TE Vwgh Erkenntnis 2021/2/2 Ra 2020/19/0198

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Veröffentlicht am 02.02.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des R M, vertreten durch Dr. Otto Dietrich, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Operngasse 6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. April 2020, W155 2182837-1/12E, betreffend Angelegenheiten nach dem Asyl 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 9. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte vor, er habe seinen Herkunftsstaat bereits als Kleinkind verlassen und sei in Pakistan und im Iran aufgewachsen, jedoch zweimal von den iranischen Behörden nach Afghanistan zurückgeschickt worden. Bei seinen Aufenthalten in Afghanistan sei er von unbekannten Personen entführt und misshandelt worden. Auch leide er an einer psychiatrischen Erkrankung.

2        Mit Bescheid vom 12. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise fest.

3        In seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde brachte der Revisionswerber unter anderem vor, er leide an einer psychiatrischen Erkrankung, nämlich insbesondere an Depressionen sowie infolgedessen an Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen, und stehe deshalb seit dem Jahr 2016 in Behandlung. Es sei auch ein stationärer Aufenthalt in der Psychiatrie erforderlich gewesen. Der Revisionswerber sei mit der afghanischen Kultur, da er nicht in seinem Herkunftsstaat aufgewachsen sei, nicht vertraut. Er habe auch keinen Kontakt zu in Afghanistan lebenden Angehörigen. Die Annahme, dass er sich das Überleben aus eigener Kraft sichern könnte, treffe vor dem Hintergrund der derzeitigen Lage in Afghanistan nicht zu. Verfolgung drohe ihm im Übrigen bereits aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara. Hinsichtlich seines Gesundheitszustandes legte der Revisionswerber diverse medizinische Unterlagen vor.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Das BVwG führte begründend - soweit hier wesentlich - aus, dem Revisionswerber drohe bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat weder aufgrund ihn persönlich betreffender Umstände noch aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara Verfolgung. Der Revisionswerber habe Afghanistan mit seiner Familie im Alter von sechs Monaten verlassen und in der Folge in Pakistan und im Iran gelebt. Er sei zweimal nach Afghanistan abgeschoben worden, wo er kurzzeitig als Bauarbeiter tätig gewesen sei. Im Iran habe er für sieben Jahre als Traktorfahrer und Schweißer gearbeitet. Die Familienangehörigen des Revisionswerbers befänden sich im Iran. Seine Muttersprache, die er in Wort und Schrift beherrsche, sei Farsi. Beim Revisionswerber liege keine lebensbedrohliche Erkrankung vor. Im Februar 2016 sei bei ihm „eine vorübergehende wahnhafte Störung“ diagnostiziert worden. Darüber hinaus sei bei ihm eine Lumboischialgie, eine emotional instabile Persönlichkeits- und Anpassungsstörung sowie eine Alkoholabhängigkeit festgestellt worden. Er sei nicht suizidgefährdet und nehme aktuell keine Medikamente ein. Beim Revisionswerber handle es sich um einen „leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter“. Er sei arbeitsfähig.

6        Bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz seiner Familie drohe dem Revisionswerber in Hinblick auf die schlechte Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Eine solche Gefahr bestehe jedoch nicht in den Städten Herat und Mazar-e Sharif. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber dort „Gefahr liefe, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten“. Seine Existenz könne der Revisionswerber mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Eine Gefahr, dass er in Mazar-e Sharif oder Herat seine grundlegenden Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft nicht befriedigen und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten könnte, sei somit nicht anzunehmen.

7        In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, der Status des Asylberechtigten sei dem Revisionswerber nicht zuzuerkennen, weil nicht im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 glaubhaft sei, dass ihm in seinem Herkunftsstaat Verfolgung aus einem Konventionsgrund drohe. Da dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif offenstehe, sei auch der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen. Hinsichtlich der Erkrankung des Revisionswerbers sei ausgehend von seiner Aussage in der mündlichen Verhandlung festzuhalten, dass der Revisionswerber einen nach einem Befundbericht angeordneten Kontrolltermin „nicht nachweislich wahrgenommen“ habe. Der Revisionswerber nehme somit keine Therapie in Anspruch und sei nicht suizidgefährdet.

8        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

9        Zu Spruchpunkt I.:

10       Hinsichtlich der Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten enthält die Revision kein Vorbringen. Da somit keine Rechtsfragen aufgezeigt werden, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme, war die Revision insoweit gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

11       Zu Spruchpunkt II.:

12       Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wendet sich die Revision unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zusammengefasst gegen die Annahme, dass dem Revisionswerber eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe. Das BVwG habe insbesondere eine ausreichende Auseinandersetzung mit der psychischen Erkrankung und damit mit der Vulnerabilität des Revisionswerbers unterlassen und die Covid-19-Pandemie in Afghanistan bzw. deren Auswirkungen gänzlich ignoriert.

13       Die Revision ist zulässig und berechtigt.

14       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits wiederholt dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können (vgl. dazu grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; sowie etwa 25.5.2020, Ra 2019/19/0192). Demzufolge hat die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates wesentliche Bedeutung. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigten, findet. Sind diese Voraussetzungen zu bejahen, so wird dem Asylwerber unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative zuzumuten sein. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 23.9.2020, Ra 2020/14/0134, mwN). Eine aus den persönlichen Umständen eines Asylwerbers folgende spezifische Vulnerabilität, die bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative - insbesondere vor dem Hintergrund einer prekären Versorgungslage - Bedeutung erlangen kann, kann sich nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes etwa aus einer schweren Erkrankung des Asylwerbers und einer damit einhergehenden Einschränkung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit ergeben (vgl. idS etwa VwGH 18.5.2020, Ra 2019/18/0356; 24.6.2020, Ra 2019/20/0536; 1.10.2020, Ra 2020/19/0133).

15       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa VwGH 6.10.2020, Ra 2019/19/0462, mwN).

16       Die Revision zeigt zutreffend auf, dass das BVwG sich im vorliegenden Fall vor dem Hintergrund des Vorbringens und der vorgelegten Urkunden näher mit dem Gesundheitszustand und der Arbeitsfähigkeit des Revisionswerbers hätte auseinandersetzen müssen. Nach den in Vorlage gebrachten medizinischen Unterlagen leidet der Revisionswerber insbesondere an Krankheiten, die dem Fachgebiet der Psychiatrie zugehörig sind. Die Unterlagen ergeben hinsichtlich der Frage, ob der Revisionswerber dadurch maßgeblich in seiner Leistungs- bzw. Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist, kein eindeutiges Bild. Es ergibt sich aber insbesondere, dass die Krankheitszustände zu einem stationären Aufenthalt an einer Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin geführt haben. In einem vom Revisionswerber vorgelegten Schreiben der Caritas vom Dezember 2019 wird ausgeführt, der Revisionswerber befinde sich in psychiatrischer Behandlung und habe einen „erhöhten Betreuungsbedarf“, der sich im Bedarf an Unterstützung im Alltag - etwa bei Arztbesuchen - äußere. Vor diesem Hintergrund ist die Revision damit im Recht, dass zur Abklärung des Gesundheitszustandes und der sich daraus ergebenden Leistungs- und Arbeitsfähigkeit des Revisionswerbers weitere Erhebungen - etwa durch Einholung eines Gutachtens aus dem Fachgebiet der Psychiatrie - erforderlich gewesen wären.

17       Der im Zuge der rechtlichen Beurteilung erfolgte Hinweis des BVwG, dass der Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung keine Angaben dazu machen konnte, ob er einen in einem Arztbrief angeordneten Kontrolltermin wahrgenommen habe, lässt außer Acht, dass der Revisionswerber bereits in der Beschwerde vorgebracht hat, an Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen zu leiden, und auch in der Verhandlung seine Unkenntnis darüber, ob der ärztliche Kontrolltermin wahrgenommen wurde, mit einer krankheitsbedingten Vergesslichkeit begründet hat. Die Aussagen des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung lassen daher jedenfalls nicht den Schluss zu, dass der Revisionswerber derzeit keiner Therapie bedürfte bzw. durch seine Erkrankung aktuell in seiner Leistungs- und Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt wäre.

18       Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das BVwG bei ausreichender Auseinandersetzung mit dem Gesundheitszustand des Revisionswerbers zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich des Bestehens einer zumutbaren Fluchtalternative hätte gelangen können. Nach den vom BVwG getroffenen Feststellungen sind die Versorgungslage und die Lage am Arbeitsmarkt in Herat und Mazar-e Sharif angespannt. Dazu tritt, dass der Revisionswerber in Pakistan und im Iran aufgewachsen ist und nach den im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen in seinem Herkunftsstaat über kein familiäres Netzwerk verfügt, von dem Unterstützung zu erwarten wäre. Dies ist im Zuge der Einzelfallprüfung, die hinsichtlich des Vorliegens einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative anzustellen ist, - gerade auch vor dem Hintergrund einer persönlichen Vulnerabilität - zu berücksichtigen (vgl. näher unter Hinweis auf die Einschätzungen von UNHCR und EASO VwGH 7.2.2020, Ra 2019/18/0400).

19       Die Revision weist weiters zutreffend darauf hin, dass das BVwG darüber hinaus auch jegliche Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in Afghanistan unterlassen hat. Es kann auch insoweit nicht ausgeschlossen werden, dass sich daraus Auswirkungen auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat ergeben hätten, die - allenfalls in Zusammenhalt mit einer persönlichen Vulnerabilität des Revisionswerbers aufgrund seiner Erkrankung - zu einer anderen Beurteilung geführt hätten.

20       Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und der darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

21       Von der Durchführung der beantragen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1, 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

22       Der Kostenzuspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 2. Februar 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190198.L00

Im RIS seit

23.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

23.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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