataouine, schlugen diese am 21.6.2020 in Gewalt um, nachdem Sicherheitskräfte einen Wortführer der Protestierenden verhaftet hatten. Die Demonstrierenden blockierten Straßen mit brennenden Reifen und warfen Steine auf die Sicherheitskräfte. Diese gingen mit Tränengas vor (BAMF 22.6.2020).

Die Sicherheitslage ist nach wie vor prekär, geprägt von täglichen Sicherheitsoperationen von Militär und Polizei und Meldungen über vereitelte Anschläge. Die Sorge der Infiltration aus Libyen und anderen Konfliktzonen zurückkehrenden Islamisten tunesischen Ursprungs ist groß. Auch mit Hilfe ausländischer logistischer Unterstützung wurden die Grenzkontrollen drastisch verschärft und es wird auch im Land nach Rückkehrern gefahndet (ÖB 11.2019). Neben dem IS sind weiterhin Gruppen aktiv, die Al Qaida oder anderen extremistisch-islamistischen Ideologien angehören. Beim mit Algerien seit Jahren geführten gemeinsamen Kampf gegen terroristische Gruppierungen im Grenzbereich besteht ein Pattverhältnis, das die Bewegungsfreiheit der Terrorzellen weitgehend einschränkt, aber nicht verhindert. Dennoch sind die Sicherheitskräfte auch hier bemüht, die Situation zunehmend unter Kontrolle zu bringen, wobei das Gelände den Terrorzellen gute Rückzugsmöglichkeiten bietet. Die Sicherheitslage in Libyen verfolgt die tunesische Regierung mit großer Sorge. Die Sicherheitskräfte an der Grenze zu Libyen, einschließlich Militär, wurden daher erheblich verstärkt (AA 17.4.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (17.4.2020): Auswärtiges Amt Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Februar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        AA - Auswärtiges Amt (30.6.2020): Tunesien - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/tunesiensicherheit/219024, Zugriff 30.6.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (22.6.2020): Briefing Notes, 22. Juni 2020, Zugriff 30.6.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (20.4.2020): Briefing Notes 20. April 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029411/briefingnotes-kw17-2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (6.4.2020): Briefing Notes 6. April 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2027827/briefingnotes-kw15-2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (1.7.2019): Briefing Notes, 1. Juli 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2013142/Deutschland___Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_Briefing_Notes%2C_01.07.2019_%28deutsch%29.pdf, Zugriff 21.10.2019

-        BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (30.6.2020): Tunesien - Reiseinformationen, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/, Zugriff 30.6.2020

-        EDA - Eidgenössisches Department für Auswärtige Angelegenheiten (30.6.2020): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/tunesien/reisehinweise-tunesien.html, Zugriff 30.6.2020

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 30.6.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Tunis (11.2019): Asylländerbericht Tunesien

Rechtschutz / Justizwesen

Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020; AA 17.4.2020). Im Allgemeinen respektiert die Regierung die richterliche Unabhängigkeit auch in der Praxis (USDOS 11.3.2020). Allerdings schreitet die Justizreform seit der Revolution nur langsam voran (FH 4.3.2020; vgl. AA 17.4.2020; GIZ 6.2020a). Der Oberste Justizrat konnte seine Arbeit als neues Selbstverwaltungsorgan der Justiz erst aufnehmen, nachdem eine Gesetzesänderung die internen Konflikte der Richterschaft neutralisiert hatte. Als nächster Schritt soll die Konstituierung eines ordentlichen Verfassungsgerichts erfolgen; bislang wacht eine provisorische Instanz über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vor ihrem Inkrafttreten (AA 17.4.2020; vgl. ÖB 11.2019).

Mit dem Tod des ehemaligen Präsidenten Beji Caid-Essebsi wurden das Fehlen eines Verfassungsgerichts deutlich (ÖB 11.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Das führte zu einer fortgesetzten Anwendung repressiver Gesetze ohne die Möglichkeit, ihre Rechtmäßigkeit anzufechten (HRW 14.1.2020).

Auch weiterhin finden sich zahlreiche Richter aus der Ben-Ali-Ära auf der Richterbank und aufeinander folgende Regierungen versuchen regelmäßig, die Gerichte zu manipulieren. Mit den 2016 verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde der Oberste Justizrat eingesetzt, der für die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz und die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts zuständig ist. Die Ratsmitglieder wurden 2016 von Tausenden von Juristen gewählt. Das Gericht, das die Verfassungsmäßigkeit von Dekreten und Gesetzen bewerten soll, war jedoch 2018 weder eingerichtet noch formell ernannt. Bis 2019 waren jedoch weder das Verfassungsgericht, noch seine formell ernannten Mitglieder eingerichtet worden (FH 4.3.2020).

Gesetzlich ist ein faires Verfahren vorgesehen, und die unabhängige Justiz gewährleistet dieses üblicherweise auch in der Praxis. Gemäß Angeklagten sind die gesetzlich garantierten Rechte nicht immer gewährleistet. Es gilt die Unschuldsvermutung. Angeklagte haben das Recht auf einen öffentlichen Prozess sowie auf einen Anwalt, der notfalls aus öffentlichen Mitteln bereitgestellt werden muss. Sie haben das Recht, zu Zeugenaussagen Stellung zu nehmen und eigene Zeugen aufzurufen. Sie müssen in Beweismittel Einsicht nehmen können und müssen über die gegen sie erhobenen Anklagepunkte informiert werden. Des Weiteren muss ihnen ausreichend Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung gewährt werden (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (17.4.2020): Auswärtiges Amt Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Februar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 30.6.2020

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 30.6.2020

-        HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022764.html, Zugriff 27.1.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Tunis (11.2019): Asylländerbericht Tunesien

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020

Sicherheitsbehörden

Dem Innenministerium untersteht die Polizei (Exekutivfunktion in Städten) und die Nationalgarde bzw. Gendarmerie (Exekutivfunktion in ländlichen Gebieten und Grenzsicherung). Zivile Behörden kontrollieren den Sicherheitsapparat, wie wohl es gemäß NGOs vereinzelt zu Misshandlungen von Häftlingen kommt (USDOS 11.3.2020; vgl. GIZ 6.2020a). Es mangelt an effektiven Strafverfolgungs- und Strafmechanismen bei Vergehen seitens der Sicherheitskräfte und diesbezügliche interne Untersuchungen sind von einem Mangel an Transparenz geprägt (USDOS 11.3.2020).

Der Sicherheitsapparat war unter dem Ben-Ali-Regime allgegenwärtig und sicherte dessen Machterhalt. Die Rolle der Sicherheitskräfte während des Umsturzes, aber teilweise auch bei gewaltsam aufgelösten Demonstrationen gegen die ersten beiden Interimsregierungen im Frühjahr 2011, vertieften den Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Sicherheitsorganen, insbesondere der Polizei und den Sondereinheiten des Innenministeriums. Die Kluft zwischen den Behörden für Inneres und der Bevölkerung konnte auch durch die Auflösung der Geheimpolizei („police politique“), die Symbol der staatlichen Repression war, nicht wieder geschlossen werden. Die Demonstranten forderten u.a. den Austausch von führenden Mitarbeitern im Innenministerium. Diese Forderung wurde zunächst nicht im erhofften Maße umgesetzt. Erst mit einiger Verspätung zog das Innenministerium personelle Konsequenzen und Verantwortliche auf verschiedenen Ebenen wurden versetzt, entlassen oder in den Vorruhestand versetzt. Eine von allen internationalen Partnern für notwendig erachtete umfassende Reorganisation des tunesischen Innenministeriums einschließlich der nachgeordneten Behörden wurde bislang noch nicht angegangen, es wurde aber im Sommer 2015 ein internationaler Kooperationsmechanismus etabliert, der zu mehr Transparenz und Koordination der Unterstützung führte (AA 17.4.2020).

Das Militär genießt aufgrund seiner zurückhaltenden Rolle während der Revolution 2011 ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung, welches bis dato anhält. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z.B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren, aber auch der inneren Sicherheit (AA 17.4.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (17.4.2020): Auswärtiges Amt Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Februar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 30.6.2020

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020

NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Eine Vielzahl nationaler und internationaler NGOs untersucht Menschenrechtsfälle und publiziert ihre Ergebnisse ohne Restriktionen durch die Regierung. Regierungsbeamte sind üblicherweise kooperativ und reagieren auf ihre Ansichten (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 17.4.2020). Die seit der Revolution sehr aktiv gewordene Zivilgesellschaft trägt ihren Beitrag zur Anprangerung und Bekämpfung von Missständen bei und hat so schon erfolgreich zu gesetzlichen Veränderungen beigetragen, wie z.B. zur Verabschiedung eines Anti-Rassismus-Gesetzes (ÖB 11.2019). Im Juli 2018 verabschiedete das Parlament ein umstrittenes neues Gesetz, welches alle NGOs verpflichtet, sich zu registrieren. Kritiker argumentieren, dass die Gesetzgebung verfassungswidrig sei und die Registrierungspflicht dazu dienen solle, die Überwachung und Aufsicht der Zivilgesellschaft durch die Regierung zu verstärken. Eine Nichtregistrierung kann zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 4.000 US-Dollar führen (FH 4.3.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (17.4.2020): Auswärtiges Amt Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Februar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 30.6.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Tunis (11.2019): Asylländerbericht Tunesien

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020

Allgemeine Menschenrechtslage

Die tunesische Verfassung vom 26.1.2014 enthält umfangreiche Garantien bürgerlicher und politischer sowie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Grundrechte. Tunesien hat die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert. Vereinzelt noch bestehende Vorbehalte wurden 2011 größtenteils zurückgezogen. Eine ständige Herausforderung bleibt die Anpassung der nationalen Rechtsordnung an die neue Verfassung (AA 17.4.2020).

Tunesien verfügt über eine Reihe an Institutionen, die sich mit Menschenrechten befassen. Das Land schneidet allerdings auch nach dem Umbruch in den Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen regelmäßig schlecht ab. Eingeschränkte Presse- und Meinungsfreiheit, Folter von Häftlingen und Attacken gegen Oppositionelle listet der aktuelle Jahresbericht von Amnesty International auf. Seit dem Sturz Ben Alis hat sich die Situation zwar gebessert, allerdings kommt es nach wie vor zu Menschenrechtsverletzungen, so die Internationale Menschenrechtsliga (FIDH) (GIZ 6.2020a).

Im Vergleich zu den weitreichenden Einschränkungen von Meinungs- und Pressefreiheit vor der Revolution 2011 haben sich die Bedingungen für unabhängige Medienberichterstattung in den letzten Jahren grundlegend verbessert. Sowohl wurden wichtige rechtliche Grundlagen zum Schutz der freien Presse geschaffen, als auch die offiziellen und informellen Strukturen, die zur Unterdrückung freier Meinungsäußerung eingesetzt wurden, größtenteils abgeschafft. Die Meinungs- und Pressefreiheit, sowie auch das Recht auf Zugang zu Informationen und Kommunikationsnetzwerken wurden in den Artikeln 31 und 32 der Verfassung von 2014 ausdrücklich gestärkt. Die Medien berichten frei und offen in unterschiedlicher Qualität (AA 17.4.2020). Der Ausnahmezustand wird zur Rechtfertigung willkürlicher Einschränkungen der Bewegungsfreiheit verwendet (AI 18.2.2020).

Die Öffnung der Medienszene hat in den letzten Jahren zum Entstehen einer lebendigen, teilweise wildwüchsigen Medienlandschaft geführt, die Missstände offen thematisiert (AA 17.4.2020). Gesetzlich sind Meinungs- und Pressefreiheit somit gewährleistet und die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen, wie wohl es weiterhin Restriktionen gibt (USDOS 11.3.2020). Diese Einschränkungen finden sich z. B. in Bezug auf sicherheitsrelevante Themen. Seit den Ausweitungen der Antiterrormaßnahmen hat sich diese Tendenz verstärkt. Journalisten und Blogger, die Kritik an Sicherheitskräften üben, müssen weiterhin mit Strafen rechnen. Ebenso existieren weiterhin Einschränkungen bei der Kritik an der Religion. Rechtlich verankert ist dies u.a. in Artikel 6 der Verfassung, der den „Schutz des Sakralen“ garantiert. Es kommt immer wieder zu einzelnen Fällen von fragwürdiger Strafverfolgung von Journalisten und freischaffenden Bloggern. Entsprechende Verfahren gegen Zivilisten werden oft von Militärgerichten geführt – eine Praxis, die von tunesischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wird (AA 17.4.2020). Während Online- und Printmedien häufig regierungskritische Artikel veröffentlichen, üben Journalisten und Aktivisten dennoch zeitweise Selbstzensur als Resultat von Gewaltakten gegen Journalisten. Meinungsäußerungen, die „die öffentliche Ordnung oder Moral verletzen“ oder „absichtlich Personen stören, auf eine Art und Weise, die den öffentlichen Anstand beleidigen“ stehen weiterhin unter Strafe (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung garantiert das Recht auf friedliche Versammlungen und Demonstrationen (AA 17.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Zu Einschränkungen kommt es mehrfach aufgrund des weiterhin gültigen Ausnahmezustands. Die Übergänge zwischen legitimen Protesten gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik einerseits und periodisch auftretenden gewaltsamen Ausschreitungen und Plünderungen andererseits sind oft fließend. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass die Sicherheitsorgane friedliche Versammlungen und Demonstrationen in der Regel zuverlässig schützen, aber bei Rechtsverletzungen auch entsprechend robust auftreten. Nur vereinzelt kommt es dabei zu unverhältnismäßigem Einsatz polizeilicher Mittel (AA 17.4.2020).

Vereinigungsfreiheit ist gesetzlich gewährleistet (AA 17.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Zuge der Bekämpfung von Terrorismus und Geldwäsche wird derzeit eine Reform des Vereinsrechts vorbereitet, die von der tunesischen Zivilgesellschaft sehr kritisch beobachtet wird, hinsichtlich ihrer abschließenden Gestalt aber noch nicht beurteilt werden kann (AA 17.4.2020).

Die primäre Behörde der Regierung zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und zum Kampf gegen Bedrohungen der Menschenrechte ist das Justizministerium. Das Ministerium versagt allerdings dabei, Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Innerhalb des Präsidentenbüros ist der Hohe Ausschuss für Menschenrechte und Grundfreiheiten eine von der Regierung finanzierte Agentur, die mit der Überwachung der Menschenrechte und der Beratung des Präsidenten betraut ist. Das Ministerium für die Beziehungen zu den Verfassungsorganen, der Zivilgesellschaft und den Menschenrechten ist für die Koordinierung der Regierungsaktivitäten im Zusammenhang mit den Menschenrechten zuständig. Die Wahrheits- und Würdekommission (IVD) wurde 2014 gegründet, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

-        Auswärtiges Amt (17.4.2020): Auswärtiges Amt Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Februar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019; Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025848.html, Zugriff 30.6.2020

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 30.6.2020

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020

Bewegungsfreiheit

Das Gesetz gewährleistet Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen (USDOS 13.3.2019; vgl. FH 4.3.2020), Emigration sowie Wiedereinbürgerung und die Regierung respektiert im Allgemeinen diese Rechte in der Praxis (USDOS 11.3.2020). Die Situation bezüglich Bewegungsfreiheit hat sich seit 2011 substantiell verbessert. Allerdings können die Behörden unter dem breiten Mandat des Ausnahmezustands die Bewegungsfreiheit einzelner Personen beschränken. Davon waren tausende Menschen betroffen (FH 4.3.2020).

Einer Flucht innerhalb Tunesiens werden durch die geringe Größe des Landes enge Grenzen gesetzt. Ein Verlassen besonders gefährdeter Gebiete in den Grenzregionen ist grundsätzlich möglich (AA 17.4.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (17.4.2020): Auswärtiges Amt Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Februar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 30.6.2020

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020

Grundversorgung und Wirtschaft

Die Grundversorgung der Bevölkerung gilt als gut (AA 17.4.2020). Tunesien verfügt über eine moderne Wirtschaftsstruktur auf marktwirtschaftlicher Basis sowie wichtige Standortvorteile: Ein hoher Industrialisierungsgrad, gute Infrastruktur, Nähe zu Europa sowie qualifizierte Arbeitskräfte (AA 6.5.2019b) und Steuervorteile für Exportbetriebe ("Offshore-Sektor") (GIZ 6.2020c). Den größten Anteil am Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet der Dienstleistungssektor (ca. 50% aller Erwerbstätigen), gefolgt von der Industrie (32%) und der Landwirtschaft (ca. 25%) (AA 6.5.2019b; vgl. GIZ 6.2020c). Neben dem Bergbau, der einer der wichtigsten Sektoren der tunesischen Wirtschaft ist, spielen Landwirtschaft, Textilfabrikation und Tourismus eine wichtige Rolle für die tunesische Wirtschaft. Im Dienstleistungssektor spielen vor allem nach Tunesien ausgelagerte Callcenter französischer Firmen und IT-Unternehmen eine große Rolle. Außerdem gründen sich seit 2011 immer mehr Start-Ups. Der sogenannte Start Up Act, der im April 2018 verabschiedet wurde, soll aufstrebenden jungen Kleinunternehmen v.a. im IT-Bereich den Start erleichtern. Seine Umsetzung wird jedoch kritisiert (GIZ 6.2020c).

Der Förderung der Wirtschaft und der Schaffung von Arbeitsplätzen kommt nach der Revolution große Bedeutung zu, da die politischen Ereignisse für einen deutlichen Einbruch der Wirtschaft gesorgt haben. Die Arbeitslosigkeit bleibt eines der dringlichsten Probleme des Landes. Die tunesische Wirtschaft ist auch mehr als sieben Jahre nach dem Umbruch nicht besonders konkurrenzfähig. Das Finanzgesetz 2018 hatte zu Beginn des Jahres massive Proteste ausgelöst (GIZ 6.2020c).

Die größten Herausforderungen liegen in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (AA 6.5.2019; vgl. GIZ 6.2020c) und der Beschäftigungsförderung, der Verbesserung der arbeitsmarktorientierten Aus- und Fortbildung, sowie der Erhöhung des Investitionsniveaus im privaten und öffentlichen Sektor (AA 6.5.2019b). Die Arbeitslosigkeit bewegt sich zwischen 15 und 16%, wobei junge Menschen, Frauen, Akademiker (ca. 300.000) und die benachteiligten Regionen im Binnenland überproportional betroffen sind (AA 6.5.2019b; vgl. GIZ 6.2020c, ÖB 11.2019).

Um regionalen Ungleichheiten zu begegnen, hat Tunesien ein ambitioniertes Programm zur Regionalentwicklung vorgelegt (AA 6.5.2019b). Die aktuelle Regierung hat zur Verbesserung der Grundversorgung der Bevölkerung in den armen Gegenden des Südens und des Landesinnern eine Umwidmung der staatlichen Ausgabenprogramme weg vom gut entwickelten Küstenstreifen hin zu den rückständigeren Regionen vorgenommen (AA 17.4.2020).

Der staatliche Mindestlohn wurde nach der Revolution von 225 auf 380 Dinar monatlich (umgerechnet knapp 125 Euro) angehoben. Dies genügt kaum, um den Lebensunterhalt einer Person zu decken, geschweige denn davon eine Familie zu ernähren. Laut einer aktuellen Untersuchung des Sozialministeriums leben rund 24% der Bevölkerung in Armut, d.h. sie leben von weniger als dem staatlichen Mindestlohn (GIZ 6.2020c). Tunesien ist ein Niedriglohnland. Die durchschnittlichen Monatslöhne im produzierenden Gewerbe liegen zwischen 500 und 800 Dinar. Arbeiter im öffentlichen Sektor verdienen rund 900 Dinar, Beamte 1.000-1.600 Dinar (ÖB 11.2019).

Fast ein Viertel der Bevölkerung, vor allem auf dem Land, lebt in Armut. Nichtsdestotrotz verfügt das Land über eine relativ breite, weit definierte Mittelschicht aus selbständigen Kleinunternehmern, Angestellten und Beamten (deren Einkommen niedrig ist) und einer schmalen Oberschicht. Diese spaltet sich in alteingesessenes Bildungsbürgertum und ökonomische Elite (GIZ 6.2020b).

In Tunesien gibt es ein gewisses strukturiertes Sozialsystem. Es bietet zwar keine großzügigen Leistungen, stellt aber dennoch einen gewissen Basis-Schutz für Bedürftige, Alte und Kranke dar. Der Deckungsgrad beträgt 95%. Folgende staatlichen Hilfen werden angeboten: Rente, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Sterbegeld, Witwenrente, Waisenrente, Invalidenrente, Hilfen für arme Familien, Erstattung der Sach- und Personalkosten bei Krankenbehandlung, Kredite für Familien. Eine Arbeitslosenunterstützung wird für maximal ein Jahr ausbezahlt – allerdings unter der Voraussetzung, dass man vorab sozialversichert war. Es gibt folgende Arbeitsvermittlungsinstitutionen: Nationale Arbeitsagentur (ANETI), Berufsbildungsagentur (ATFP), Zentrum für die Ausbildung der Ausbilder und die Entwicklung von Lehrplänen (CENAFFIF), Zentrum für die Weiterbildung und Förderung der beruflichen Bildung (CNFCPP) (ÖB 11.2019).

Es existiert ein an ein sozialversichertes Beschäftigungsverhältnis geknüpftes Kranken- und Rentenversicherungssystem. Nahezu alle Bürger finden Zugang zum Gesundheitssystem. Die Regelungen der Familienmitversicherung sind großzügig und umfassen sowohl Ehepartner, als auch Kinder und sogar Eltern der Versicherten. Allerdings gibt es keine allgemeine Grundversorgung oder Sozialhilfe. Die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Lasten müssen überwiegend durch den traditionellen Verband der Großfamilie aufgefangen werden, deren Zusammenhalt allerdings schwindet (AA 17.4.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (17.4.2020): Auswärtiges Amt Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Februar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        AA - Auswärtiges Amt (9.2019b): Tunesien - Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/-/219026, Zugriff 21.10.2019

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020b): Tunesien - Gesellschaft, http://liportal.giz.de/tunesien/gesellschaft/, Zugriff 30.6.2020

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020c): Tunesien - Wirtschaft & Entwicklung, http://liportal.giz.de/tunesien/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 30.6.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Tunis (11.2019): Asylländerbericht Tunesien

Medizinische Versorgung

Die medizinische Versorgung (einschließlich eines akzeptabel funktionierenden staatlichen Gesundheitswesens) hat das für ein Schwellenland übliche Niveau (AA 17.4.2020) und ist gewährleistet (BMEIA 30.6.2020). Eine weitreichende Versorgung ist in den Ballungsräumen (Tunis, Sfax, Sousse) gewährleistet; Probleme gibt es dagegen in den entlegenen Landesteilen. Auch die Behandlung psychischer Erkrankungen ist möglich. Die medizinische Behandlung von HIV-Infizierten bzw. AIDS-Kranken ist sichergestellt; es handelt sich jedoch um ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema (AA 17.4.2020). Zwar gibt es in allen Landesteilen staatliche Gesundheitseinrichtungen, diese sind jedoch trotz guter medizinischer Ausbildung der Beschäftigten oft in desolatem Zustand: es mangelt an Ausstattung und Fachärzten, die vor allem in den Großstädten an der Küste angesiedelt sind. Darunter leiden vor allem bedürftige Patienten (GIZ 6.2020b).

In Einzelfällen kann es, insbesondere bei der Behandlung mit speziellen Medikamenten, Versorgungsprobleme geben. Ein Import dieser Medikamente ist grundsätzlich möglich, wenn auch nur auf eigene Kosten der Patienten. In Einzelfällen ist also eine konkrete Nachfrage bezüglich der Verfügbarkeit der benötigten Medikamente erforderlich, in den allermeisten Fällen sind sie vor Ort problemlos erhältlich (AA 17.4.2020). Seit dem Sommer 2018 fehlt es überdies immer häufiger an Medikamenten, die auf Grund von Zahlungsschwierigkeiten der Zentralapotheke nicht mehr eingekauft werden (GIZ 6.2020b).

Darüber hinaus gibt es ein weites Netz an Privatkliniken und niedergelassenen Ärzten von oft deutlich besserer Qualität. Tunesien gibt rund 6% seines Staatshaushaltes für das Gesundheitswesen aus. Die staatliche Krankenkasse CNAM ist für die Versicherung zuständig und erstattet Behandlungen in staatlichen Einrichtungen und teilweise auch Behandlungskosten bei niedergelassenen Ärzten. Ähnlich wie in Deutschland wird dabei ein Hausarzt-Modell praktiziert. Auch Medikamente werden teilweise erstattet (GIZ 6.2020b).

Tunesien hat lange Zeit in das Gesundheitswesen investiert. Ein Großteil der Ärzteschaft ist gut ausgebildet (z.T. auch im Ausland) und das Pflegepersonal ist günstig – die Basis für einen zunehmenden Gesundheitstourismus. Eine stark angestiegene Anzahl an Privatkliniken bedient meist Ausländer, u.a. zahlungskräftigen Libyer und Algerier. Die öffentliche Gesundheitsversorgung ist nach einem dreistufigen System organisiert und dringend reformbedürftig: erweiterte Leistung der Bezirkskrankenhäuser, verstärkte Ausstattung der Regionalkrankenhäuser und Ausbau der Uni-Kliniken. Zwar beträgt der Radius weniger als 5 km zur Erlangung medizinischer Hilfe, jedoch ist die qualitative Ausstattung in den öffentlichen Krankenhäusern katastrophal: fehlende Spezialisten, Überbelegung, lange Wartezeiten, katastrophale sanitäre Zustände, geringe Anfangsgehälter für ausgebildete Ärzte sind Realität. Beim Aufsuchen eines Arztes muss der Behandlungspreis stets sofort entrichtet werden. Je nach Praxis (Krankenhaus, Klinik, Hospital, Fachgebiet) sind das zwischen 20 und 80 Dinar, also etwa 8-30 Euro. 2005 wurden die beiden Krankenkassen (CNSS: Caisse nationale de sécurité sociale und CNRPS: Caisse nationale de retraite et de prévoyance sociale) zur Caisse Nationale d’Assurance Maladie (CNAM) zusammengelegt. Allerdings ist diese Kasse mit ca. 1 Milliarden Dinar hoch verschuldet – fehlende Beitragszahlungen und verteuerte Medikamente sind nur einige der Gründe. Tatsächlich besteht eine Klassengesellschaft innerhalb der medizinischen Versorgung. Nur gut betuchte können sich Privat- und Spezialkliniken oder Ärztezentren leisten, wo die Versorgung hochpreisig, einwandfrei und an westlichen Standards angepasst ist (ÖB 11.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (17.4.2020): Auswärtiges Amt Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Februar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 30.6.2020

-        BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (30.6.2020): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/, Zugriff 30.6.2020

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2020b): Tunesien - Gesellschaft, http://liportal.giz.de/tunesien/gesellschaft/, Zugriff 30.6.2020

-        ÖB - Österreichische Botschaft Tunis (11.2019): Asylländerbericht Tunesien

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.

Zusammengefasst ist festzustellen, dass eine Rückführung des BF in seinen Heimatstaat Tunesien für diesen eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK (ZPERMRK) bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Dem BF droht im Falle einer Rückkehr weder der gänzliche Entzug der Lebensgrundlage noch würde er in eine existenzbedrohende oder medizinische Notlage geraten. Der 33-jährige BF ist gesund und hat in Tunesien den Großteil seines Lebens verbracht, er wird von seiner Familie finanziell unterstützt und er verfügt laut eigenen Angaben über eine Schulbildung und hat den Beruf des Schneiders erlernt. Staatliche Repressionen im Falle der Rückkehr nach Tunesien allein wegen der Beantragung von Asyl können nicht festgestellt werden. Auch sonst wurden keine Anhaltspunkte dafür bekannt, dass die Abschiebung des BF in seinen Heimatstaat Tunesien unzulässig wäre.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF vor dieser am 18.11.2020 und im Beisein der Rechtsberatung am 20.11.2020, den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 09.11.2020 sowie seiner Befragung durch den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienst im Rahmen seiner rechtswidrigen Einreise am 05.11.2020, in den bekämpften Bescheid vom 05.12.2020 und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Tunesien.

Der BF bestreitet den von der belangten Behörde festgestellten Sachverhalt nicht substantiiert und erstattete in der Beschwerde auch kein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen, sodass das Bundesverwaltungsgericht den maßgeblichen Sachverhalt als ausreichend ermittelt ansieht und sich der von der belangten Behörde vorgenommenen, nachvollziehbaren Beweiswürdigung vollumfänglich anschließt.

Die belangte Behörde hat ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammengefasst. Das Bundesverwaltungsgericht verweist daher zunächst auf diese schlüssigen und nachvollziehbaren beweiswürdigenden Ausführungen der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid. Auch der Beschwerde vermag das Bundesverwaltungsgericht keine neuen Sachverhaltselemente zu entnehmen, welche geeignet wären, die von der erstinstanzlichen Behörde getroffenen Entscheidungen in Frage zu stellen.

2.2. Zur Person des Beschwerdefü

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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