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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
ASVG §293Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 24. Juni 2020, VGW-151/074/720/2020-21, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: M K, vertreten durch Dr. Georg Uitz in 1010 Wien, Doblhoffgasse 5/12), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein ukrainischer Staatsangehöriger, stellte am 18. Juli 2019 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) unter Berufung auf seine Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin.
2 Mit Bescheid vom 11. November 2019 wies der Landeshauptmann von Wien (Behörde) den Antrag des Mitbeteiligten wegen fehlender Unterhaltsmittel gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit Abs. 5 NAG ab.
3 Mit der angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht Wien (VwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der dagegen erhobenen Beschwerde statt, hob den Bescheid auf und erteilte dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 2 NAG den beantragten Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ für die Dauer von zwölf Monaten. Die ordentliche Revision wurde für unzulässig erklärt.
Begründend stellte das VwG - soweit für das gegenständliche Verfahren relevant - folgende Unterhaltsmittel fest: die Ehefrau des Revisionswerbers beziehe Kinderbetreuungsgeld in Höhe von € 14,53 täglich bis voraussichtlich 8. Jänner 2021, sowie Beihilfe in Höhe von € 6,06 täglich bis voraussichtlich 28. Oktober 2020. Daraus ergebe sich ein monatliches Einkommen der Ehefrau von derzeit € 617,--. Zusätzlich verfüge die Ehefrau über Ersparnisse in Höhe von € 4.480,-- (Stand 26. Mai 2020) bzw. € 3.990,-- (Stand 4. Juni 2020). Der Revisionswerber habe Ersparnisse in Höhe von € 7.726,-- (Stand 26. Mai 2020) bzw. € 7.525,-- (Stand 4. Juni 2020). Dem stehe ein monatlicher Bedarf von € 1.621,15 [Richtsatz gemäß § 293 Abs. 1 lit. a sublit. aa ASVG] für den Revisionswerber, seine Ehefrau und die am 11. September 2018 geborene gemeinsame Tochter gegenüber. Die Wohnung werde von der Schwiegermutter des Revisionswerbers kostenlos zur Verfügung gestellt; auch die Betriebskosten würden von dieser getragen.
Lege man - so das VwG weiter - der Beurteilung den Kontostand der Eheleute vom 26. Mai 2020 (€ 12.206,--) zugrunde, werde „der gesetzliche Richtsatz unter Hinzurechnung des Einkommens der Ehefrau erreicht“. Somit liege der Versagungsgrund des § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG nicht vor. Der Kontostand vom 4. Juni 2020 (€ 11.515,--) sei hingegen nicht ausreichend, doch werde der Richtsatz nur geringfügig um € 100,-- unterschritten. Aufgrund der Geringfügigkeit der Unterschreitung und der für Girokonten typischen (Tages)Schwankung sei dieser vernachlässigbar, zumal nur acht Tage zuvor der normierte Richtsatz erreicht und mit den vorgelegten Unterlagen nachgewiesen worden sei.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
5 Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Zur Zulässigkeit der Revision bringt der Revisionswerber im Wesentlichen vor, das VwG habe dem Verfahren einen falschen Richtsatz zugrunde gelegt; für das Jahr 2020 betrage dieser für ein im gemeinsamen Haushalt lebendes Ehepaar und ein minderjähriges Kind € 1.674,14 statt der vom VwG angenommenen € 1.621,15. Zusätzlich sei das VwG von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Unterhaltsberechnung abgewichen, indem es die der zusammenführenden Ehefrau für die Tochter gewährte Familienbeihilfe bei der Prüfung des Nachweises ausreichender Unterhaltsmittel berücksichtigt habe. Das VwG hätte auch die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Entscheidung und somit den Kontostand per 4. Juni 2020 berücksichtigen müssen, zumal keine Anhaltspunkte dafür festgestellt worden seien, dass in absehbarer Zeit mit einer Änderung der Einkommensverhältnisse zu rechnen sein werde. Letztlich seien auch keine Ausführungen getroffen worden, dass dem Revisionswerber aufgrund von Art. 8 EMRK ein Aufenthaltstitel zu erteilen wäre.
7 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und begründet.
8 Die maßgeblichen Vorschriften des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2020, lauten auszugsweise:
„Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel
§ 11. (1) ...
(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn
1. ...
4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;
5. ...
(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§ 2 Abs. 4 Z 3) oder durch eine Haftungserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 15) ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß § 291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr. 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage.
Aufenthaltstitel ‚Familienangehöriger‘ und ‚Niederlassungsbewilligung - Angehöriger‘
§ 47. (1) Zusammenführende im Sinne der Abs. 2 bis 4 sind Österreicher oder EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben.
(2) Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden sind, ist ein Aufenthaltstitel ‚Familienangehöriger‘ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen.
(3) ...“
9 Das VwG verkannte die Rechtslage betreffend die Berechnung der Unterhaltsmittel in mehrfacher Weise.
Zunächst trifft es zu, dass der Richtsatz gemäß § 293 Abs. 1 lit. a sublit. aa ASVG unter Berücksichtigung des § 727 Abs. 2 ASVG idF BGBl. I Nr. 21/2020 im Jahr 2020 für ein im gleichen Haushalt lebendes Ehepaar und ein minderjähriges Kind € 1.674,14 betrug.
Darüber hinaus sprach der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt aus, dass die Familienbeihilfe bei der Prüfung des Nachweises ausreichender Unterhaltsmittel für einen Fremden nicht zu berücksichtigen ist (vgl. etwa VwGH 25.5.2020, Ra 2019/22/0151, Rn. 12, mwN).
Das VwG stellte auch keine nachvollziehbare Prognose betreffend das Vorhandensein ausreichender Unterhaltsmittel während der Dauer des beantragten Aufenthaltstitels an. Nach der ständigen hg. Rechtsprechung verbietet sich ein Abstellen allein auf den Zeitpunkt der Erlassung der Entscheidung, wenn in absehbarer Zeit mit einer Änderung der Einkommensverhältnisse zu rechnen ist (vgl. dazu etwa VwGH 27.2.2020, Ra 2019/22/0203, Rn. 10, mwN). Gleichermaßen ist ein einmaliges Erreichen der Richtsätze in der Vergangenheit kein geeigneter Nachweis dafür, dass der Aufenthalt des Fremden während der Dauer des beantragten Aufenthaltstitels zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte, sofern nicht Umstände festgestellt werden, aufgrund derer künftig von einer Änderung der Einkommensverhältnisse auszugehen ist. Derartige Feststellungen sind dem angefochtenen Erkenntnis jedoch nicht zu entnehmen.
Das VwG ist insoweit von einer verfehlten Rechtsauffassung ausgegangen.
10 Das angefochtene Erkenntnis lässt sich aber auch nicht auf eine aus der Rechtsprechung des EuGH abgeleitete Überlegung stützen. Nach der Rechtsprechung des EuGH zur Richtlinie 2003/86/EG (vgl. EuGH 4.3.2010, Chakroun, C-578/08, Rn. 48) darf die Unterschreitung des vorgegebenen Mindesteinkommens nicht ohne konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Antragstellers die Ablehnung der Familienzusammenführung zur Folge haben, sondern macht eine individuelle Prüfung erforderlich, um das Vorliegen der betreffenden Erteilungsvoraussetzung beurteilen zu können (vgl. dazu nochmals VwGH Ra 2019/22/0151, Rn. 16, mwN). Eine solche individuelle Prüfung, ob der Lebensunterhalt trotz Unterschreiten der gesetzlich normierten Richtsätze gesichert sei, ist dem angefochtenen Erkenntnis jedoch nicht zu entnehmen.
11 Das Verwaltungsgericht belastete die angefochtene Erkenntnis daher mit Rechtswidrigkeit, indem es auf Grund einer in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vorgenommenen Berechnung der Unterhaltsmittel von der Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 in Verbindung mit Abs. 5 NAG ausging.
12 Die angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 27. Jänner 2021
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220191.L00Im RIS seit
23.03.2021Zuletzt aktualisiert am
23.03.2021