TE Vwgh Erkenntnis 2021/2/4 Ra 2020/18/0477

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Veröffentlicht am 04.02.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §45 Abs2
AVG §47
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A F, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2020, W174 2125881-1/14E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Kunduz, beantragte am 2. November 2015 internationalen Schutz. Zur Begründung brachte er zusammengefasst vor, in Afghanistan für zwei humanitäre Hilfs- und Entwicklungseinrichtungen (nämlich für das „Swedish Committee for Afghanistan“ und für „WAYPADO - Women and Youth Program for Peace and Development Organization“) gearbeitet zu haben und deshalb von den Taliban verfolgt zu werden.

2        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 7. April 2016 ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

3        Begründend führte das BVwG zum Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe nicht glaubhaft machen können, in Afghanistan wegen einer Tätigkeit für ausländische Organisationen von Verfolgung durch die Taliban bedroht zu sein. Auch subsidiärer Schutz sei ihm ungeachtet der schlechten Sicherheitslage in seiner Herkunftsprovinz nicht zu gewähren, weil er in den afghanischen Städten Herat oder Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vorfinde.

4        Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache (unter anderem) geltend macht, das BVwG habe sich - abweichend von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - in vorgreifender Beweiswürdigung mit vorgelegten Beweismitteln, nämlich Schreiben des „Swedish Committee for Afghanistan“ und von WAYPADO, die eine berufliche Tätigkeit des Revisionswerbers für diese Nichtregierungsorganisationen bestätigten, nicht auseinandergesetzt. Wären diese Beweismittel inhaltlich gewürdigt worden, so hätte sich klar ergeben, dass der Revisionswerber, wie von ihm geschildert, für diese Hilfsorganisationen tätig war und schon aus diesem Grund bei Rückkehr nach Afghanistan gefährdet wäre (Hinweis auf die Risikoprofile nach den EASO-Guidelines und den UNHCR-Richtlinien).

5        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

6        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7        Die Revision ist zulässig und begründet.

8        Das BVwG beschränkt sich in der angefochtenen Entscheidung auf die Feststellung, der Revisionswerber habe nicht glaubhaft machen können, in Afghanistan wegen einer Tätigkeit für ausländische Organisationen von Verfolgung durch die Taliban bedroht zu sein. In der Beweiswürdigung wird darzulegen versucht, dass das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers „in zahlreichen Punkten widersprüchlich, gesteigert, insgesamt nicht plausibel und deshalb nicht glaubwürdig“ gewesen sei. Der gesamten Begründung des angefochtenen Erkenntnisses ist jedoch nicht zu entnehmen, ob das BVwG die Tätigkeit des Revisionswerbers für die von ihm genannten humanitären Hilfsorganisationen in Zweifel gezogen hat. Ohne Kenntnis dieser Umstände lässt sich auch nicht abschließend beurteilen, ob dem Revisionswerber bei Rückkehr asylrelevante Verfolgung drohen könnte. Zu Recht verweist die Revision nämlich auf die einschlägigen Richtlinien von EASO und UNHCR, die spezielle Risikoprofile für Mitarbeiter humanitärer Hilfs- und Entwicklungsorganisationen enthalten (und auf welche das BVwG in seinen Länderfeststellungen auch ausdrücklich verwiesen hat, ohne daraus erkennbare Schlüsse zu ziehen). So führen beispielsweise die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 aus (S. 49 f): „Regierungsfeindliche Kräfte greifen Berichten zufolge Zivilisten an, die Mitarbeiter internationaler oder afghanischer humanitärer Hilfsorganisationen sind, darunter afghanische Staatsbürger, die für Sonderorganisationen der Vereinten Nationen arbeiten, Mitarbeiter internationaler Entwicklungsorganisationen, nationaler und internationaler Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ... Personen mit diesen Profilen wurden Berichten zufolge getötet, entführt und eingeschüchtert.“

9        Der Revisionswerber hat im Laufe des Verfahrens urkundliche Unterlagen vorgelegt, die seine berufliche Tätigkeit für diese Organisationen belegen sollen. Das BVwG merkt zu diesen Dokumenten lediglich „grundsätzlich“ an, dass von der inhaltlichen Richtigkeit auch von formell echten Urkunden nicht in jedem Fall ausgegangen werden könne und zudem verfahrensangepasste Urkunden häufig vorgelegt sowie unterstützende Formen der Dokumentation leicht gefälscht werden könnten. Dies gelte auch für Dienstausweise und Empfehlungsschreiben, sodass diesen für sich genommen noch keine ausreichende Beweiskraft zukomme.

10       Ob das BVwG mit diesen grundsätzlichen Erwägungen zum Ausdruck bringen wollte, dass der Revisionswerber nach Einschätzung des Verwaltungsgerichts konkret die von ihm vorgebrachte berufliche Tätigkeit für die humanitären Hilfsorganisationen in Afghanistan nicht nachgewiesen habe, erhellt aus der weiteren Begründung des angefochtenen Erkenntnisses nicht. Ungeachtet dessen ist, wie die Revision zutreffend aufzeigt, auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen. Die „freie Beweiswürdigung“ gemäß
§ 45 Abs. 2 AVG (hier in Verbindung mit § 17 VwGVG) darf erst nach einer vollständigen Beweiserhebung durch die Behörde einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert des Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 10.1.2020, Ra 2019/18/0026, mwN).

11       Somit hat sich das BVwG bei seiner Beurteilung des gegenständlichen Fluchtvorbringens - abweichend von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung - nicht mit sämtlichen Beweisergebnissen mangelfrei beschäftigt. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass bei Vermeidung dieser Verfahrensmängel ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können.

12       Das angefochtene Erkenntnis war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

13       Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 4. Febuar 2021

Schlagworte

Beweismittel Urkunden Beweiswürdigung antizipative vorweggenommene

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180477.L00

Im RIS seit

23.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

23.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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