TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/2 L504 2126719-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.10.2020
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Entscheidungsdatum

02.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L504 2126719-1/54E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , XXXX alias XXXX geb., StA. Irak, vertreten durch RA Hofmann Kämmerer Rechtsanwälte GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.04.2016, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF, §§ 52, 46, 55 FPG idgF mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der erste Satz von Spruchpunkt III. des bekämpften Bescheides zu lauten hat: "Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt".

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Die beschwerdeführende Partei [bP] stellte am 17.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Es handelt sich dabei um einen Mann, der seinen Angaben nach Staatsangehöriger des Irak mit sunnitischem Glaubensbekenntnis ist, der Volksgruppe der Araber angehört und aus dem Osten der Stadt Mosul stammt.

In der von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 17.11.2014 durchgeführten Erstbefragung gab die bP zu ihrer Ausreisemotivation an, dass sie vor dem IS geflüchtet sei. Sie habe mit diesem nicht kooperieren wollen. Deshalb habe sie dieser töten wollen. Im Falle der Rückkehr habe sie Angst um ihr Leben.

In der nachfolgenden Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl brachte die bP am 03.03.2016 zu ihrer ausreisekausalen Problemlage im Herkunftsstaat und allfälligen Problemen, die sie im Falle der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat erwarte, im Wesentlichen vor, dass sie in Mosul bis einem Jahr vor der Ausreise als Fliesenleger gearbeitet habe, als der islamische Staat in die Stadt gekommen sei. Mosul sei vom IS besetzt worden. Davor habe die bP keine Probleme gehabt. Der IS hätte immer von ihr verlangt mitzukämpfen. Der einzige Grund für das Verlassen Mosuls sei der IS gewesen.

Nachgefragt gab sie an, dass nie jemand vom IS mit ihr persönlich gesprochen habe und sie von diesem auch nie persönlich zum Mitkämpfen aufgefordert worden sei. Als sie bereits in Österreich war, hätten die Eltern einen Drohbrief vom IS wegen ihrer Person erhalten. Darin werde die bP aufgefordert, sich beim IS in der Provinz Ninewa zu stellen.

Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom Bundesamt gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt.

Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak nicht zugesprochen.

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 und § 55 AsylG wurde nicht erteilt.

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei.

Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ebenso ergebe sich aus allgemeinen Lage im Herkunftsstaat keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende bzw. reale Gefährdung der bP. Abschiebungshindernisse lägen demnach nicht vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen seien nicht gegeben. Ein die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung übersteigendes Privat- und Familienleben würde nicht vorliegen und wurde daher eine Rückkehrentscheidung verfügt.

Dagegen wurde Beschwerde erhoben.

2. Am 05.02.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit der bP sowie im Beisein ihres bevollmächtigten Vertreters eine Verhandlung durch. Das BFA blieb entschuldigt fern.

In der Verhandlung brachte die bP nach ihrer aktuellen Problemlage im Falle einer Rückkehr befragt Folgendes vor:

„[…]

Seit Ihrer Ausreise aus Ihrem Heimatland ist nun schon einige Zeit vergangen. Würden Sie aus heutiger Sicht bei einer Rückkehr an Ihren früheren Wohnort noch Probleme erwarten? Wenn ja, geben Sie bitte konkret und vollständig alle Probleme an, die Sie persönlich für sich bei einer Rückkehr erwarten würden.

P: Ich werde sicher getötet, mein Vater wurde wegen meines Autos getötet. [Anm: Ende der freien Rede]

[…]“

Zum Zusammenhang zw. Tod des Vaters und ihrem Auto befragt, gab sie an:

„Weil sie mich gesucht haben und mein Vater gesagt hat, dass er nicht weiß wo ich mich aufhalte, deshalb haben sie ihn mitgenommen. Er war ca. 10 Tage bei ihnen im Gefängnis und sie haben ihn gefoltert und nach mir gefragt. Er war gesundheitlich angeschlagen, sehr angeschlagen. Meine Brüder haben meinen Vater gefragt, warum man ihn verschleppt hatte, er hat ihnen gesagt, wegen XXXX , wegen des Wagens von XXXX , weil sie den Wagen gefunden haben und darin waren zwei getötete Daesh-Kämpfer. Das hat die Armee meinem Vater gesagt.“

Die bP habe in Mosul noch Familienangehörige und Verwandte. Sie gehöre einem sehr großen Stamm an. In Mosul würden ca. 4000 davon leben. Dass sie persönlich erwarte hinsichtlich der Lebensbedingungen (insbes. Nahrung und Unterkunft) im Falle der Rückkehr nach Mosul in eine existentiell aussichtslose Lage geraten würde, brachte die bP dabei anlässlich der Frage zu der von ihr persönlich erwarteten aktuellen Rückkehrproblematik in der Verhandlung nicht vor (VHS S11f).

Das BVwG hat folglich die Beschwerde in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen. Das Fluchtvorbringen bzw. die behauptete aktuelle Rückkehrproblematik wurde auf Basis der Ermittlungsergebnisse auf Grund von aufgezeigten Unplausibilitäten und Widersprüchen als nicht glaubhaft erachtet.

3. Dagegen hat die bP Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben. Darin wird im Wesentlichen vorgebracht, dass das BVwG Willkür geübt habe. Der IS habe versucht die bP dazu zu zwingen sich ihr anzuschließen. Sie könne nicht zurückkehren, da sie vom IS gesucht werde. Der Vater der bP sei nach ihrer Ausreise wegen der bP vom IS [sic!] festgenommen, 10 Tage lang im Gefängnis festgehalten, nach der bP befragt, gefoltert und schließlich getötet worden.

Ohne nähere inhaltliche Konkretisierung wurde in der Beschwerde weiters behauptet, dass bei einer Rückkehr auch „die Gefahr einer Verletzung der Art 2, 3 EMRK und der Protokolle Nr. 6 u. 13 zur EMRK bestünde“.

Mit Erkenntnis vom 24.02.2020 hat der VfGH die angefochtene Entscheidung des BVwG behoben. Das Bundesverwaltungsgericht habe die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens mangelhaft begründet und ein wesentlicher Teil der Ausführungen zum sozialen Netzwerk [soziale Rolle der Stämme] in der Herkunftsregion finde keine Deckung in den Länderfeststellungen.

4. Am 06.07.2020 hat das BVwG eine 2. Verhandlung in diesem Verfahren durchgeführt. Die bP nahm mit ihrem Rechtsfreund daran teil, das Bundesamt blieb entschuldigt fern.

Die bP wurde dabei ua. abermals zu den von ihr persönlich erwarteten Rückkehrproblemen aus aktueller Sicht befragt und gab sie dazu Folgendes an:

„[…]

Sind Sie über die aktuelle Lage in der Region Mosul informiert? Wenn ja, woher beziehen Sie Ihre Informationen?

Ja, über Facebook.

Würden sie aus heutiger Sicht bei einer Rückkehr nach Mosul noch Probleme erwarten? Wenn ja, geben sie bitte konkret und vollständig alle Probleme an, die sie persönlich für sich bei einer Rückkehr erwarten würden.

Ja, weil ich Probleme habe. Die IS-Terroristen habe mein Auto weggenommen und es wurden zwei von den IS Anhängern in meinem Auto getötet. Das Auto war auf meinem Namen angemeldet. Da das Auto auf meinem Namen angemeldet war, kam das irakische Militär zu meinem Vater und sie fragten nach mir. Sie haben ein Foto von den, in meinem Auto getöteten IS Anhängern, gezeigt und fragten ihn, wer von denen XXXX sei. Mein Vater sagte, dass keiner von denen XXXX sei. Sie haben aber trotzdem meinen Vater mitgenommen und ca. zehn Tage ist er bei denen geblieben. Obwohl es ihm gesundheitlich nicht gut gegangen ist. Nach diesen zehn Tagen, als sie sahen, dass es meinem Vater sehr schlecht geht und der knapp tot war, haben sie ihn entlassen und nach ca. drei Tagen, nach seiner Entlassung, starb er. Ich kann nicht mehr in den Irak zurück. Ich werde dort sofort mitgenommen.

Haben sie hiermit alle Probleme genannt die Sie aktuell im Falle der Rückkehr nach Mosul erwarten würden?

Ja, das sind meine Befürchtungen im Falle der Rückkehr.

[…]“

Am Ende der Verhandlung wurde das Ermittlungsverfahren durch Beschluss wegen entscheidungsreifem Sachverhalt gem. § 39 Abs 3 AVG für geschlossen erklärt.

Seitens der Verfahrensparteien langte bis zur gegenständlichen Entscheidung keine Äußerung mehr ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde sowie durch die Ergebnisse des ergänzenden Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben.

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Identität und Herkunftsstaat:

Name und Geburtsdatum (wie im Einleitungssatz des Spruches angeführt) stehen auf Grund der vorgelegten Reisepasskopie fest und ergibt sich dadurch auch eine andere Schreibweise wie bisher im Verfahren von der bP angegeben. Die bP bezeichnet sich der Volksgruppe der Araber und dem sunnitischen Glauben zugehörig.

Ihre Staatsangehörigkeit und der hier der Prüfung zugrundeliegende Herkunftsstaat ist der Irak.

1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise:

Die bP ist in Mosul geboren und absolvierte dort ihre Schulbildung.

Sie wohnte vor ihrer Ausreise im von den Zerstörungen weniger betroffenen Osten der Stadt Mosul und war überwiegend im Baugewerbe erwerbstätig. Sie hatte als Selbständiger 6 Mitarbeiter beschäftigt.

Nach Zerstörung des Hauses der Familie im Jahr 2016 infolge der Auseinandersetzung zwischen dem irakischen Militär und dem IS , steht das Grundstück nach wie vor im Eigentum der Familie. Um Entschädigungsleistung/Wiederaufbauhilfe wurde angesucht.

Ihren Lebensunterhalt bestritt sie zuletzt in Mosul durch eigene Erwerbstätigkeit.

1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:

Der Vater der bP ist lt. vorgelegter Sterbeurkundenkopie am XXXX im Irak infolge „chronischer Atemnot und seinen Komplikationen“ verstorben.

Der Bruder XXXX ist lt. vorgelegter irakischer gerichtsmedizinischer Urkundenkopie zu einem auf der Kopie nicht näher ersichtlichem Zeitpunkt und darauf nicht angeführter Todesursache als Gefangener verstorben, wobei diese Urkunden am XXXX 20.. ausgestellt wurde. Das Jahr ist nicht angeführt, die bP behauptet 2017. Aus der Übersetzung des fotografierten Grabsteines ergibt sich als Todeszeitpunkt 19.11.2017.

XXXX hat nach Angaben der bP in Mosul eine Autowerkstätte betrieben und dabei für alle anfragenden Personen Reparaturen durchgeführt. Unter den Reparaturkunden waren auch Angehörige des irakischen Militärs aber auch des IS. Nach Befreiung von Mosul durch die irakische Armee wurde er von der Miliz Hashd Al Shabi mitgenommen. Er ist verstorben, wobei die bP keine Angaben über die Todesursache machen konnte. Die bP hat darüber keine eigene Wahrnehmung. Die Information hat die bP vom im Camp lebenden Bruder XXXX .

Die Mutter kam 2016 im Zuge der Auseinandersetzung zw. dem IS und der irakischen Armee ums Leben.

Seit bzw. wegen der Zerstörung des Hauses im Jahr 2016 leben die beiden Brüder XXXX und XXXX im Camp XXXX XXXX XXXX XXXX ). Es handelt sich dabei um ein IDP-Camp das von UNHCR mit der irakischen Regierung errichtet wurde XXXX . Beide wurden nicht verdächtigt für den IS gearbeitet oder mit diesem sympathisiert zu haben. Sie haben so wie auch die bP nicht in der Autowerkstätte des Bruders XXXX gearbeitet. Sie waren als XXXX tätig.

Der Bruder XXXX ist im Gefängnis. Die bP begründet dies damit, weil dieser mit XXXX in der Autowerkstätte gearbeitet hat.

Weiters wohnen auch die Schwestern XXXX und XXXX im Camp.

Die mit Sunniten verheirateten Schwestern XXXX und XXXX leben in Mosul. XXXX in einem Miethaus in der Nähe des Flughafens im Wesent der Stadt. Ihr Ehegatte arbeitet im Baugewerbe. XXXX lebt im Osten von Mosul. Sie arbeitet als XXXX , der Ehegatte ist nicht erwerbstätig. Sie leben in einem Miethaus.

Der Bruder XXXX lebt seit ca. 2 Jahren in der Türkei.

Das Verhältnis zu den Familienangehörigen im Irak ist gut und telefoniert die bP mit diesen regelmäßig.

Die Geschwister die im Camp leben, wohnen deshalb nicht bei den Schwestern in der Stadt, da diese ihr eigenes Leben führen. Es ist bei ihnen aber üblich, dass sich Familienangehörige untereinander unterstützen, zB bringen sie den Angehörigen manchmal Essen ins Camp. Temporäre Unterkunftgewährung wäre bei diesen auch möglich und üblich.

Ein Onkel lebt in Mosul in der Altstadt im eigenen Haus.

Die bP gehört im Irak einem großen Stamm/Clan an ( XXXX ). In Mosul leben ca. 4000 Clanmitglieder. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die bP vom Clan ausgeschlossen wurde.

1.4. Ausreisemodalitäten:

Sie reiste ca. Mitte September 2014 mit einem Pkw „illegal“ nach Istanbul, wo sie ca. eineinhalb Monate lebte. Sodann reiste sie mit Hilfe eines Schleppers über Bulgarien und weitere „unbekannte Länder“ bis nach Wien.

Sie durchreiste auf ihrem Weg nach Österreich mehrere als sicher geltende Staaten. In diesen suchte sie nicht um Schutz an. Es wurde nicht behauptet, dass ihr dort die Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz nicht auch möglich gewesen wäre oder dass Flüchtlinge dort keinen Schutz erlangen könnten.

1.5. Aktueller Gesundheitszustand:

Die bP hat keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt. Sie hat nicht dargelegt, dass sie einer sog. Covid-19 Risikogruppe angehört.

1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich

Art, Dauer, Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthaltes

Die bP begab sich mit Unterstützung einer kriminellen Schlepperorganisation und ohne Vorhandensein eines Einreise- bzw. Aufenthaltstitels am 17.11.2014 in das Bundesgebiet.

Mit der am gleichen Tag erfolgten Stellung des Antrages auf internationalen Schutz erlangte die bP eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG, die nach Antragsabweisung durch die Beschwerdeerhebung verlängert wurde.

Da ihr in diesem Verfahren weder der Status eines Asylberechtigten noch jener eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, erweist sich die Einreise als rechtswidrig und stellt grds. gem. § 120 Abs 1 u. Abs 7 FPG eine Verwaltungsübertretung dar, die als Offizialdelikt von der Landespolizeidirektion als Strafbehörde zu ahnden ist.

Familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich

Die bP hat in Österreich keine als Familienleben zu wertenden Umstände dargelegt.

Grad der Integration

Deutschkenntnisse: in der 1. Verhandlung am 05.02.2019 war die bP nicht in der Lage eine auf Deutsch gestellte Frage zu verstehen bzw. zu beantworten. Seitens eines pensionierten Hauptschullehrers wird ihr mit Schreiben vom 02.03.2016 bescheinigt, dass sie seit November 2014 Unterricht in deutscher Sprache nimmt, „soweit dies möglich ist“. Weiters, dass sie umgänglich, freundlich, strebsam und pflichtbewusst ist. Sie ist bei den zwei – drei Mal wöchentlich stattfindenden Deutschkursen stets anwesend und lernt im Selbststudium mehrere Stunden täglich.

Lt. Bestätigung des Landes Steiermark vom Oktober 2017 hat die bP vom 11.09.2017-23.10.2017 einen A1.1 Deutschkurs besucht und war zu 80% anwesend.

Von einem Verein wird mit Schreiben vom 30.08.2018 u. 25.10.2018 die Teilnahme an einem Deutschkurs vom 09.07.-30.08.2018, 04.09.-25.10.2018 bestätigt, demnach durfte die bP in das nächste Kursniveau A1.2. bzw. A2.1. aufsteigen.

Eine positiv abgelegte Deutschprüfung gem. den GER für die deutsche Sprache (zB Niveau A1) wurde nicht nachgewiesen und auch nicht behauptet.

Mit Schreiben vom 02.03.2016 wird bestätigt, dass die bP in den Monaten Oktober und November 2015 bei der Betreuung von Flüchtlinge in Spielfeld bei Caritas und Rotes Kreuz freiwillig und tatkräftig mitgeholfen hat.

Die Teilnahme an einem Werte- und Orientierungskurs wird vom ÖIF am 12.04.2017 bestätigt.

In der 1. und wiederholt anlässlich der 2. Verhandlung wurde ein mit 16.01.2019 datierter „Arbeitsvorvertrag“ vorgelegt. Demnach soll die bP, unter der Bedingung der Erlangung eines Aufenthaltstitels mit Zugang zum Arbeitsmarkt, in der ausstellenden Firma als Reinigungskraft mit einem Bruttogehalt von 1580 Euro beschäftigt werden.

Seit 18.08.2017 ist sie aktives Mitglied in einem Fußballverein.

Teilweise oder gänzliche wirtschaftliche Selbsterhaltung während des Verfahrens bzw. Teilnahme an möglicher und erlaubter Erwerbstätigkeit für Asylwerber (https://www.ams.at/unternehmen/service-zur-personalsuche/beschaeftigung-auslaendischer-arbeitskraefte/beschaeftigung-von-asylwerberinnen-und-asylwerbern#wieknnenasylwerberinnenundasylwerberbeschftigtwerden) oder Abhängigkeit von staatlichen Leistungen

Die bP ist seit der Antragstellung im November 2014 wirtschaftlich auf staatliche Leistungen (Grundversorgung) angewiesen. Die bP hat von den gesetzlich Asylwerbern eingeräumten Möglichkeiten zur teilweisen oder gänzlichen wirtschaftlichen Selbsterhaltung nicht Gebrauch gemacht bzw. dies nicht nachgewiesen.

Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Familienleben; die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren

Die bP hat ihre privaten Anknüpfungspunkte während einer Zeit erlangt, in der der Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet stets prekär war.

Bindungen zum Herkunftsstaat

Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit, kann sich im Herkunftsstaat – im Gegensatz zu Österreich – problemlos verständigen und hat ihr überwiegendes Leben einschließlich Erwerbstätigkeit in diesem Staat verbracht. Sie kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens. Sie verfügt in Mosul nach wie vor über Familienangehörige, Verwandte und gehört einem großen irakischen Clan/Stamm an. Während des Asylverfahrens hatte sie auch mit Familienangehörigen im Irak Kontakt, die sie auch während des Verfahrens logistisch mit der Übermittlung von Bescheinigungsmitteln aus dem Irak unterstützten.

Sie beobachtet auch von Österreich aus die Entwicklungen im Irak.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten wäre.

Strafrechtliche/verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen

In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheinen keine Vormerkungen wegen rk. gerichtlicher Verurteilungen auf.

Das Vorliegen von rk. Verwaltungsstrafen wurde dem BVwG von den Verwaltungsstrafbehörden nicht mitgeteilt und ergibt sich auch nicht aus dem Akteninhalt.

Sonstige Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts

Da der bP weder der Status einer Asylberechtigten noch der einer subsidiär schutzberechtigten Person zukommt, stellt die rechtswidrige Einreise gegenständlich auch grds. eine Verwaltungsübertretung dar (vgl. § 120 Abs 1 u. 7 FPG).

Verfahrensdauer

Das Verfahren vor dem Bundesamt dauerte von 17.11.2014 bis 20.04.2016. Das Beschwerdeverfahren ist beim BVwG seit 25.05.2016 anhängig. Am 05.02.2019 fand eine Verhandlung statt und wurde mit Erkenntnis vom 02.10.2019 darüber entschieden. Mit Entscheidung des VfGH vom 24.02.2020 wurde das Erkenntnis behoben und ist seither das Beschwerdeverfahren wieder anhängig. Nach Durchführung eines ergänzenden schriftlichen Ermittlungsverfahrens fand darauf folgend am 07.07.2020 eine weitere Verhandlung beim BVwG statt.

1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen / nichtstaatlichen Akteuren bzw. den von der bP vorgebrachten Problemen, die sie persönlich im Entscheidungszeitpunkt im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwartet:


a)         Betreffend ihrer aktuellen persönlichen Sicherheit / Verfolgung im Herkunftsstaat:

Die bP hat als einziger der Familie im September 2014 Mosul verlassen und ist nach Istanbul gereist. Es ist glaubhaft, dass die bP wegen der allgemeinen Lage im Zusammenhang mit dem Einfall des IS Mosul verlassen hat.

Nicht glaubhaft ist, dass die bP vor der Ausreise persönlich von IS-Angehörigen bedroht worden wäre und sie deshalb das Land verlassen hätte.

Die bP war und ist kein Angehöriger des IS und hat mit diesem auch nicht zusammengearbeitet.

Die bP war vor der Ausreise nicht verdächtig Angehöriger des IS zu sein oder mit diesem zusammengearbeitet zu haben.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle der Rückkehr seitens staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure (zB schiitische Milizen) mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Mitgliedschaft oder der Zusammenarbeit mit dem IS beschuldigt werden würde und deshalb entscheidungsrelevante Repressalien zu erwarten hätte.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle der Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch Angehörige des IS ausgesetzt wäre.

Aus der derzeitigen Lage ergibt sich im Herkunftsstaat, insbesondere in der Herkunftsregion der bP, unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bestünde.


b)         Betreffend der aktuellen, persönlichen Versorgungssituation mit Lebensnotwendigem (insb. Lebensmittel, Unterkunft) im Herkunftsstaat:

Die bP ist erwerbsfähig, verfügt über umfassende Berufserfahrung im Baugewerbe und ist gesund. Sie hat in Mosul Familienangehörige, Verwandte sowie zahlreiche Stammesangehörige.

Sie behauptete auch zuletzt in der 2. Verhandlung nicht, dass sie im Falle der Rückkehr hinsichtlich der Erlangung von Lebensmitteln oder Unterkunft relevante, somit existentiell lebensgefährdende Probleme erwarten würde.

Dies ergibt sich auch nicht aus der aktuellen Situation in der Herkunftsregion der bP in Mosul im Osten der Stadt.


c)         Betreffend ihrer aktuellen Versorgungssituation im Hinblick Erlangung medizinischer Versorgung im Herkunftsstaat:

Die bP ist gesund und gehört aktuell keiner Covid-19 Risikogruppe an. Es kam nicht hervor, dass die bP keinen Zugang zur medizinischen Versorgung im Irak hätte.

1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

?        Diese verbotenen Tattoos sind in Mossul der Renner, 14.11.2018, https://www.heute.at/s/ein-besuch-in-mossuls-einzigem-tattoo-studio-49555588

?        Irak- Massenprotest vereint Religionen, Schichten und Geschlechter, 08.11.2019, Birgit Svensson, Bagdad, https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/tränengas-detonationen-–-und-die-menschen-schwören-der-regierung-rache/ar-BBWsx5d?li=BBqg6Q9

?        Staatendokumentation, IRAK, Länderinformationsblatt, 17.03.2020, einschließlich der darin zitierten Erkenntnisquellen/Berichte

?        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation IRAK, Sicherheitslage, Wohnverhältnisse, Grund- und medizinische Versorgung in Mossul, 29.08.2019

?        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation IRAK, sozioökonomische und Sicherheitslage in Mosul, 27.04.2020

?        Blutbad in Bagdad, 20.11.2019, World Socialist Web Site

?        Schiitische Milizen im Irak, - 20.04.2020

?        Zwei Jahre nach dem IS eröffnen Alkoholläden in Mosul wieder, 26.05.2019, https://www.mena-watch.com/zwei-jahre-nach-dem-is-eroeffnen-alkohollaeden-in-mosul-wieder/

?        Kurzinformation der Staatendokumentation Naher Osten Covid-19-aktuelle Lage, 16.06.2020

?        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Irak, Stammeszugehörigkeit, Stammesausschluss, 07.11.2018

?        Hunderte Rollstühle für Mossul, Wiener Zeitung, 23.12.2019

?        Wiederaufbau Mossul, Projektkurzbeschreibung, https://www.giz.de/de/weltweit/83031.html

Aus den angeführten Quellen ergeben sich nachfolgende Feststellungen bzw. Einschätzung der Lage:

Allgemeines

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert. Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat, der aus 18 Provinzen besteht. Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte.

Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich. So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde. Die meisten religiös-ethnischen Gruppen sind im Parlament vertreten.

Der Irak hat ca. 40 Millionen Einwohner. Etwa 75–80 % der heute im Irak lebenden Bevölkerung sind Araber, 15–20 % sind Kurden und 5 % sind Turkomanen, rund 600.000 Assyrer/Aramäer, etwa 10.000 Armenier oder Angehörige anderer ethnischer Gruppen. Weiterhin sollen im Südosten 20.000 bis 50.000 Marsch-Araber leben. Von turkomanischen Quellen wird der Anteil der eigenen ethnischen Gruppe auf etwa 10 % geschätzt.

Etwa 95-98 % der Bevölkerung sind muslimisch. Über 60 % sind Schiiten und zwischen 32 und 37 % Sunniten; die große Mehrheit der muslimischen Kurden ist sunnitisch. Ca. 17-22 % sind arabische Sunniten (vorwiegend im Zentral- und Westirak), ca. 15-20 % der Gesamtbevölkerung sind kurdische Sunniten.

Der Irak hat eine junge Bevölkerungsstruktur. 0-14 Jahre: 37.02% (M 7,349,868/F 7,041,405), 15-24 Jahre: 19.83% (M 3,918,433/F 3,788,157), 25-54 Jahre: 35.59% (M 6,919,569/F 6,914,856), 55-64 years: 4.23% (M 805,397/F 839,137), 65 Jahre und älter: 3.33% (M 576,593/F 719,240). (https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html).

Sicherheitskräfte – Milizen - Rechtschutz

Die irakischen Sicherheitskräfte ISF:

Im ganzen Land sind zahlreiche innerstaatliche Sicherheitskräfte tätig. Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, Sicherheitskräften, die vom Verteidigungsministerien verwaltet werden, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF, Popular Mobilization Forces), und dem Counter-Terrorism Service (CTS). Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig; es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Infrastruktur in diesem Bereich verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der Counter-Terrorism Service (CTS) ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören. Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen.

Volksmobilsierungseinheiten (PMF):

Der Name bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen. Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig. Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mosul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt. Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten. Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. Die Bemühungen der Regierung, die PMF als staatliche Sicherheitsbehörde zu formalisieren, werden fortgesetzt, aber Teile der PMF bleiben „iranisch“ ausgerichtet. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderungen in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes.

Rechtschutz

Das reguläre Strafjustizsystem besteht aus Ermittlungsgerichten, Gerichten der ersten Instanz, Berufungsgerichten, dem Kassationsgerichtshof und der Staatsanwaltschaft. Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts. Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz. Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen und Einflussnahmen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein. Personal- und Kompetenzmangel wird zuweilen beklagt.

Die Verfassung gibt allen Bürgern das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess. Dennoch verabsäumen es Beamte vereinzelt, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen. Obwohl Ermittlungs-, Prozess- und Berufungsrichter im Allgemeinen versuchen, das Recht auf ein faires Verfahren durchzusetzen, gibt es diesbezüglich Mängel im Verfahren. Urteile ergehen vereinzelt mit überschießend hohen Strafen.

Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich Iraker vereinzelt auch an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt.

Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt.

Allg. Sicherheitslage

Zwischen 2014 und 2017 führte der Irak eine Militärkampagne gegen den Islamischen Staat Irak und Ash-Sham (ISIS) durch, um das im westlichen und nördlichen Teil des Landes verlorene Territorium zurückzuerobern. Die irakischen und alliierten Streitkräfte eroberten 2017 Mosul, die zweitgrößte Stadt des Landes, zurück und vertrieben den IS aus seinen anderen städtischen Hochburgen. Im Dezember 2017 erklärte der damalige Premierminister Haydar al-ABADI öffentlich den Sieg gegen ISIS, während er seine Operationen gegen vereinzelte Zellen der Gruppe in ländlichen Gebieten fortsetzte.

Wenngleich es zum Teil erhebliche Mängel im Sicherheits- und Rechtschutzsystem gibt, kann nicht davon gesprochen werden, dass für die Bevölkerung generell keine wirksamen Schutzmechanismen vorhanden wären oder, dass dazu kein Zugang möglich wäre. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt.

Vereinzelte, untergetauchte IS-Kämpfer sind in manchen Gebieten für Verbrechen verantwortlich, wobei sich die Straftaten im Wesentlichen gegen staatliche Akteure und deren Einrichtungen richten. Ebenso werden vereinzelt Übergriffe seitens schiitischer Milizen verzeichnet. Die allgemeine Kriminalitätsrate ist hoch.

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet grds. nicht statt. In der Autonomen Region Kurdistan sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt.

Es kann auf Grund der aktuellen Berichtslage nicht festgestellt werden, dass derzeit quasi jede Person mit dem Persönlichkeitsprofil der beschwerdeführenden Partei (insbes. ethnische, konfessionelle Zugehörigkeit) im Irak bzw. in der Herkunftsregion einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung aus asylrelevanten Motiven unterliegen würde.

Es kann ebenso nicht festgestellt werden, dass aktuell für diese Personen im Irak bzw. in der Herkunftsregion eine allgemeine Sicherheitslage herrschen würde, wonach sie einer realen Gefährdung der persönlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären

Demonstrationen

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnischkonfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr- Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019),

sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL

1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweiig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).

Sunniten

Ca. 17-22 %, also ca. 6,5 bis 8,4 Millionen der Gesamtbevölkerung sind arabische Sunniten (vorwiegend im Zentral- und Westirak), ca. 15-20 % der Gesamtbevölkerung sind kurdische Sunniten. So wie Schiiten sind auch arabische Sunniten in hohen politischen (zB Parlamentspräsident) und öffentlichen Ämtern vertreten. Ebenso als Beschäftigte bei Polizei, Militär und Gerichten. Sunniten nehmen ebenso am sonstigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teil. Es gibt Berichte über vereinzelte Menschenrechtsverletzungen an Sunniten, va. durch schiitische Milizen oder unbekannte Täter. Vor allem Personen die Angehörige der terroristischen Gruppierung IS sind oder im Verdacht stehen solche zu sein oder diese unterstützen, können derart gefährdet sein. Auf Grund der aktuellen Berichtslage über Geschehnisse ab 2019 lässt sich nicht schließen, dass dies Teil eines systematischen, quasi jeden Sunniten gleichermaßen treffenden Risikos ist. Sunniten, die in schiitisch dominierten Regionen leben, können gesellschaftliche Diskriminierung in einem moderaten Level erfahren, vor allem in den südlichen Gouvernements. Es handle sich vorwiegend um Diskriminierung am Arbeitsmarkt bzw. um gesellschaftliche Diskriminierung aufgrund von Nepotismus. Schiitische Arbeitgeber würden eher Schiiten einstellen. Generell ist die Zahl von registrierten, sicherheitsrelevanten Vorfällen jedoch seit dem Zeitpunkt als der IS als „vertrieben“ gilt, stark rückläufig und regional unterschiedlich.

Eine aktuelle, systematische Verfolgung von Sunniten verneinend auch der VwGH, zB in Ra 2018/14/0354-11 vom 30. April 2019; 26.03.2020, Ra 2019/14/0450; vgl. auch uva. BVwG v. 07.03.2019, L504 2120407-1 [ein subs. Schutzberechtigter Sunnit namens Omar (somit insbes. für Sicherheitskräfte bei Kontrollen auch leicht als Sunnit identifizierbar) nachweislich mit wiederholten, auch auf Facebook bildlich präsentierten Reisen und längeren Aufenthalten (2016-2019) im Irak, vor allem Bagdad, während des laufenden Beschwerdefahrens]).

UNHCR –Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019:

UNHCR vertritt in seinem Positionspapier vom Mai 2019 die Ansicht, dass – abhängig von den jeweiligen Umständen des konkreten Falles - Personen mit überwiegend sunnitisch-arabischer Identität und zwar vornehmlich aber nicht ausschließlich Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren, Berichten zufolge kollektiv verdächtigt würden, mit ISIS verbunden zu sein oder ISIS zu unterstützen (377) und möglicherweise internationalen Schutz benötigen. Sofern relevant müssen frühere Verfolgungen, denen der Antragsteller auf internationalen Schutz möglicherweise ausgesetzt war, besonders berücksichtigt werden.

UNHCR stützt diese Annahme auf folgende Berichte aus dem Jahr 2018, denen naturgemäß länger zurückliegende Vorfälle zugrunde liegen:

(377): Berichten zufolge exisitiert eine „(…) weitverbreitete Stigmatisierung ganzer Stämme und Gemeinschaften aufgrund der Tatsache, dass diese die Herrschaft des ISIS überlebt haben“ [Übersetzung durch UNHCR]; InterAction, Moving Forward Together, Leaving no One Behind: From Stigmatization to Social Cohesion in Post-Conflict Iraq, 31. Oktober 2018, https://bit.ly/2r2TtZg, S. 3. „Die Art und Weise, wie der irakische Staat derzeit mit Personen mit Verbindungen zum IS umgeht,wird von Sunniten weitgehend als kollektive Bestrafung sunnitischer Zivilisten aufgefasst, nur weil diese in Gebieten leben, die vom IS kontrolliert und beherrscht wurden“ [Übersetzung durch UNHCR]; UNU-CPR, The Limits of Punishment, Mai 2018,

https://bit.ly/2zI6nQC, S. 27. Siehe auch Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (EUISS), Meet Iraq’s Sunni Arabs A Strategic Profile, Oktober 2017, https://bit.ly/2zmT3BE, S. 2..

Seit 2014 waren Zivilisten dieses Profils regelmäßig verschiedenen Vergeltungsmaßnahmen in Form von Gewaltanwendung und Missbrauch durch staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, unter anderem während Militäreinsätzen gegen ISIS, während und nach der Flucht aus durch ISIS besetzten Gebieten, nach der Wiedereroberung dieser Gebiete und während anhaltender Sicherheitseinsätze gegen Überreste von ISIS.

Im Allgemeinen sind Strafverfahren gegen Personen, für die ein begründeter Verdacht hinsichtlich der

Begehung von Straftaten besteht, vollkommen rechtmäßig, jedoch müssen diese den jeweiligen Gesetzen entsprechen und die Voraussetzungen für ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren erfüllen.

Jedoch stellen Beobachter fest, dass die ISF, damit verbundene Kräfte und die kurdischen Sicherheitskräfte Personen regelmäßig auf der Basis weitläufiger, diskriminierender und sich häufig

überschneidender Kriterien eine Verbindung zu ISIS unterstellen. Zu diesen Kriterien gehören (378):

?        die religiöse und ethnische Zugehörigkeit (sunnitische Araber oder Turkmenen (379),

?        Geschlecht und Alter (Männer und Jungen im kampffähigen Alter),

?        familiärer Hintergrund und Stammeszugehörigkeit, einschließlich des Herkunftsortes und/oder

?        Wohnsitz in einem ehemals von ISIS besetzten Gebiet im Zeitraum der Besetzung durch ISIS.

Gegen Personen dieser Profile wird regelmäßig der Verdacht der Verwicklung mit ISIS erhoben und

zwar unabhängig von der Art dieser Beteiligung – also unabhängig davon, ob diese freiwillig oder

erzwungen, ziviler oder militärischer Natur war.380 Es wird berichtet, dass Personen dieser Profile auf

Basis fragwürdiger Beweise verhaftet werden, z.B. aufgrund von Aussagen geheimer Informanten oder

weil sie auf „Fahndungslisten“ stehen, die von verschiedenen Sicherheitsakteuren geführt werden.

UNHCR stützt diese Annahme auf folgende Quellen, die im Wesentlichen über Ereignisse aus den Jahren 2014-2018 berichten:

(378) Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung nahmen irakische Kräfte willkürlich hauptsächlich sunnitische Männer fest, misshandelten und folterten diese und ließen sie aus Gebieten, in denen der ISIS aktiv war, verschwinden (…)“ [Übersetzung durch UNHCR]; HRW, World Report 2019 ? Iraq, 17. Januar 2019, https://www.ecoi.net/en/document/2002196.html. „Im Irak herrscht die weitverbreitete Annahme vor, dass allein die Tatsache, in einem vom Islamischen Staat kontrollierten Gebiet zu leben, als Unterstützungshandlung des Terrorismus anzusehen sei“ [Übersetzung durch UNHCR]; Washington Post, How the Iraqi Crackdown on the Islamic State May Actually Increase Support for the Islamic State, 7. Januar 2019, https://wapo.st/2M7roKh. „[Bei] beinahe allen Fällen, die Human Rights Watch für diesen Bericht dokumentierte, handelte es sich um sunnitisch-arabische Männer. Ihre Familien gaben alle an, dass sie glaubten, das Verschwindenlassen sei aufgrund deren religiöser, stammesbezogener oder familiärer Identität, passiert; Merkmale, die von irakischen Kräften dazu genutzt wurden, den

Männern Sympathie für den ISIS und Al-Qaida zu unterstellen. Human Rights Watch weiß von keinen konkreten Beweisen, die eine Verbindung zwischen den verschwundenen Personen und dem ISIS belegen. (…) Mit Ausnahme eines Verschwindens zielten sämtliche Fälle von Verschwindenlassen an Checkpoints auf Einzelpersonen ab, die aus Regionen stammten oder in Regionen lebten, die zwischen 2014 und 2017 für unterschiedliche Zeiträume vom ISIS kontrolliert worden waren” [Übersetzung durch UNHCR]; HRW, Arbitrary Arrests and Enforced Disappearances in Iraq 2014-2017, 27. September 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1444517/1788_1538050350_2709.pdf, S. 3. „Alle Anwälte gaben an, dass Beamte bestimmte Personen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Zugehörigkeit zu einem Stamm oder ihres Familiennamens automatisch als mit dem ISIS verbunden betrachteten. Dies gilt auch für Personen, die oder deren Verwandte in einer Reihe von Datenbanken auftauchen, in denen wegen Verbindungen zum ISIS ‚gesuchte Personen‘erfasst sind“ [Übersetzung durch UNHCR] HRW, Iraq: Officials Threatening, Arresting Lawyers, 12. September 2018, http://www.refworld.org/docid/5ba0bd2e4.html. „Die Art und Weise, wie die irakische Regierung mit Personen mit Verbindungen zum IS umgeht, wird weitgehend als kollektive Bestrafung sunnitischer

Zivilisten aufgefasst, die zufällig in Gebieten lebten und arbeiteten, die von der Gruppe eingenommen wurden“ [Übersetzung durch UNHCR]; Lawfare, Iraq’s Harsh Approach to Punishing Islamic State ‘Collaborators’ Stands to Have Counterproductive Consequences, 11. Juni 2018, https://bit.ly/2K3votp. „Vielen zivilen Bewohnern von IS-kontrollierten Gebieten und Verwandten von IS-Mitgliedern blieb keine andere Wahl, als mit der Gruppe zu kooperieren, da Widerstand mit ‚Apostasie‘ gleichgesetzt

wurde und deshalb mit dem Tod bestraft werden konnte. Als sich der IS im Jahr 2017 aus irakischem Territorium zurückzog, hinterließ er eine Bevölkerung, die nun von irakischen Behörden mehrheitlich als am Terrorismus beteiligt erachtet wird (…). Männer, Frauen und Kinder wurden von irakischen Behörden sowie Behörden der Regionalregierung Kurdistan festgenommen, da sie aufgrund rein demografischer Charakteristika (Männer im kampffähigen Alter) oder räumlicher Nähe zu Mossul und

anderen umkämpften Gebieten, verdächtigt wurden, Verbindungen zum IS zu unterhalten” [Übersetzung durch UNHCR]; UNUCPR, The Limits of Punishment, Mai 2018, https://bit.ly/2zI6nQC, S. 4, 22. „Der Tradition nach legt der Sozialvertrag des Stammessystems fest, dass ein Anschlag auf ein Mitglied als Beleidigung aller Mitglieder gilt. Angesichts der derzeitigen Lage scheint sich der Vertrag ins Umgekehrte zu verwandeln: Den Stämmen wird vorgeworfen, mit dem ISIL zusammenzuarbeiten,

da sich einzelne Mitglieder oder Familien auf die Seite der Extremisten stellen” [Übersetzung durch UNHCR]; War on the Rocks, Baghdad Must Seize the Chance to Work With Iraq’s Tribes, 17. Januar 2018, https://bit.ly/2PoIhzW.

(379) Während die Anzahl sunnitischer Turkmenen weit geringer ist als jene sunnitischer Araber, gelten ähnliche Überlegungen in beiden Fällen. Berichten zufolge wird bezüglich sunnitischer Turkmenen regelmäßig angenommen, dass sich diese im Jahr 2014, als der ISIS mehrheitlich von Turkmenen bevölkerte Gebiete – darunter die Ortschaft Tal Afar (Ninawa) – einnahm, auf dessen Seite gestellt haben. „Viele in Ninive bezichtigen die sunnitischen Turkmenen aus Tal Afar Hardcore-Anhänger und Unterstützer des ISIS und zuvor der Al-Qaida zu sein” [Übersetzung durch UNHCR]; United States Institute for Peace (USIP), With Key Iraqi Province Retaken from ISIS, What’s Next?, 1. September 2018, https://bit.ly/2w57uL9. Siehe auch MRGI, Turkmen, updated November 2017, https://bit.ly/2AmCMfT; Al Jazeera, Iraq's Turkmen Mobilise for a Post-ISIL Future, 13. Februar 2017, https://bit.ly/2PSMMrP.

(380) „Einzelpersonen mit Verbindungen zum ISIS, sei es als Kämpfer, zivile Kollaborateure oder rein als Bewohner von ISISkontrollierten Gebieten, sind von lokalen Gemeinschaften, Stammesbehörden und von mit dem Staat verbundenen Kräften stigmatisiert worden” [Übersetzung durch UNHCR]; UNU-CPR, A Will to Punish – The Shia View of Dealing with ISIS Suspects in the Hands of Iraqi Justice, Juli 2018, https://bit.ly/2JVFhda, S. 5. „Grundsätzlich zeigte sich die irakische Regierung nicht bereit dazu, zwischen den vielen unterschiedlichen Arten von Anhängern zu differenzieren: zivile Bewohner von IS-kontrollierten Gebieten, die der Gruppe Steuern zahlen mussten; zivile Angestellte, die in vom IS geleiteten Einrichtungen arbeiteten; ISKämpfer, oder Verwandte von Personen, die für den IS arbeiteten oder kämpften. Auch ihr verschiedentlich ausgeprägte Schuldhaftigkeit wird nicht anerkannt” [Übersetzung durch UNHCR]; Lawfare, Iraq’s Harsh Approach to Punishing Islamic State

‘Collaborators’ Stands to Have Counterproductive Consequences, 11. Juni 2018, https://bit.ly/2K3votp. Siehe auch The Independent, Mosul's Sunni Residents Face Mass Persecution as ISIS 'Collaborators', 13. Juli 2017, https://ind.pn/2tQAOkc.

(381) „Das US-Verteidigungsministerium schätzte, dass 3.000 bis 5.000 ISIS-Kämpfer Mossul, eine der Hochburgen der Gruppe, verteidigten. Laut leitenden irakischen Geheimdienstbeamten wurde die Liste mutmaßlicher ISIS-Anhänger Berichten zufolge jedoch immer länger und umfasste ungefähr 100.000 Namen. Diese Listen beziehen Personen mitein, die verdächtigt wurden auf irgendeine Weise am ISIS beteiligt zu sein – auch solche in unterstützenden Funktionen wie etwa Fahrer oder Köche. Manche der Personen auf der Liste waren möglicherweise überhaupt nicht mit ISIS involviert, werden dessen jedoch wegen einer Verwicklung ihrer Familienmitglieder mit dem ISIS verdächtigt oder aber weil Gemeinschaftsmitglieder allein aufgrund persönlicher oder lokaler Konflikte Namen für die Liste vorgeschlagen haben“ [Übersetzung durch UNHCR]; HRW, „Everyone Must Confess“, 6. März 2019, http://bit.ly/2JdtlqI. „Manche Polizeibeamten verhaften Zivilisten lediglich auf Basis von Informationen, die von geheimen Informanten stammen. Diese Praktik erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Zivilisten fälschlich beschuldigt werden und sich vor ihrer Gerichtsanhörungen mit langwierigen Haftstrafen in überfüllten Einrichtungen konfrontiert sehen, in denen sie hinsichtlich Misshandlungen und Zwangsgeständnissen gefährdet sind“ [Übersetzung durch UNHCR]; CIVIC, Mosul: Civilian Protection Challenges Post-ISIS, Mai 2018, https://bit.ly/2PVzJoN, S. 3. „Fahndungslisten sind kaum durch Quellen belegt und weitgehend als fehlerhaft anerkannt. Verschiedene irakische Sicherheitskräfte verwenden ihre eigenen Fahndungslisten und bemühen sich kaum darum, sich mit den entsprechenden Geheimdiensten abzusprechen oder diese Listen abzugleichen. (…) Es kann vorkommen, dass Einzelpersonen aufgrund der Ähnlichkeit ihres Nachnamens mit einem Nachnamen

auf einer Fahndungsliste verhaftet werden“ [Übersetzung durch UNHCR]; UNU-CPR, The Limits of Punishment, Mai 2018, https://bit.ly/2zI6nQC, S. 22. „Trotz der Tatsache, dass die zur Sicherheitsprüfung verwendete Datenbank Namen von Einzelpersonen enthält, wird die gesamte Familie für schuldig befunden – in manchen Fällen betrifft dies Familienmitglieder bis zum vierten Grad. Das bedeutet, dass selbst entfernte Verwandte, wie etwa ein Großonkel oder Cousin ersten Grades,

ungeachtet deren eigener Handlungen oder ihrer tatsächlichen Verbindung zum Hauptverdächtigen, als ISIL-Anhänger eingestuft werden” [Übersetzung durch UNHCR]; POMEPS, Legal Pluralism and Justice in Iraq after ISIL, 10. September 2018, https://bit.ly/2rpzPqw. Siehe auch S. 23 desselben Berichts. „Behörden verhaften regelmäßig Personen und verfügen dabei kaum über anderes Beweismaterial als deren Namen, die mit jenen Namen auf einer Liste von Flüchtigen übereinstimmen. Viele Einwohner von Mossul vermeiden ein Passieren der Checkpoints, da sie befürchten, dass ihre Namen irrtümlich auf solchen Listen auftauchen könnten” [Übersetzung durch UNHCR]; Washington Post, Mosul Residents Say Corruption Rises after Islamic State's Fall in Iraq, 30. Dezember 2018, https://go.shr.lc/2CGanDH; Siehe auch Foreign Policy, Among Displaced Iraqis, One Group Is Worse Off than the Rest, 29. April 2019, https://bit.ly/2J7jiBW; AP, A Neighbor's Word Can Bring Death Sentence in Iraq IS Trials, 9. Juli 2018, https://bit.ly/2KKFvrq; HRW, Arbitrary Arrests and Enforced Disappearances in Iraq 2014-2017, 27. September 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1444517/1788_1538050350_2709.pdf, S. 9, 23-50; AFP, In Mosul, Hundreds Fear Arrest for Sharing Names with Jihadists, 3. März 2018, http://f24.my/2buv.T.

Im Kontext der Militäreinsätze gegen ISIS zwischen 2014 und 2017 wurden Zivilisten dieser Profile Berichten zufolge zum Ziel der ISF, damit verbundener Kräfte und der kurdischen Sicherheitskräfte in Bezug auf willkürliche Festnahmen und Gefangenschaft, (382) Entführung, erzwungenes Verschwinden, Folter und andere Formen von Misshandlung sowie außergerichtliche Hinrichtungen.

(383) In diesem Zeitraum ereigneten sich sowohl in Konfliktgebieten als auch anderenorts willkürliche Festnahmen und Verschwindenlassen vermeintlicher ISIS-Mitglieder und -Unterstützer Berichten zufolge vornehmlich inKontrollzentren und an Checkpoints, zuhause sowie in Binnenvertriebenenlagern und während Sicherheits-Razzien. (384) Es wird berichtet, dass die Räumungsaktionen und Verhaftungskampagnen gegen ISIS-Verdächtige in den von ISIS zurückeroberten Gebieten und anderenorts auch nach dem Ende der großen

Militäreinsätze gegen ISIS Ende 2017 weitergehen.

(385) Für Personen, die einer Verwicklung mit ISIS verdächtigt werden – einschließlich derer, die nicht in gewaltsame Handlungen verwickelt waren; derer, die zur Kooperation mit ISIS gezwungen wurden; die wirtschaftlich davon abhängig waren, ihren Job im öffentlichen Sektor unter der Verwaltung durch ISIS zu behalten (z.B. Beamte, Ärzte in öffentlichen Krankenhäusern, Lehrer) oder einfach nur in einem von ISIS kontrollierten Gebiet lebten – besteht das Risiko willkürlicher Festnahme, erzwungenen Verschwindens, Folter und anderen Formen der Misshandlung, außergerichtlicher Hinrichtungen und unfairer Gerichtsverhandlungen, die zu Todesurteilen aufgrund der vermeintlichen Verbindung mit oder Unterstützung von ISIS führen können.(386) Berichten zufolge bestehen nach wie vor in mehreren Verwaltungsbezirken Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen, die unter anderem Bürgschaftsanforderungen umfassen. Diese Beschränkungen stützen sich oft auf weitläufige und diskriminierende Kriterien, wie eine vermeintliche Verbindung zu ISIS aufgrund der ethnischen, religiösen und/oder Stammeszugehörigkeit oder des Herkunftsgebiets einer Person.(387)

Mosul und Gouvernement Ninewa

Mosul [auch Mossul] ist die Hauptstadt im Gouvernement Ninewa. Sie ist mit rd. 2,9 Millionen Einwohnern nach Bagdad die zweitgrößte Stadt des Landes. Mosul war eine multiethnische und multireligiöse Stadt. Die Demagogie hat sich nach der Besetzung durch den IS zugunsten der arabischen Bevölkerung verändert. Die meisten Einwohner von Mosul sind Sunniten.

Mitte 2014 wurde sie durch den IS eingenommen. Die Sicherheitslage hat sich nach dem territorialen Sieg über den IS im Jahr 2017 merklich auch in Mosul verbessert. Es wurden verschiedene Militärbehörden in der Stadt stationiert, was die Sicherheitslage deutlich verbessert hat. Vereinzelt wird über IS-Schläferzellen berichtet, die - so wie auch Personen die diesen unterstützen - durch staatliche Sicherheitskräfte bekämpft werden. Die vereinzelten Übergriffe des IS richten sich in erster Linie gegen staatliche Organe und deren Einrichtungen. Es kommt vereinzelt zu Menschenrechtsverletzungen und sonstige Kriminalität durch Regierungssoldaten und lokale Milizen, die die Stadt kontrollieren.

Der westliche Teil (Altstadt) war wesentlich mehr von Zerstörung durch den Kampf gegen den IS betroffen als der Osten der Stadt. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP)

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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