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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
B-VG Art133 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 14. September 2020 mündlich verkündete und mit 15. September 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, I408 2232752-1/11E, betreffend Aufenthaltsverbot (mitbeteiligte Partei: J L B, zuletzt in B, vor dem Verwaltungsgericht vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH in 1170 Wien, Steinergasse 3/12), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der am 31. Jänner 2000 geborene Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger der Bundesrepublik Deutschland, reiste nach der Trennung seiner Eltern mit seiner Mutter im Jahr 2010 von Deutschland nach Österreich, wo er sich jedenfalls seit dem 20. Juli 2010 durchgehend aufhält.
2 Mit rechtskräftigem Urteil vom 11. März 2015 verhängte das Bezirksgericht Bludenz über ihn wegen versuchten Diebstahls eines Touchpens im Wert von 9,99 € (am 2. Dezember 2014) eine (zur Hälfte bedingt nachgesehene) Geldstrafe von 40 Tagessätzen.
3 Mit weiterem rechtskräftigem Urteil vom 16. November 2015 verhängte das Landesgericht Feldkirch über ihn wegen eines am 7. August 2015 begangenen Diebstahls durch Einbruch (Aufbrechen eines Zigarettenverkaufskastens und Diebstahl einer Stange Zigaretten im Wert von 46 €) sowie einer am 9. August 2015 begangenen gefährlichen Drohung (mit einer Körperverletzung im Fall der Nichtzurücknahme der Anzeige des erstgenannten Deliktes) eine Geldstrafe von 300 Tagessätzen.
4 Wegen verschiedener gewerbsmäßiger Diebstähle, schwerer Sachbeschädigungen, einer Körperverletzung, gefährlicher Drohung, Entfremdung unbarer Zahlungsmittel sowie dauernder Sachentziehung verhängte das Landesgericht Feldkirch über ihn mit rechtskräftigem Urteil vom 20. Jänner 2016 mit Rücksicht auf das vorgenannte Urteil vom 16. November 2015 eine bedingt nachgesehene Zusatzfreiheitsstrafe von fünf Monaten sowie eine Zusatzgeldstrafe von 200 Tagessätzen.
5 Mit rechtskräftigem Urteil vom 28. September 2016 verhängte das Bezirksgericht Bludenz über ihn wegen weiterer Sachbeschädigungen, dauernder Sachentziehung und einer Körperverletzung eine bedingt nachgesehene zweimonatige Freiheitsstrafe.
6 Wegen unbefugten Gebrauchs eines Mopeds (am 15. März 2017) verhängte das Bezirksgericht Bludenz über ihn mit rechtskräftigem Urteil vom 14. Juni 2017 eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen.
7 Da er im Zeitraum von Mitte Februar 2018 bis Ende September 2018 ca. 10 bis 15 g Marihuana erworben und zum persönlichen Gebrauch besessen hatte, verhängte das Bezirksgericht Bludenz über ihn mit weiterem rechtskräftigem Urteil vom 8. März 2019 wegen des dadurch verwirklichten unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen.
8 Mit rechtskräftigem Urteil vom 7. Mai 2019 verhängte das Landesgericht Feldkirch über ihn wegen einer am 12. April 2019 begangenen gefährlichen Drohung eine unbedingte Freiheitsstrafe von vier Monaten.
9 Schließlich verhängte das Landesgericht Feldkirch über den Mitbeteiligten mit rechtskräftigem Urteil vom 30. Oktober 2019 wegen einer am 1. August 2019 versuchten Nötigungen von zwei Personen (zur Übergabe von Mobiltelefonen zwecks Löschung verschiedener Videos) und drei im August 2019 begangener zum Teil schwerer Körperverletzungen (unter anderem durch Versetzen von Faustschlägen gegen das Gesicht eines Kontrahenten, die insbesondere knöcherne Verletzungen und ausgeschlagene bzw. abgebrochene Zähne zur Folge hatten) eine zwölfmonatige Freiheitsstrafe. Diese verbüßte der Mitbeteiligte bis zu seiner (nach dem Revisionsvorbringen unbestritten) am 29. September 2020 gemäß § 46 Abs. 1 StGB erfolgten bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug.
10 Mit Bescheid vom 5. Juni 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Mitbeteiligten unter Hinweis auf die eben genannten Straftaten, die deshalb ergangenen strafgerichtlichen Verurteilungen sowie verschiedene Verwaltungsübertretungen gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von sechseinhalb Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Gemäß § 70 Abs. 3 FPG erteilte es dem Mitbeteiligten keinen Durchsetzungsaufschub. Einer Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.
11 Begründend verneinte das BFA unter Hinweis auf die rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung vom 11. März 2015 (laut Rn. 2) insbesondere das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts des Mitbeteiligten nach § 53a NAG und bejahte das Vorliegen der somit maßgeblichen Voraussetzungen nach § 67 Abs. 1 FPG erster bis vierter Satz.
12 Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung verkündeten Erkenntnis vom 15. September 2020 behob das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) über Beschwerde des Mitbeteiligten den Bescheid des BFA vom 5. Juni 2020. Das BVwG sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
13 Begründend bejahte das BVwG das Zustandekommen eines unionsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts des Mitbeteiligten nach § 53a NAG. Dieses führe zur Anwendung des in § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG normierten Gefährdungsmaßstabes, der zwischen demjenigen des § 67 Abs. 1 erster Satz FPG und jenem des fünften Satzes dieser Bestimmung angesiedelt sei. Danach verneinte es das Vorliegen eines ausreichenden Schweregrades der dargestellten, durchgehend als Jugendlicher oder junger Erwachsener begangenen gerichtlichen Straftaten. Der jugendliche Mitbeteiligte habe die Trennung seiner Eltern nicht verkraftet und sei aufgrund fehlenden familiären Halts und der Überforderung seiner Mutter mehrfach straffällig geworden. Nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck bestehe die Hoffnung, dass es ihm gelingen könne mit Unterstützung seines Vaters „das Leben in den Griff zu bekommen“.
In Österreich sei er, nach Scheitern seines Hauptschulabschlusses, wiederholt berufstätig gewesen. Hier hielten sich seine Mutter, die Großmutter sowie Stiefgeschwister seiner Mutter samt ihren Familien auf, sein Vater lebe weiterhin in Deutschland. Auch unter Berücksichtigung der langen Aufenthaltsdauer, des Maßes an erreichter Integration sowie der familiären Kontakte des Mitbeteiligten in Österreich sei die Behebung der Entscheidung des BFA geboten.
14 Die dagegen erhobene Amtsrevision des BFA erweist sich als unzulässig.
15 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
16 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
17 Insoweit macht die Amtsrevision zunächst geltend, die vorliegend maßgebliche Frage laute, „ob im gegenständlichen Fall der Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs. 1 erster Satz FPG oder jener des fünften Satzes leg cit zur Anwendung gelangt“.
18 Dabei wird jedoch übersehen, dass das BVwG - ungeachtet zT missverständlichen Formulierungen - letztlich den Gefährdungsmaßstab nach dem letzten Satzteil des § 66 Abs. 1 FPG zur Anwendung brachte, sodass sich die in der Amtsrevision aufgeworfene Frage nicht stellt.
Das BVwG ging nämlich davon aus, dass der Mitbeteiligte nach dem - im Juli 2010 beginnenden - fünfjährigen rechtmäßigen und kontinuierlichen Aufenthalt ein Daueraufenthaltsrecht im Sinne des § 53a NAG erworben habe. Zwar trifft es zu, dass - wie in der Amtsrevision noch vorgebracht wird - ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten eines Unionsbürgers dazu führen kann, dass diesem in Österreich im Sinne des § 51 Abs. 1 NAG kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht (als Grundlage für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechtes) zukommt. Das wäre aber nur dann der Fall, wenn vom Vorliegen einer „Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ im Sinne des § 55 Abs. 3 NAG auszugehen wäre. Das würde wiederum voraussetzen, dass das persönliche Verhalten des Fremden eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. etwa VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0151, Rn. 15; VwGH 30.8.2018, Ra 2018/21/0049, Rn. 16 bis 17, und VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0247, Rn. 9 und 10).
Davon kann angesichts der geringfügigen, vom Mitbeteiligten am 2. Dezember 2014 begangenen Jugendstraftat - entgegen der vom BFA vertretenen Ansicht - aber nicht die Rede sein, sodass ohne Weiteres - ohne dass es dazu einer näheren Begründung bedurft hätte - vom Erwerb des Daueraufenthaltsrechtes durch den Mitbeteiligten (mit der Konsequenz der Maßgeblichkeit des Gefährdungsmaßstabes nach § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG, vgl. VwGH 13.12.2012, 2012/21/0181, Punkt 3. der Entscheidungsgründe) ausgegangen werden durfte.
19 Insgesamt zeigt die Revision somit keine Rechtsfrage auf, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 5. Februar 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210439.L00Im RIS seit
23.03.2021Zuletzt aktualisiert am
23.03.2021