TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/16 W150 2208446-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.10.2020
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Entscheidungsdatum

16.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5
VwGVG §7 Abs2

Spruch


W150 2208446-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. KLEIN als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn XXXX , geb. XXXX 1991, StA. AFGHANISTAN, vertreten durch RA Mag. Volkert SACKMANN, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 21.09.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.03.2019, zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II.      Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine bis 13.10.2021 befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

III.    Die Spruchpunkte III., IV., V., VI. und VIII. des angefochtenen Bescheids werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge auch: „BF“) reiste zu einem unbekannten Zeitpunkt, spätestens jedoch am 01.11.2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte an diesem Tag einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gegenüber im Notquartier des Roten Kreuzes in der LINDENGASSE 48-52, 1070 WIEN, einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 05.12.2015 wurde der BF in der Landespolizeidirektion WIEN (in der Folge auch: „LPDion WIEN“), Abteilung Fremdenpolizei und Anhaltevollzug durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache DARI erstbefragt; Verständnisprobleme dazu gab er keine an.

Dabei führte er zusammengefasst und soweit verfahrensrelevant ins Treffen, afghanischer Staatsangehöriger, zum im Spruch angeführten Datum in KABUL, Afghanistan, geboren und in XXXX , wohnhaft gewesen sowie Moslem (Schiit) zu sein und darüber hinaus über ein Jahr Schulausbildung zu Hause zu verfügen. Weiter brachte er vor, von Beruf Arbeiter zu sein, DARI auf muttersprachlichem Niveau zu sprechen, jedoch auch FARSI (gut) zu beherrschen; sowohl in traditioneller als auch standesamtlicher Hinsicht verheiratet, wären seine Ehefrau und sein mj. Sohn mit ihm mitgereist und würde sich das Paar das Sorgerecht des gemeinsamen Kindes teilen.

Seine finanzielle Situation wie auch jene seiner Familie in Afghanistan qualifizierte der Genannte als „mittel“. Vor etwa einem Monat sei er zusammen mit seiner Familie illegal zu Fuß über Pakistan in den Iran gereist. Von dort hätten Eltern und Kind schlepperunterstützt zu Fuß die Grenze zur Türkei überquert, wo sie in weiterer Folge eine Woche geblieben wären. Mit einem Schlauchboot habe man dann den Beschwerdeführer und seine Familie nach Griechenland gebracht, wo sie von der Polizei aber nur fotografiert worden seien und einen Landesverweis erhalten hätten. Zwei Nächte später wäre das Paar mit dem gemeinsamen Kind mit einer Fähre weiter nach ATHEN und von dort mit dem Flüchtlingsstrom über Mazedonien, Serbien, Kroatien, und Slowenien schließlich nach Österreich gelangt. Die Grenze zu Österreich hätten sie abermals am Fußweg überquert und seien dann anschließend mit dem Reisezug nach WIEN gelangt. Die Reise habe der Beschwerdeführer selbst organisiert, und an Kosten für sich und seine Familie 8.000,- USD verursacht.

Als Fluchtgrund gab der Genannte die generell schlechte Sicherheitslage und das Erlangen einer besseren Zukunft an. In seiner Ortschaft herrsche Krieg. Dort sei es wegen der Taliban und dem IS sehr gefährlich, er hätte dort nicht mehr leben können, deshalb seien sie geflüchtet. Der BF legte keine Dokumente zum Nachweis seiner Identität vor.

3. Am 28.08.2017 langte ein Abschlussbericht der LPDion WIEN an die Staatsanwaltschaft Wien (in der Folge auch: „StA-WIEN“) über den BF ein hinsichtlich des Verdachtes der Sachbeschädigung zu Lasten des dortigen Heimbetreibers bzw. einer Körperverletzung zu Lasten einer Heimbetreuerin, begangen in einer Flüchtlingsunterkunft am 07.04.2017, 21:35 Uhr, in 1210 Wien.

4. Am 26.09.2017 langte ein Abschlussbericht der LPDion WIEN an die Staatsanwaltschaft Wien über den BF ein betreffend des Verdachtes der sexuellen Belästigung und öffentlicher geschlechtlicher Handlungen zu Lasten einer Frau, begangen in einer U-Bahnstation auf einer Rolltreppe am 05.08.2017, 02:15 Uhr, in 1070 WIEN.

5. Am 07.11.2017 langte eine Meldung der LPDion WIEN über die an diesem Tage erfolgte Wegweisung und verhängtes Betretungsverbot gemäß § 38a SPG betreffend den BF infolge Anzeige durch seine Ehegattin, wegen eines Vorfalles in einer Flüchtlingsunterkunft in 1210 WIEN, in der die Ehefrau des BF getrennt von diesem wohnhaft ist. Dabei wurde durch diese auch eine am 24.10.2017 erfolgte Bedrohung durch den BF mit einem Messer erwähnt.

6. Am 24.11.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, (in der Folge auch: „BFA“ oder „belangte Behörde“) unter Beisein einer Vertrauensperson und einer Dolmetscherin für die Sprache DARI niederschriftlich einvernommen.

Dabei wurde ihm im Rahmen des Parteiengehörs zur Einsichtnahme in die Übersetzung des aktuellen Länderinformationsblattes eine Frist bis zum 11.12.2017 eingeräumt. Im Zuge dieser Einvernahme bestätigte der BF im Wesentlichen seine Angaben anlässlich der Erstbefragung („Ich habe die Wahrheit gesagt, aber ich musste mich kurz halten, die Einvernahme hat 5 - 8 Min. gedauert.“).

Zusammengefasst und soweit verfahrensrelevant ergänzte bzw. korrigierte er:

-) bezüglich Volksgruppenzugehörigkeit, wonach er der Volksgruppe der SAID angehöre.

-) bezüglich seiner Berufstätigkeit, dass er immer nur in der Landwirtschaft gearbeitet hätte.

-) bezüglich seines Wohnortes, demzufolge er in XXXX , mit seinen Eltern und seinen vier Brüdern in einem eigenen Haus gewohnt hätte, welches seine Eltern aber aufgrund seiner Ausreise samt dazugehörigem Grund verkauft hätten.

-) bezüglich seiner Familie, wonach er nicht wisse, wo seine Eltern jetzt aktuell leben würden. Eine Tante väterlicherseits lebe in WIEN, und hätte diese behauptet, seine Kernfamilienmitglieder würden nunmehr nicht mehr am früheren Wohnort aufhältig sein. Seine beiden Schwestern hätten in XXXX gelebt, der Genannte wisse aber nicht, ob sie zwischenzeitlich vielleicht nach Pakistan oder den Iran gegangen seien. Demgegenüber würde ein Bruder in Deutschland wohnen, zu dem er auch Kontakt habe; von den anderen drei Brüdern wisse er hingegen nicht, wo sie sich befänden. Eine Tante mütterlicherseits lebe in XXXX wie auch viele andere Verwandte. Die Schwiegereltern seien nach wie vor in XXXX . Der Beschwerdeführer habe vor circa fünf Jahren seine Cousine traditionell im Hause seines Vaters geheiratet und einen entsprechenden Vertrag erhalten, dieser befinde sich in Afghanistan.

-) zu seinen Fluchtgründen, dass deren Ursprung ungefähr fünf bis fünfeinhalb Jahre zurückliegen würde, zu einem Zeitpunkt also, als er noch ledig gewesen sei und in XXXX mit seinem Cousin Obst an Händler verkauft habe.

Damals hätte es nur Taliban gegeben und Amerikaner, jedoch noch keinen IS. Eines Tages – er selbst sei gerade innerhalb des Geschäftslokals gewesen – habe plötzlich ohne Vorwarnung in unmittelbarer Nähe eine Rakete eingeschlagen. Kurz nach seinem Hinauslaufen hätte er viele Todesopfer gesehen, darunter auch sein Cousin und einige Soldaten. Auf den Schock hin ohnmächtig geworden, hätte der Beschwerdeführer ins Krankenhaus müssen. Dabei habe er sich zudem seine Hand verletzt. Etwa neun Monate später, unmittelbar nach seiner Genesung, hätte sein Vater dann die Ehe zwischen dem Genannten und dessen Cousine arrangiert.

Die Sicherheitslage habe sich auch danach nicht gebessert, sondern sei im Gegenteil von Tag zu Tag sogar noch schlechter geworden, zumal nunmehr auch der IS hinzugetreten wäre. Aufgrund der täglichen Gefechte zwischen Taliban und IS, in Kombination mit den allgegenwärtigen Bombenanschlägen, habe ihm dann sein Vater im Jahre 2015 vorgeschlagen, wegzugehen, nicht zuletzt angesichts seiner Frau und des gemeinsamen Kindes. Ziel sollte ein Land sein, in dem kein Krieg herrsche, damit der Sohn in Sicherheit leben könne. In Afghanistan herrsche überall Krieg, in KABUL gebe es auch ständig Anschläge, er sei wegen der schlechten Sicherheitslage ausgereist. In die afghanische Hauptstadt könne er nicht gehen, denn auch wenn alle behaupten würden, wonach es in KABUL sicher sei, würden dort täglich Anschläge verübt werden, die Sicherheitskräfte seien völlig überfordert. Er selbst sei zwar nie persönlich bedroht worden aber herrsche dennoch überall Krieg im Land und hätten sich zudem um sie herum Paschtunen befunden.

-) bezüglich allgemeiner sonstiger Angaben, demzufolge er in seiner Heimat nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder strafrechtlich verurteilt worden sei. Der Beschwerdeführer habe sich dort auch nie politisch oder religiös betätigt.

-) bezüglich seiner Befürchtungen im Falle einer Rückkehr, wonach er nur dann zurückkehren würde, wenn vor Ort mehr Frieden herrsche. Es gebe keine Sicherheit in Afghanistan, er wisse auch nicht, wo sich seine Eltern befänden. Der Genannte lebe seit er denken könne im Krieg, habe ständig Schüsse gehört, sei 27 Jahre alt und wolle ein paar Jahre in Frieden leben. Wenn man dort hinausgehe, wisse man nicht, ob man lebendig zurückkomme. Wie er unter solchen Bedingungen sein Kind zur Schule schicken solle, sei ihm nicht erkennbar.

-) bezüglich seines Alltages in Österreich, dass er seit 6 – 7 Monaten in einem Flüchtlingsheim wohne und sein Sohn nachmittags bei ihm sei. Der Beschwerdeführer hätte einige Freunde; Mitglied in einem Verein oder diversen Organisationen sei er in Österreich hingegen nicht.

Eine Lebensgemeinschaft führe er im Bundesgebiet nicht, obwohl der Beschwerdeführer bereits seit circa April 2017 von seiner Frau getrennt leben würde. Dennoch ziehe er die Durchführung einer Scheidung nicht in Erwägung, sondern sehe vielmehr einer gemeinsamen Zukunft optimistisch entgegen, zumal das Paar eigentlich kein großes Problem hätte; sie würden es sicher wieder versuchen.

Der BF legte folgende Bestätigungen vor:

-) eine Bestätigung des ASBÖ vom 23.11.2017, dass sein Quartier in 1030 Wien für Erwachsene Männer sei und der Sohn des BF daher ausschließlich bei seiner Mutter wohne.

-) Eine Kursbestätigung „Start Wien, Integration ab Tag 1“ des BfI über den Besuch des BF vom 11.09.2017 bis dato (Kursende: 01.06.2018) vom 21.11.2017

-) Eine Kursbestätigung vom Verein Ute Bock, dass der BF einen von diesem Verein abgehaltenen Deutschkurs seit 03.12.2015 (Kursende: 2017) regelmäßig besuche, datiert mit 31.03.2016.

-) Eine Bestätigung der MA 45 über gemeinnützige Arbeiten (zusätzliche Reinigung und Landschaftspflege der Donauinsel), die der BF im Zeitraum April 2016 bis Oktober 2016 erbracht habe, datiert mit 16.11.2016.

7. Am 15.02.2018 langte eine Meldung der StA-WIEN über die Anklageerhebung gegen den BF wegen vorsätzlich begangener strafbaren Handlungen (§§ 125, 83 StGB) ein.

8. Mit Urteil des BG JOSEFSTADT vom 11.04.2018. rechtskräftig mit 17.04.2018, wurde der BF wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, des Vergehens der der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und wegen des Vergehens der sexuellen Belästigung nach § 125 Abs. 1a StGB zu einer Haftstrafe von insgesamt 4 Monaten, unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen, verurteilt.

9. Am 04.07.2018 wurde der BF vor dem BFA unter Beisein einer Vertrauensperson und einer Dolmetscherin für die Sprache DARI erneut niederschriftlich einvernommen. Im Zuge dieser Einvernahme bestätigte der BF seine Angaben anlässlich der Erstbefragung und der ersten Einvernahme.

Zusammengefasst und soweit verfahrensrelevant ergänzte er:

-) bezüglich seiner Familie, demzufolge er zu seiner Tante väterlicherseits in Österreich keinen Kontakt habe. Weiters lebe er in Österreich nicht in einer Lebensgemeinschaft, sondern wohne der Genannte vielmehr getrennt von seiner Gattin in XXXX . Von seiner nach traditionellem Ritus geehelichten Cousine wolle er sich allerdings scheiden lassen.

-) bezüglich seines Alltages in Österreich, wonach er über Freunde verfügen würde und acht Monate hindurch einen Bildungskurs täglich bis 11 Uhr besucht habe. Anschließend sei der Beschwerdeführer nach Hause gekommen, hätte dort gegessen und sei dann ins Fitnessstudio gegangen. Er beherrsche mittlerweile die deutsche Sprache ganz gut.

-) bezüglich des sich vorher ereigneten Vorfalles im Eingangsbereich, dass er sein Kind schon lange nicht mehr gesehen habe, da zwischenzeitlich ein Betretungsverbot verhängt worden sei. Als der Genannte seinen Sohn gesehen habe, hätte er diesen umarmen wollen aber seine Frau und sein Schwager hätten ihn mit dem Ellenbogen zurückgestoßen. Er habe sie gefragt, warum sie das täten und ihnen angekündigt, dass er sich beim Richter beschweren werde. Der Genannte hätte eigentlich gar keine Probleme mit seiner Ehefrau, er liebe sie vielmehr noch immer. Im gemeinsamen Heimatland Afghanistan sei es üblich, dass die Eltern die Ehepartner aussuchen würden, aber seine Cousine habe ihn von Anfang an nicht geliebt und wolle sich jetzt von ihm trennen. Zwar hätte er das akzeptiert und lasse sie auch gehen, verstehe aber dennoch nicht, warum sie einen Anwalt beauftrage und Lügen über ihn verbreite.

-) bezüglich seiner strafrechtlichen Verurteilung, demzufolge diese aus einem Streit in der Unterkunft resultieren würde.

-) bezüglich seiner Befürchtungen im Falle einer Rückkehr, dass die Eltern seiner Ehefrau von ihrer Trennung wüssten. Ihr Vater sei Kommandant und werde ihn bedrohen. Mangels Kenntnis über die wahren Hintergründe würden diese die alleinige Schuld bei ihm suchen. Der Beschwerdeführer habe zudem sein ganzes Hab und Gut verkauft, um ins Bundesgebiet zu gegangen. In seinem Herkunftsland gebe es nichts mehr. Auch könne der Genannte unmöglich ohne seinen Sohn zurückkehren. Wenn man ihn abschiebe, dann nur gemeinsam mit seinem Kind. Alternativ wäre er dazu bereit, nach XXXX zu ziehen, damit es zu keinen Problemen mit seinem Kind mehr kommen könne. Er wolle nur in der Nähe seines Sohnes bleiben, um ihn sehen zu können.

Der BF legte folgende Bestätigung vor: Kursbesuchsbestätigung des BfI „Start WIEN, Integration ab Tag 1“ des über den Besuch des BF vom 11.09.2017 bis 26.06.2018 über den Kurs Basisbildung Deutsch A2.

10. Mit Bescheid vom 21.09.2018 - zugestellt am 02.10.2018 - wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 ab (Spruchpunkt I).

Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.) und ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.).

Gemäß § 10 Absatz 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.) gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.).

Gemäß § 18 Absatz 1 Z 2 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. Nr. 87/2012, (BFA-VG) idgF, erkannte die belangte Behörde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt VII) und erließ gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Z 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VIII.).

Begründend führte das BFA zusammengefasst aus, demzufolge die Identität des Beschwerdeführers mangels vorgebrachter Personendokumente mit Lichtbild nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden hätte können, er aber jedenfalls Staatsangehöriger der islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der SAID (HAZARA) sei und sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam bekenne. Volljährig, gesund und im arbeitsfähigen Alter leide der Genannte auch an keinerlei Krankheiten. Die Einreise ins Bundesgebiet sei unrechtmäßig erfolgt und habe der Beschwerdeführer in weiterer Folge am 01.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Traditionell verheiratet, wolle seine Frau aktuell die Scheidung einreichen. Sie hätten einen gemeinsamen Sohn, der bei der Kindesmutter lebe. Der Beschwerdeführer selbst stamme aus XXXX , sei in Afghanistan geboren und aufgewachsen, seine Eltern und Schwestern lebten in XXXX ; er verfüge somit, zusammengefasst, über ausreichenden familiären Rückhalt. Der Genannte habe sich in Afghanistan seinen Lebensunterhalt sichern können, indem er in der Landwirtschaft tätig gewesen sei und verfüge über eine mehrjährige Schulbildung. Darüber hinaus hätten keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Heimatland festgestellt werden können.

In Österreich sei der Beschwerdeführer bereits einmal rechtskräftig vom BG JOSEFSTADT am 11.04.2018 gemäß §§ 125, 83 (1) und 218 (1a) StGB rechtskräftig mit 17.04.2018 verurteilt worden, konkret zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Monaten bedingt, auf eine Probezeit von drei Jahren, Die letzte Tat datiere vom 05.08.2017.

Zu den Fluchtgründen führte das BFA im Wesentlichen aus, wonach es dem BF nicht gelungen sei, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen, auf Grund dessen habe nicht festgestellt werden können, dass er Afghanistan aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen habe.

Die belangte Behörde führte weiter zu seiner Situation im Falle einer Rückkehr aus, demzufolge der BF an keiner lebensbedrohlichen Krankheit leiden würde, welche ein Rückkehrhindernis darstellen könne, er „über die Kenntnisse in Lesen als auch Schreiben“ verfügte und sich in arbeitsfähigem Alter befände. Es sei ihm daher zuzumuten, sich mit Hilfe der eigenen Arbeitsleistung und der Unterstützung von Angehörigen den Lebensunterhalt in Afghanistan zu sichern. Hinderungsgründe hätten sich im gegenständlichen Verfahren nicht ergeben. Ihm stünde eine innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in der Stadt KABUL zur Verfügung. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Stadt KABUL – welche er sicher erreichen könne – liefe der Genannte zudem nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können und in eine aussichtslose Lage zu geraten oder in eine Notlage entsprechend Art. 2 bzw. Art. 3 EMRK.

Die belangte Behörde führte danach weiter zu seinem Privat- und Familienlaben aus, dass seine Lebensgefährtin sowie sein Sohn bereits einen Asylstatus in Österreich erhalten hätten. Da der BF die Kindesmutter mit einem Messer bedroht habe, sei am 07.11.2017 ein Betretungsverbot gegen ihn ausgesprochen worden. Es stehe zudem fest, dass er nicht im gemeinsamen Haushalt mit seiner Lebensgefährtin leben würde. Der Beschwerdeführer sei erst kurz (01.11.2015) im Bundesgebiet aufhältig und zuvor unrechtmäßig eingereist. Seine Deutschkenntnisse entsprächen lediglich der elementaren Sprachanwendung. Weder sei der Genannte Mitglied eines Vereines noch einer Organisation im Bundesgebiet. Ebensowenig könne in casu von einer Selbsterhaltungsfähigkeit ausgegangen werden und lebe der Beschwerdeführer ausschließlich von Leistungen der Grundversorgung. Weder verfüge selbiger über eine verbindliche berufliche Einstellungszusage noch hätten substantielle Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden können.

Zu den Gründen für die Erlassung eines Einreiseverbotes führte die belangte Behörde aus, wonach der BF in Österreich bereits gerichtlich verurteilt worden sei und aus dem Urteil eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit abgeleitet werden könne.

Zur Lage im Herkunftsstaat verwies die belangte Behörde auf das LIB-Afghanistan, letzte KI vom 11.09.2018.

Die Entscheidung die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung betreffend stützte die belangte Behörde in ihrer rechtlichen Beurteilung darauf, dass der Beschwerdeführer gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Da seinem Antrag auf internationalen Schutz keine Aussicht auf Erfolg beschieden sei und ihm auch keine sonstige reale und menschenrechtsrelevante Gefahr im Herkunftsstaat drohe, wäre es ihm durchaus zumutbar, den Ausgang seines Asylverfahrens im Herkunftsstaat abzuwarten. Sein Interesse an einem Verbleib in Österreich während des gesamten Asylverfahrens trete hinter das Interesse Österreichs auf eine rasche und effektive Durchsetzung der Rückkehrentscheidung zurück. Der Beschwerdeführer sei in Österreich bereits gerichtlich verurteilt worden. Dieser Umstand rechtfertige die Annahme, dass er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstelle.

Im Rahmen der Beweiswürdigung verwies die belangte Behörde zudem darauf, demzufolge sein Verhalten gegenüber seiner Gattin – mit Verweis auf einen Vorfall unmittelbar vor der zweiten Einvernahme am 04.07.2018 (siehe oben unter Punkt 9.) - sowie seiner Missachtung der Österreichischen Gesetze die Behörde davon ausginge, dass ein weiterer Verbleib des BF eine Gefahr für die Öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle und verwies weiters auf ihre Beweiswürdigung für die Erlassung eines Einreiseverbotes. An selbiger Stelle führte die Erstinstanz die den Verurteilungen zugrunde gelegten Sachverhalte im Detail aus, verwies auf die im Rahmen der Wegweisung von der Wohnung seiner Frau von dieser ins Treffen geführten gefährlichen Drohung und konstatierte eine „negative Zukunftsprognose“.

11. Mit Verfahrensanordnungen vom 24.09.2018, zugestellt am 02.10.2018, wurde dem BF als Rechtsberater der Verein Menschenrechte Österreich amtswegig zur Seite gestellt und ihm ein verpflichtendes Rückkehrberatungsgespräch aufgetragen.

12. Gegen den Bescheid vom 21.09.2018 richtete sich die am 23.10.2018 fristgerecht erhobene Beschwerde, mit der der Bescheid zur Gänze angefochten wurde und auch explizit die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt wurde. Dies wurde zwar in weiterer Folge nicht näher ausgeführt, allerdings allgemeine Angaben zur Glaubwürdigkeit des BF bzw. zur Unglaubwürdigkeit seiner Frau gemacht, wozu Unterlagen zu umfangreichen Sachverhalten im Zusammenhang mit einer angegebenen geschlechtlichen Beziehung der Frau des BF zum (Ex)freund einer Flüchtlingsbetreuerin und sich daraus ergebenden weiteren Verwicklungen einschließlich eines mittlerweile angeblich eingestellten Strafverfahrens gegen diese Flüchtlingsbetreuerin, beigelegt wurden. Die strafrechtlichen Verfehlungen des BF wurden mit Hinweis auf seinen Alkoholabusus infolge des Verhaltens seiner Frau erklärt, dass er sich nicht mehr kontrollieren habe können und er sein unüberlegtes Handeln sehr bereue.

12. Mit Schreiben vom 24.10.2018, eingelangt am 29.10.2018, legte das BFA den gegenständlichen Verfahrensakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

13. In weiterer Folge wurde mit Teilerkenntnis des BVwG vom 02.11.2018, Zl. W150 2208446-1/OZE, der Beschwerde gegen Spruchpinkt VII. des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl stattgegeben und der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

14. Das BVwG führte am 27.03.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher sich der Beschwerdeführer in Begleitung seines rechtsfreundlichen Vertreters persönlich beteiligte.

Gleich zu Beginn der Befragung durch den verhandlungsleitenden Richter zog der Genannte über seinen Anwalt seine Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des erstinstanzlichen Bescheides zurück, weshalb sich in weiterer Folge eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex erübrigte.

Wenngleich wenige Wochen zuvor aufgrund eines Leistenbruchs in fachärztlicher Behandlung bejahte der Genannte seine uneingeschränkte psychische und physische Einvernahmefähigkeit.

Im Vergleich zu seinem Vorleben in Afghanistan habe der Beschwerdeführer im Bundesgebiet seine Lebensführung in einigen Punkten adaptiert; so hätte dieser beispielsweise in seinem Herkunftsland keinerlei Alkohol konsumiert, in Österreich hingegen „übermäßig viel (Seite 5 der Niederschrift vom 27.03.2019).“

Neben seiner Gattin und dem gemeinsamen Sohn lebe such noch eine Tante väterlicherseits im Bundesgebiet. Des Weiteren befänden sich ein Bruder sowie weitere nicht näher definierte Verwandte in Deutschland, jedoch bestehe zu diesen keinerlei Kontakt.

Abgesehen vom lediglich ein Jahr umfassenden Unterricht zuhause verfüge der Genannte über keinerlei Schul- oder Berufsausbildung. Folgerichtig habe dieser vor seiner Ausreise lediglich im Hilfsarbeitersegment gearbeitet. Seit seiner Einreise hätte er jedoch mehreren Asylwerbern die Haare geschnitten, weshalb er sich nunmehr auch auf diesem Gebiet spezialisieren wolle.

Anlässlich seiner Befragungen vor der belangten Behörde sei der Beschwerdeführer laut eigenen Angaben „belastet und gestresst (Seite 6 der Niederschrift vom 27.03.2019)“ gewesen.

Seine Ausreise mit Frau und Kind wäre schlepperunterstützt auf illegalem Wege erfolgt.

Seine nach traditionellem Ritus geehelichte Cousine sei mittlerweile geschieden und dürfe er seinen Sohn seit eineinhalb Jahren nicht mehr sehen. „Die Polizei hat die Wegweisung ausgesprochen (Seite 10 der Niederschrift vom 27.03.2019).“

Die zwei strafrechtlich relevanten Vorfälle respektive rechtskräftigen Verurteilungen seiner Person wären unmittelbares Resultat vorangegangenen übermäßigen Alkoholkonsums. Demgegenüber sei der Genannte in Afghanistan gänzlich unbescholten.

Weder habe sich der Beschwerdeführer je einer politischen Gruppierung angeschlossen noch sei er zu irgendeinem Zeitpunkt von der Polizei seines Heimatlandes gesucht worden.

In Österreich verbringe er seine Zeit mit sportlichen Aktivitäten, konkret in einem Fitnessclub und mit Boxen. Zudem hätte der Genannte auch schon unentgeltlich im Auftrag der Stadt WIEN im Bundesgebiet Müll weggeräumt und saubergemacht. Auch im Rahmen des ARBEITER SAMARITERBUNDS hätte er schon „ausgeholfen“.

Die einstweilige Verfügung in Bezug auf seinen Kontakt mit dem Sohn würde demnächst auflaufen und sei bislang noch keine Verlängerung des selbigen beantragt worden. Im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland fürchte sich der Genannte primär vor seinem Schwiegervater, „der es als Schande empfindet, dass ich von seiner Tochter getrennt bin (Seite 18 der Niederschrift vom 27.03.2019).“

15. Am 01.09.2020 stellte der BF im Wege seines rechtfreundlichen Vertreters einen Fristsetzungsantrag an den VwGH.

16. Am 23.09.2020 wurde dem BF Parteiengehör zu den oben unter Punkt 14 und 15. Ausgeführten Anzeigen, bzw. Strafverfügungen, eingeräumt sowie ihm die Behebung eines Formgebrechens bezüglich des Fristsetzungsantrages unter Fristsetzung aufgetragen.

17. Mit Schriftsatz vom 01.10.2020 übermittelte der Genannte im Rahmen des ihm eingeräumten Parteiengehörs über seinen rechtsfreundlichen Vertreter eine Stellungnahme, in welcher der Beschwerdeführer seinen Unmut über die Verfahrensführung im gegenständlichen Rechtsgang artikuliert. Zudem fühle er sich in seiner Eigenschaft als Ausländer respektive Afghane in Österreich schlecht behandelt. Zu dem Vorfall vom 12.01.2019 (Aggressives Verhalten) führte er darin aus, dass er vermutlich wegen seines Aussehens angehalten wurde, zwei Chefinspektoren in Zivil hätten ihn zur Ausweisleistung aufgefordert. Er könne sich konkret an diesen Vorfall nicht mehr genau erinnern, denn er werde sehr oft kontrolliert, er bezweifle jedoch, dass er eine Boxerstellung eingenommen habe. Das Ermittlungsverfahren gegen seine Person im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Körperverletzung wäre mittlerweile vom zuständigen Staatsanwalt offiziell eingestellt worden, wie auch aus jener dem Schriftsatz angeschlossenen Bestätigung der StA-Wien vom 01.10.2020, GZ. 141 BAZ 24/20m – 1, zweifelsfrei hervorgehen würde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer, dessen Identität in Ermangelung unbedenklicher Urkunden nicht positiv festgestellt werden kann, ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der HAZARA, führt den Namen XXXX und ist am XXXX 1991 geboren. Seine Muttersprache ist DARI. Konfessionell dem schiitischen Islam zugehörig, ist der Rechtsmittelwerber geschieden und Vater eines minderjährigen Sohnes, von dem er bereits seit geraumer Zeit getrennt lebt – eine einstweilige Verfügung untersagte ihm den direkten Kontakt zu seinem Kind. Nach seiner knapp einjährigen Heimunterrichtsbildung verrichtete der Genannte in seinem Herkunftsland ausschließlich Hilfsarbeitertätigkeiten. Bis zu seiner Ausreise hat er mit seiner Kernfamilie (Frau und Kind) im gleichen Haushalt gewohnt. Der Beschwerdeführer verfügt im Heimatland über familiäre Anknüpfungspunkte zumindest in Form beider Eltern und diverser weiterer Verwandte. Uneingeschränkt gesund und arbeitsfähig, sind keine Hinweise auf lebensbedrohende oder schwerwiegende Krankheiten des Asylwerbers im Verfahren hervorgetreten und wurden solche auch nicht behauptet.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Rechtsmittelwerber ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und hält sich zumindest seit dem 01.11.2015 durchgehend in Österreich auf. Aktuell verfügt der Genannte über einfache Kenntnisse der deutschen Sprache, die ihm die Kommunikation über Dinge des täglichen Lebens rudimentär ermöglichen. Offiziell hat der Antragsteller das Sprach-Niveau A2 erreicht, wobei dieser derzeit keiner legalen Beschäftigung nachgeht.

Im österreichischen Bundesgebiet verfügt der Asylwerber an Kernfamilienmitglieder in Form seiner getrennt lebenden geschiedenen Gattin und dem gemeinsamen minderjährigen Sohn; an entfernten Verwandten lebt eine Tante in Österreich, wobei der Kontakt zu diesen als ausgesprochen lose bezeichnet werden muss.

Seine Zeit in Österreich verbringt der Genannte vorwiegend mit sportlichen Aktivitäten und sozialen Kontakten.

Zum Entscheidungszeitpunkt weist der Genannte eine rechtskräftige Verurteilung des BG Josefstadt vom 11.04.2018 gemäß §§ 125, 83 (1) und 218 (1a) StGB auf, wobei eine bedingte Freiheitsstrafe von vier Monaten auf eine Probezeit von drei Jahren verhängt worden ist.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Das Begehren auf Zuerkennung des Asylstatus, wie im Jahr 2015 gestellt und beim BVwG historisch verfahrensgegenständlich, ist durch die Beschwerderückziehung zu Spruchpunkt I. des angefochtenen erstinstanzlichen Bescheids anlässlich der Rechtsmittelverhandlung vom 27.03.2019 rechtskräftig negativ finalisiert und somit nicht länger Gegenstand des laufenden Verfahrens. Daher erübrigt es sich, hier auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Fluchtgründen auf Seiten des BF näher einzugehen.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Antragstellers in den Herkunftsstaat

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan kann der Rechtsmittelwerber grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen. Aufgrund der aktuell grassierenden COVID-19-Epedemie kann jedoch nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, dass er nicht in seinem Heimatland in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten könnte. Im Falle einer Verbringung des Genannten in seinen Herkunftsstaat droht diesem daher allenfalls ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Diese Einschätzung basiert nicht zuletzt auf die in der nachstehenden Länderinformation beschriebenen Kapazitätsauslastung der medizinischen Infrastruktur in Afghanistan, welche im Falle eines weiteren Anstiegs an Neuinfektionen zu unabsehbaren Folgen für die Bevölkerung – unabhängig von ihrer konkreten Zugehörigkeit zu einer der bisher bekannten Risikogruppen – führen kann.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Unter Bezugnahme auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan idF vom 18.05.2020 werden folgende entscheidungsrelevante, die Person des Beschwerdeführers individuell betreffende Feststellungen zur Lage in Afghanistan getroffen:

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

Kabul

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).

Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).

Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).

In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).

Die afghanischen Sicherheitskräfte führten insbesondere im Distrikt Surubi militärische Operationen aus der Luft und am Boden durch, bei denen Aufständische getötet wurden (KP 27.3.2019; vgl. TN 26.3.2019, SAS 26.3.2019, TN 23.10.2018,. KP 23.10.2018, KP 9.7.2018). Dabei kam es unter anderem zu zivilen Opfern (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Außerdem führten NDS-Einheiten Operationen in und um Kabul-Stadt durch (TN 7.8.2019; vgl. PAJ 7.7.2019, TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019). Dabei wurden unter anderem Aufständische getötet (TN 7.8.2019) und verhaftet (TN 7.8.2019; PAJ 7.7.2019; vgl TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019), sowie Waffen und Sprengsätze konfisziert (TN 9.6.2019; vgl. PAJ 28.5.2019).

Balkh

Letzte Änderung: 22.4.2020

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).

Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 6.5.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.3.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.8.2019). Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 1.2.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.2.2019).

Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.9.2018).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (UNAMA 2.2020).

Im Winter 2018/2019 (UNGASC 28.2.2019) und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt (UNGASC 14.6.2019). Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäig Operationen in der Provinz (RFERL 22.9.2019; vgl KP 29.8.2019, KP 31.8.2019, KP 9.9.2019) unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch (BAMF 14.1.2019; vgl. KP 9.9.2019). Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak (TN 9.1.2019; vgl. TN 10.1.2019), Chemtal (TN 11.9.2018; vgl. TN 6.7.2018), Dawlatabad (PAJ 3.9.2018; vgl. RFE/RL 4.9.2018) und Nahri Shahi (ACCORD 30.4.2019) an.

Berichten zufolge, errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert (TN 22.8.2019; vgl. 10.8.2019). Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (TN 10.8.2019).

Herat

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA 4.2014). Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh (AAN 9.12.2018; vgl. PAJ o.D., PAJ 13.6.2019), Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere „temporäre“ Distrikte – Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko (CSO 2019; vgl. IEC 2018) –, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (CSO 2019). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ o.D.).

Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (iMMAP 19.9.2017). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in Herat im Vergleich zu 2017 um 46%. Die wichtigsten Anbaugebiete für Schlafmohn waren im Jahr 2018 die Distrikte Kushk und Shindand (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen (KP 19.5.2019; vgl. KP 17.12.2018). Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul (BFA Staa

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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