Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden, die Hofräte Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache des Betroffenen Ing. R***** F*****, über den Revisionsrekurs der Einschreiterin D***** N*****, als Vertreterin des Betroffenen, vertreten durch Graf & Pitkowitz Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 10. September 2020, GZ 20 R 210/20b-36, womit infolge Rekurses der Einschreiterin der Beschluss des Bezirksgerichts Klosterneuburg vom 29. Juli 2020, GZ 6 P 32/15w-27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung:
[1] Der 1936 geborene Betroffene erteilte der Einschreiterin am 26. 7. 2018 eine schriftliche „allgemeine und unbeschränkte Vollmacht“, die ua die Vertretung in allen Angelegenheiten vor Behörden aller Art und auch eine Prozessvollmacht iSd § 31 ZPO umfasst.
[2] Am 24. 10. 2018 errichtete der Betroffene vor einem Notar zugunsten der Einschreiterin eine umfassende Vorsorgevollmacht.
[3] Im Verlassenschaftsverfahren nach der Ende 2019 verstorbenen Ehefrau des Betroffenen regte der Gerichtskommissär am 27. 1. 2020 an, analog § 246 Abs 3 Z 1 ABGB einen gerichtlichen Erwachsenenvertreter für den Betroffenen zu bestellen. Vermutlich lägen die Voraussetzungen für den Eintritt des Vorsorgefalls vor, jedoch sei fraglich, ob die Einschreiterin als Erwachsenenvertreterin iSd § 243 ABGB geeignet sei.
[4] Die Schwägerin des Betroffenen und deren künftige Schwiegertochter regten ebenfalls die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters an, wobei diese der Einschreiterin vorwarfen, den Betroffenen auszunützen.
[5] Mit Schreiben vom 6. 4. 2020 teilte der Notar dem Erstgericht mit, er lehne die Eintragung des Vorsorgefalls ab, die Eignung der Bevollmächtigten gemäß § 243 ABGB stehe nicht außer Zweifel.
[6] Mit Eingabe vom 11. 5. 2020 teilte die Einschreiterin mit, es lägen keine die Registrierung des Wirksamwerdens der Vorsorgevollmacht im Österreichischen Zentralen Vertretungsverzeichnis (ÖZVV) hindernden Gründe vor. Es entspreche dem Willen des Betroffenen, dass bei Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters sie diese Funktion übernehme. Sie beantragte, sie für den Fall der Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters zu diesem zu bestellen. Sie beantragte auch namens des Betroffenen die Akteneinsicht sowie die Möglichkeit zur Anfertigung von Kopien gegen Kostenersatz.
[7] Das Erstgericht wies den Antrag auf Akteneinsicht ab. Nach § 141 AußStrG sei nur der betroffenen Person selbst und ihrem gesetzlichen Vertreter Akteneinsicht zu gewähren. Die Einschreiterin zähle nicht zu diesen Personen.
[8] Das Rekursgericht gab mit dem angefochtenen Beschluss dem Rekurs der Einschreiterin nicht Folge. Es führte aus, nach § 141 Abs 1 AußStrG dürfe das Gericht Auskünfte über Einkommens- und Vermögensverhältnisse der vertretenen Personen sowie Informationen zu dem Gesundheitszustand nur ihr selbst und ihrem gesetzlichen Vertreter erteilen. Der Begriff gesetzlicher Vertreter umfasse dabei alle in § 1034 ABGB genannten Vertreter. Diese Beschränkung der gerichtlichen Auskünfte erstrecke sich auch auf die Akteneinsicht im Sinne des § 170 Geo. Diese Regelung diene dem Schutz der betroffenen Person. Damit wäre nicht vereinbar, wenn Außenstehende im Weg der Akteneinsicht Informationen erlangen könnten, die sie ohne das ausschließlich zum Vorteil der betroffenen Person geführte Erwachsenenschutzverfahren nicht erlangen könnten. Wenn es um Daten über den Geisteszustand der betroffenen Person geht, sei daher auch nahen Angehörigen die Einsicht in den Akt zu verweigern. Die Berufung der Rekurswerberin darauf, § 141 Abs 1 AußStrG schließe gewählte Vertreter des Betroffenen von der Akteneinsicht nicht aus, wäre eine Umgehung des durch § 141 Abs 1 AußStrG bezweckten Schutzes. § 141 Abs 1 AußStrG regle die zur Akteneinsicht berechtigten Personen abschließend. Der gesetzliche Vertreter könne auch nicht rechtswirksam in die Akteneinsicht durch einen Dritten einwilligen. Eine Berufung auf § 22 AußStrG iVm § 291 ZPO gehe somit fehl.
[9] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs zu, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Akteneinsicht im Erwachsenenschutzverfahren durch gewählte Vertreter nicht vorliege.
[10] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der Einschreiterin mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Beschlusses im Sinn der Gewährung der Akteneinsicht. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von oberstgerichtlicher Rechtsprechung abgewichen ist; er ist im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[12] Die Rechtsmittelwerberin bringt vor, das Rekursgericht weiche von oberstgerichtlicher Rechtsprechung ab, wonach Akteneinsicht durch bevollmächtigte Vertreter stets vorgenommen werden könne. Wenn § 141 Abs 1 AußStrG von der „vertretenen Person“ spreche, könne damit nur der gesetzliche Vertreter gemeint sein. Da der Betroffene keinen solchen habe, sei § 141 AußStrG im vorliegenden Fall nicht anwendbar, vielmehr gälten die allgemeinen Regeln (§ 22 AußStrG iVm § 219 ZPO), wonach der (rechtsgeschäftlich) Bevollmächtigte der Partei Akteneinsicht nehmen könne. Die Rechtsmittelwerberin sei keine „Dritte“. Die Gültigkeit der Vollmacht sei unabhängig davon, ob der Betroffene nunmehr handlungsfähig sei oder nicht.
[13] Hierzu wurde erwogen:
[14] 1.1. Nach § 141 Abs 1 Satz 1 AußStrG darf das Gericht Auskünfte über Einkommens- und Vermögensverhältnisse der vertretenen Person sowie Informationen zu deren Gesundheitszustand nur dieser und ihrem gesetzlichen Vertreter erteilen.
[15] 1.2. Die Vorinstanzen haben diese Bestimmung für anwendbar gehalten, die Rechtsmittelwerberin geht – wie referiert – von deren Nichtanwendbarkeit aus, weil unter „vertreten“ nur gesetzliche Vertreter gemeint sein könnten, der Betroffene jedoch keinen solchen habe.
[16] 1.3. Ob unter einer „vertretenen Person“ iSd § 141 Abs 1 Satz 1 AußStrG nur eine durch einen gesetzlichen Vertreter (etwa iSd § 1034 ABGB) vertretene Person oder auch eine durch einen (außerhalb des Anwendungsbereichs von § 1034 ABGB) rechtsgeschäftlich bevollmächtigten Vertreter vertretene Person zu verstehen ist, kann jedoch aus folgenden Gründen dahingestellt bleiben.
[17] 1.3.1. § 141 AußStrG ist betreffend die Akteneinsicht in Ehe-, Kindschafts- und Erwachsenenschutzverfahren gegenüber § 22 AußStrG iVm § 219 ZPO die speziellere Norm (Schoditsch in Schneider/Verweijen [Hrsg], AußStrG § 141 Rz 6; Beck in Gitschthaler/Höllwerth [Hrsg], AußStrG2 § 141 Rz 8).
[18] 1.3.2. Nach § 141 AußStrG idF vor dem 2. ErwSchG (BGBl I 2017/59) durften Auskünfte über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse vom Gericht nur dem betroffenen Pflegebefohlenen und seinen gesetzlichen Vertretern, nicht aber sonstigen Personen oder Stellen erteilt werden.
[19] Unter dem „Pflegebefohlenen“ war gemäß § 273 Abs 1 ABGB idF des Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 (SWRÄG 2006, BGBl I 2006/92) „die zu vertretende Person“ zu verstehen.
[20] Von dieser Umschreibung war somit nicht (nur) eine bereits vertretene Person umfasst, sondern auch eine solche, die zwar noch nicht vertreten war, für die aber ein Verfahren zur Bestellung eines Sachwalters oder Kurators anhängig war.
[21] Damit war klar, dass die Einschränkung der Auskunft nach § 141 AußStrG im Verfahren zur Prüfung, ob ein Sachwalter oder Kurator zu bestellen war, auch dann anzuwenden war, wenn noch kein solcher Vertreter bestellt war.
[22] Dies war auch sachgerecht, befanden sich doch im Pflegschaftsakt sensible Informationen über den Pflegebefohlenen (nicht nur die in § 141 AußStrG aF genannten Einkommens- und Vermögensverhältnisse, sondern auch Daten zum Geisteszustand wie etwa psychiatrische Gutachten, vgl RS0116925) in der Regel nicht erst ab Bestellung eines Sachwalters oder Kurators, sondern typischerweise schon davor.
[23] 1.3.3. Es gibt keinen Hinweis, dass der Gesetzgeber des 2. ErwSchG insoweit an dieser Rechtslage etwas dahingehend ändern wollte, dass vor Vorhandensein eines Vertreters iSd § 1034 ABGB die eingeschränkte Auskunft bzw Akteneinsicht nach § 141 AußStrG nicht gelten sollte. Aus den Materialien ergibt sich vielmehr, dass der Gesetzgeber den Schutz der Betroffenen dahingehend verstärken bzw klarstellen wollte, dass er die Einschränkung der Auskunft auch auf den Gesundheitszustand ausdehnte, was vorher schon so judiziert worden war (ErläutRV 1461 BlgNR 25. GP 76; 4 Ob 38/13m; 2 Ob 194/14i; RS0116925).
[24] 1.3.4. Daraus folgt, dass auch im gegenwärtigen Verfahrensstadium, in dem die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters erst geprüft wird, § 141 AußStrG (und nicht § 22 AußStrG iVm § 219 ZPO) anzuwenden ist.
[25] 2. Zutreffend weist aber die Rechtsmittelwerberin darauf hin, dass das in § 141 AußStrG normierte Recht des Betroffenen auf Akteneinsicht auch durch bevollmächtigte Vertreter ausgeübt werden kann (3 Ob 154/08f; 3 Ob 17/10m). Die Rechtsmittelwerberin hat vom Betroffenen eine auch die Akteneinsicht umfassende Vollmacht erhalten. Dass er im Zeitpunkt der Vollmachtserteilung nicht geschäftsfähig gewesen wäre, ist nach der Aktenlage nicht anzunehmen. Denn drei Monate später hat der Betroffene eine Vorsorgevollmacht errichtet. Dies hätte der dafür beigezogene Notar aber ablehnen müssen, wenn er begründete Zweifel am Vorliegen der Entscheidungsfähigkeit des Vollmachtgebers gehabt hätte (§ 263 Abs 2 ABGB). Sollte der Betroffene inzwischen seine Handlungsfähigkeit verloren haben, würde die erteilte Vollmacht dennoch nicht erlöschen (RS0019873).
[26] Die Begründung des Rekursgerichts kann daher die Verweigerung der Akteneinsicht nicht tragen.
[27] 3. Dennoch ist die Sache nicht entscheidungsreif im Sinne der Bewilligung der Akteneinsicht. Wie eingangs dargestellt, stehen Vorwürfe der Schwägerin des Betroffenen und deren künftiger Schwiegertochter im Raum, die Rechtsmittelwerberin nütze den Betroffenen aus. Der Notar bezweifelte die Eignung der Rechtsmittelwerberin als Vorsorgebevollmächtigte. Der Halbbruder äußerte gewisse Bedenken gegen die Rechtsmittelwerberin (ON 46, 48). Schließlich ergeben sich aus dem Akt Hinweise auf Interessenkollisionen zwischen dem Betroffenen und der Rechtsmittelwerberin: Diese hat demnach an der Garage des Betroffenen einen Schaden verursacht, der von der Haushaltsversicherung gedeckt wäre. Die Rechtsmittelwerberin will die Versicherungsdeckung aber nicht in Anspruch nehmen, weil sie Regressansprüche der Haushaltsversicherung gegen sich fürchtet (ON 38, 42).
[28] Somit steht die Möglichkeit im Raum, die Rechtsmittelwerberin könne ihre Vollmacht nicht im Sinne des Vertretenen ausüben. Läge ein solcher Sachverhalt vor, könnte sich die Rechtsmittelwerberin für die begehrte Akteneinsicht nicht auf ihre Vollmacht berufen (vgl RS0019576).
[29] Da zur Beurteilung, ob derartige Umstände vorliegen, die Feststellungen nicht ausreichen, erweist sich die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen als notwendig.
Textnummer
E130523European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0060OB00243.20H.1217.000Im RIS seit
04.03.2021Zuletzt aktualisiert am
16.04.2021