TE Vwgh Erkenntnis 2021/2/5 Ro 2020/21/0002

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Veröffentlicht am 05.02.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §56
FrPolG 2005 §76 Abs2a
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z3
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z5
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z9
FrPolG 2005 §76 Abs4
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Oktober 2019, G303 2224175-1/4E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: N M, im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe in 1170 Wien, Wattgasse 48/3. Stock), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 20. September 2019, zugestellt am 27. September 2019, wurde gegen den Mitbeteiligten, einen afghanischen Staatsangehörigen, gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet, wobei die Rechtsfolgen des Bescheides erst nach Entlassung des Mitbeteiligten aus der zum Zeitpunkt der Erlassung dieses Bescheides noch aufrechten Strafhaft eintreten sollten. Das voraussichtliche Ende der Strafhaft war zunächst mit 17. Juli 2020 berechnet worden und verschob sich auf Grund eines weiteren, am 27. September 2019 in Rechtskraft erwachsenen Strafurteils (wegen einer in der Haft begangenen gefährlichen Drohung) vom 23. September 2019 auf den 17. Jänner 2021.

2        Das BFA stellte fest, dass der erste Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz vom 21. September 2012 mit im Beschwerdeweg ergangenem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Jänner 2014 vollumfänglich abgewiesen worden sei. Eine Rückkehrentscheidung (samt Nebenaussprüchen) sei sodann - nach Zurückverweisung an das BFA zunächst gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 und dann nochmals gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG - mit Bescheid vom 27. September 2016, bestätigt mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. April 2017, ergangen.

3        Am 17. Juni 2016 sei der Mitbeteiligte wegen des Verdachtes gemäß §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 4, 288 Abs. 1 und 107 Abs. 1 sowie 125 StGB verhaftet worden. Seither befinde er sich in Gerichtshaft.

4        Am 5. Juli 2017 habe er im Stand der Strafhaft erneut einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Dieser sei mit Bescheid des BFA vom 2. Oktober 2017 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen worden; gleichzeitig sei (insbesondere) ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot ergangen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde sei vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 8. November 2017 abgewiesen worden.

5        Am 16. Jänner 2019 habe der Mitbeteiligte in der Strafhaft seinen dritten Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der mit Bescheid des BFA vom 22. Februar 2019, bestätigt mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. März 2019, erneut wegen entschiedener Sache zurückgewiesen worden sei.

6        Gegen den Mitbeteiligten bestehe eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem siebenjährigen Einreiseverbot. Es sei beabsichtigt, ihn nach Ausstellung eines Heimreisezertifikats in sein Heimatland abzuschieben.

7        Das Vorliegen von Fluchtgefahr im Sinn des § 76 Abs. 3 FPG begründete das BFA damit, dass die vermehrten Asylantragstellungen des Mitbeteiligten - zuletzt aus der Strafhaft heraus - zeigten, dass er nicht gewillt sei, die Entscheidungen der Asylbehörde - wiederholte Abweisungen - zu akzeptieren. Auch aus der Wohnund Familiensituation und der fehlenden sozialen Verankerung des Mitbeteiligten in Österreich könne geschlossen werden, dass ein beträchtliches Risiko des Untertauchens vorliege. Im Ergebnis sah das BFA damit die Z 3 (Vorliegen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme), 5 (Bestehen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz) und 9 ([geringer] Grad der sozialen Verankerung in Österreich) des § 76 Abs. 3 FPG als verwirklicht an. Außerdem ging es davon aus, dass der weitere Aufenthalt des Mitbeteiligten durch die von ihm begangenen Straftaten eine große Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, was im Sinn des § 76 Abs. 2a FPG bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen sei.

8        Die Sicherung des Verfahrens bzw. der Abschiebung sei erforderlich, da der Mitbeteiligte sich auf Grund seines Vorverhaltens nicht als vertrauenswürdig erwiesen habe; es sei davon auszugehen, dass er auch hinkünftig nicht gewillt sein werde, die Rechtsvorschriften einzuhalten. Jetzt, wo auch das dritte Asylverfahren des Mitbeteiligten negativ entschieden worden sei und er nach der Strafhaftentlassung mit seiner Abschiebung rechnen müsse, sei auf Grund seiner dokumentierten Ausreiseunwilligkeit damit zu rechnen, dass er auch einem gelinderen Mittel keine Folge leisten werde.

9        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen den Schubhaftbescheid statt, indem es diesen - unter Zuspruch von Aufwandersatz an den Mitbeteiligten gemäß § 35 VwGVG - ersatzlos aufhob.

10       Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, die Anordnung der Schubhaft dürfe immer nur ultima ratio sein. Die Erlassung eines Schubhaftbescheides, dessen Rechtsfolgen erst nach weit über einem Jahr - mit der nunmehr für 17. Jänner 2021 zu erwartenden Haftentlassung - eintreten würden, erscheine gemessen daran als unverhältnismäßig. Zum derzeitigen Zeitpunkt könne keine ausreichende abschließende Prognose über das Bestehen von Fluchtgefahr zum Entlassungszeitpunkt abgegeben werden. Die in § 76 Abs. 3 FPG normierten „bestimmten Tatsachen“ könnten mit Zeithorizont von weit über einem Jahr nicht in dem Ausmaß angenommen werden, welches die Annahme erheblicher Fluchtgefahr rechtfertigen würde. Dem aktuellen Schubhaftbescheid seien daher die Tatsachengrundlagen entzogen.

11       Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei. Der Verwaltungsgerichtshof habe zwar (im Erkenntnis VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0347) ausgesprochen, dass dann, wenn der die Schubhaft anordnende Bescheid im Hinblick auf die noch andauernde Strafhaft im Entscheidungszeitpunkt noch nicht in Vollzug gesetzt worden sei, nach Beendigung der Strafhaft von Amts wegen zu prüfen sei, ob die Voraussetzungen für den Vollzug der Schubhaft aktuell noch gegeben seien. Allerdings fehle es an einer Rechtsprechung zu der Frage, ob die Erlassung des Schubhaftbescheides auch dann zulässig sei, wenn das Strafhaftende zeitlich nicht unmittelbar bevorstehe, sondern der Bescheid erst nach einem Zeitraum von über einem Jahr in Vollzug gesetzt werden könne.

12       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Amtsrevision. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Vorverfahren durchgeführt, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde.

Der Verwaltungsgerichthof hat erwogen:

13       Die Revision ist aus dem vom Bundesverwaltungsgericht genannten Grund zulässig.

14       Entgegen der Amtsrevision lässt sich aus dem Erkenntnis VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0347, nicht ableiten, dass die Anordnung der Schubhaft auch lange vor ihrem voraussichtlichen Vollzug zulässig sei. Die Rechtmäßigkeit des - unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen - Schubhaftbescheides war nämlich nicht Gegenstand dieser Entscheidung; zu beurteilen war vielmehr nur, ob die - formal korrekt auf den Schubhaftbescheid gestützte - Anhaltung in Schubhaft gemessen an der aktuellen Sach- und Rechtslage rechtmäßig war.

15       Für die Frage der Rechtmäßigkeit eines Schubhaftbescheides kommt es darauf an, ob es bei seiner Erlassung aus damaliger Sicht zulässig war, die Schubhaft nach dem in Anspruch genommenen Tatbestand und zu dem genannten Sicherungszweck zu verhängen; rechtswidrig ist er dann, wenn die im Schubhaftbescheid genannten Gründe die Anordnung der Schubhaft nicht zu tragen vermochten oder wenn die entscheidungswesentlichen Gründe auf ihrerseits unschlüssig begründeten oder - in für das BFA erkennbarer Weise - tatsachenwidrigen Annahmen beruhten (vgl. VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0004, Rn. 21, mwN).

16       Wird ein Schubhaftbescheid erlassen, der wegen einer noch aufrechten Haft erst zu einem späteren Zeitpunkt - nach der Haftentlassung - zu vollziehen ist, so ist das (voraussichtliche) Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Schubhaft zu diesem späteren Zeitpunkt prognostisch zu beurteilen. Liegt das frühestmögliche zu erwartende Haftende in so ferner Zukunft, dass eine derartige Prognose nicht möglich ist, so ist die Erlassung eines Schubhaftbescheides gleichsam auf Vorrat - ungeachtet der Sonderregelung des § 76 Abs. 4 FPG - unzulässig. Wie lange der Zeitraum zwischen der Erlassung des Schubhaftbescheides und dem voraussichtlichen Zeitpunkt seines Vollzugs sein darf, ist von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles abhängig; je deutlicher sich die Fluchtgefahr bereits manifestiert hat, desto eher kann im Allgemeinen von ihrem Fortbestehen auch in einer ferneren Zukunft ausgegangen werden.

17       Das BFA ist in seinem Bescheid noch von einem Ende der Strafhaft mit 17. Juli 2020 ausgegangen. Bezogen auf diesen Zeitpunkt wäre die Erlassung des Schubhaftbescheides am 27. September 2019 fallbezogen jedenfalls nicht verfrüht (und auch nicht aus einem sonstigen Grund unverhältnismäßig) gewesen. Das Bundesverwaltungsgericht hat seiner Beurteilung hingegen den mittlerweile nach hinten verschobenen voraussichtlichen Entlassungstermin am 17. Jänner 2021 zugrunde gelegt. Warum die vom BFA für die Fluchtgefahr ins Treffen geführten Umstände nicht auch für diesen längeren Zeithorizont Gültigkeit haben sollten, wurde aber nicht näher begründet.

18       Das angefochtene Erkenntnis war schon deswegen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 5. Februar 2021

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020210002.J00

Im RIS seit

23.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

23.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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