TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/20 W251 2209290-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.10.2020
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Entscheidungsdatum

20.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W251 2209290-1/13E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 12.06.2020 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Angelika Senft als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch MigrantInnen Verein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.10.2018, Zl. 1158216100-170761386, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 AsylG als unbegründet abgewiesen.

II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird der Beschwerdeführerin eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 12.06.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine weibliche Staatsangehörige Somalias, stellte am 28.06.2017 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am nächsten Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführerin statt. Dabei gab sie zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass ihr Vater sie mit einem alten, ca. 70jährigen Mann verheiratet habe und er dafür viel Geld bekommen habe. Sie habe mit diesem Mann zwei Söhne. Von diesem Mann sei sie geschieden und sie habe einen anderen, 24jährigen Mann geheiratet. Sie sei von ihrem Ex-Gatten geschlagen worden und habe auch von ihren Eltern keine Unterstützung erhalten. Sie habe Angst, dass ihr Ex-Gatte sie töten werde. Zudem gehöre ihr jetziger Gatte der Volksgruppe Gabooye an und er werde von der Familie der Beschwerdeführerin nicht akzeptiert. Ihre Kinder aus erster Ehe seien bei einer guten Freundin der Beschwerdeführerin in Somalia. Nach ihren Rückkehrbefürchtungen befragt gab die Beschwerdeführerin an, dass sie fürchte, von ihrem Ex-Gatten und ihren Eltern getötet zu werden.

3. Am 05.02.2018 fand die erste niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt. Dabei gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, dass ihr Exmann sie in Somalia verfolgen würde, weil sie diesen während seines Aufenthalts in Kenia mit ihrem jetzigen Mann betrogen hätte. Ihr Exmann habe sie mehrmals geschlagen und zu Sexualverkehr gezwungen. Ihr jetziger Mann werde auch von ihrem Exmann verfolgt, zudem gehöre er den Gabooye an und werde deswegen von der Familie der Beschwerdeführerin nicht akzeptiert. Die beiden Kinder der Beschwerdeführerin, deren Vater ihr Exmann ist, würden bei einer Freundin der Beschwerdeführerin leben.

4. Am 27.08.2018 wurde die Beschwerdeführerin ein weiteres Mal beim Bundesamt niederschriftlich einvernommen.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.) und erteilt der Beschwerdeführerin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführerin wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das Bundesamt aus, dass die Beschwerdeführerin ihr Fluchtvorbringen nicht schlüssig und plausibel schildern konnte und sie als Person unglaubwürdig gewesen sei. Ihr Fluchtvorbringen wurde als konstruiert erachtet weswegen nicht von einer Verfolgung der Beschwerdeführerin in Somalia ausgegangen wurde. Die Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Somalia wurde als zumutbar erachtet, aus ihrer allgemeinen Situation sei nicht ersichtlich gewesen, dass ihr im Fall einer Rückkehr eine unmenschliche Behandlung oder eine insbesondere in Mogadischu vorliegende Gefährdungslage drohen würde. Zudem stelle die Rückkehr der Beschwerdeführerin keine Verletzung der Art. 8 EMRK dar, da keine Verfestigungs- oder Integrationstatbestände verwirklicht seien.

6. Die Beschwerdeführerin erhob gegen den Bescheid firstgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass ihr Vorbringen nur mit kleinen Widersprüchlichkeiten behaftet sei, die ihre persönliche Glaubwürdigkeit nicht zur Gänze in Frage stellen könnten. Ihr drohe in Somalia die Todesstrafe, zudem sei ihr Verhalten gesellschaftlich nicht geduldet. Sie habe Todesangst vor ihrem Ehegatten und habe auch Angst, gesteinigt zu werden. Ihr drohe Verfolgung aufgrund der gesellschaftlichen und gesetzlichen Situation in Somalia. Zudem gehöre sie als alleinstehende Frau der besonders benachteiligten sozialen Gruppe der Frauen an und sie würde in einem IDP-Camp landen. Eine Rückkehr sei ihr auch aufgrund der vorherrschenden Dürre und der prophezeiten Überschwemmungen nicht zumutbar.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.06.2020 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die somalische Sprache und im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin eine mündliche Verhandlung durch. Nach Schluss der Verhandlung verkündete die erkennende Richterin mündlich gemäß § 29 Abs 2 VwGVG das Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen und erteilte Rechtsmittelbelehrung.

8. Mit Schriftsatz vom 16.06.2020 beantragte die Beschwerdeführerin die schriftliche Ausfertigung des am 12.06.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

1.1.1. Die Beschwerdeführerin führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist somalische Staatsangehörige, Angehörige des Clans der Scheikhal, Sub-Clan XXXX , Sub-Sub-Clan XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Sie spricht Somali als Muttersprache (AS 5, AS 42 - 43, Verhandlungsprotokoll vom 12.06.2020 = VP S. 7). An der Beschwerdeführerin wurde in Somalia eine Genitalbeschneidung durchgeführt (VP S. 4).

Die Beschwerdeführerin wurde in Balcad in Middle Shabelle geboren. Sie ist dort aufgewachsen und hat bis kurz vor ihrer Ausreise dort gelebt (AS 5, AS 9, AS 42, AS 127, VP S. 7-8). Vom 21.12.2016 bis zum 11.02.2017 hat sie in Mogadischu gelebt (VP S. 8).

Die Beschwerdeführerin hat in Balcad gemeinsam mit ihren Eltern und ihren elf Geschwistern (acht Brüder und drei Schwestern) in einem Wellblechhaus gelebt. Das Wellblechhaus sowie das Grundstück auf dem es stand, hat dem Vater der Beschwerdeführerin gehört (AS 94, VP S. 10). Die Beschwerdeführerin besuchte fünf Jahre eine private Koranschule, für die ihre Eltern bezahlten (AS 42, VP S. 8). Die Beschwerdeführerin hat keine Berufsausbildung und hat keine Arbeitserfahrung (AS 5).

Im Jahr 2012 heiratete die Beschwerdeführerin traditionell. Nachdem sie traditionell geheiratet hat, lebte sie mit ihrem Ehemann im gemeinsamen Haushalt (AS 48, VP S. 8). Dieser Ehe entstammen zwei Söhne, die 2013 und 2014 zur Welt kamen. Die Kinder der Beschwerdeführerin wurden in Balcad geboren. (AS 43, VP S. 8). Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann haben sich im Jahr 2016 einvernehmlich getrennt. Die Kinder leben jetzt bei einer Freundin der Beschwerdeführerin (AS 43, VP S. 8).

Die Beschwerdeführerin hat kein zweites Mal traditionell geheiratet.

Für den Lebensunterhalt der Beschwerdeführerin hat zunächst ihre Familie und nach ihrer Heirat ihr Exmann gesorgt (AS 47, VP S. 8, VP S. 10).

Die Beschwerdeführerin reiste am 11.02.2017 aus Somalia aus (AS 46, VP S. 9 und S. 13). Die Beschwerdeführerin ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellte am 28.06.2017 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.2. Die Eltern sowie acht Brüder und zwei Schwestern der Beschwerdeführerin leben nach wie vor in Balcad in Somalia (VP S. 9). Sechs Geschwister der Beschwerdeführerin sind minderjährig (AS 9, AS, AS 129). Die beiden Söhne der Beschwerdeführerin leben bei ihrer Freundin, die sie bei sich aufgenommen hat (AS 47). Die Mutter der Beschwerdeführerin hat nicht gearbeitet (VP S. 9). Es konnte nicht festgestellt werden, welcher Arbeit der Vater und einer der Brüder der Beschwerdeführerin genau nachgehen. Die wirtschaftliche Lage der Familie der Beschwerdeführerin ist derzeit schlecht (VP S. 9-10).

Eine Schwester der Beschwerdeführerin lebt in Österreich und ist asylberechtigt (AS 141). Sie ist arbeitslos und bezieht Mindestsicherung (AS 151, VP S. 12).

Die Beschwerdeführerin hat eine Tante väterlicherseits und zwei Onkel väterlicherseits. Zudem hat sie einen Onkel mütterlicherseits, der der Halbbruder ihrer Mutter ist (AS 136, VP S. 10). Die Verwandten ihres Vaters haben in Somalia in einem kleinen Dorf gelebt und als Tierzüchter gearbeitet (VP S. 10).

Die Beschwerdeführerin hat Kontakt zu ihrer Freundin und zu ihren beiden Söhnen. Sie steht auch zu ihren übrigen Familienmitgliedern in Kontakt.

1.1.3. Die Beschwerdeführerin leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten (AS 94, VP S. 4). Sie ist arbeitsfähig (VP S. 11). Sie gehört keiner COVID-19 Risikogruppe an und weißt diesbezüglich auch keine Dispositionen auf.

Sie ist in psychiatrischer Behandlung. Es wurde bei der Beschwerdeführerin eine anhaltende Persönlichkeitsänderung nach schwerer Traumatisierung, eine Anpassungsstörung und eine generalisierte Angststörung diagnostiziert. Die Beschwerdeführerin muss Medikamente einnehmen (Beilage ./B).

1.1.4. Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

Das von der Beschwerdeführerin ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Die Beschwerdeführerin wurde mit ihrem ersten Ehemann nicht unter Zwang verheiratet. Die Beschwerdeführerin wurde von ihrem ersten Exmann nicht körperlich misshandelt oder vergewaltigt. Die Beschwerdeführerin hat keine außereheliche Beziehung geführt. Ihr Exmann und sie haben sich auseinandergelebt und sich einvernehmlich getrennt.

Die Beschwerdeführerin hat kein zweites Mal geheiratet. Sie hatte keine weitere Beziehung in Somalia. Sie hat kein Kind aus einer Beziehung zu einem Angehörigen eines Minderheitenclans erwartet. Der Vorfall, wonach ihr Exmann sie derart geschlagen habe, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hätte, hat sich nicht ereignet.

Die Beschwerdeführerin wurde von ihrem Exmann nicht mit dem Tod bedroht, von diesem angegriffen, misshandelt oder geschlagen.

Die Beschwerdeführerin wird in Somalia nicht von ihrer Familie verfolgt. Es gab in der Familie der Beschwerdeführerin keine Fälle häuslicher Gewalt gegen die Beschwerdeführerin. Sie wurde von ihren Verwandten weder geschlagen noch bedroht.

Der Beschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Somalia weder eine Steinigung noch die Todesstrafe. Sie wird auch nicht gesellschaftlich verfolgt. Ihr droht auch keine Verfolgung durch die Al Shabaab oder andere Personen. Die Beschwerdeführerin wurde weder verdächtigt noch wurde ihr jemals vorgeworfen, dass sie gegen die Scharia oder gegen gesellschaftliche Konventionen verstoßen habe.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin im Alter von 10 Jahren vergewaltigt wurde.

Die Beschwerdeführerin hat Somalia weder aus Furcht vor Eingriffen in ihre körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Im Falle der Rückkehr nach Somalia droht der Beschwerdeführerin weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in die körperliche Integrität durch ihren Exmann, ihre Familienangehörigen, die Al Shabaab oder andere Personen.

1.2.2. Die Beschwerdeführerin ist in Somalia allein aufgrund ihres Geschlechts keiner Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt.

Die Beschwerdeführerin ist in Somalia allein aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit keiner Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt.

Die Beschwerdeführerin verfügt in Somalia über Familienangehörige, sodass sie über ein soziales und familiäres Netzwerk verfügt. Sie hat männliche Familienmitglieder in Form ihres Vaters, ihrer Onkel und ihrer acht Brüder, die ihr Schutz bieten. Sie kann auch von ihrem Clan Schutz erhalten.

Der Beschwerdeführerin droht keine sexuelle Ausbeutung durch die Al Shabaab oder durch andere Personen. Ihr droht auch keine Zwangsheirat in Somalia.

1.2.3. Die Beschwerdeführerin hat keinen auf Eigenständigkeit bedachten Lebensstil verinnerlicht, der bei einer Rückkehr nach Somalia einen nachhaltigen und wesentlichen Bruch mit den dortigen Gepflogenheiten und Sitten darstellen würde.

Der Beschwerdeführerin droht aufgrund ihres in Österreich ausgeübten Lebensstils in Somalia weder Lebensgefahr noch psychische oder physische Gewalt.

Der Beschwerdeführerin ist es möglich, sich in das somalische Gesellschaftssystem zu integrieren.

1.2.4. Die Beschwerdeführerin ist in Somalia aufgrund der bereits durchgeführten Genitalbeschneidung weder einer Lebensgefahr noch psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt.

Beschnittenen Frauen droht in Somalia aufgrund dieses Merkmals kein Eingriff in ihre körperliche Integrität oder Verfolgung. Der Beschwerdeführerin droht in Somalia auch kein Risiko einer Reinfibulation (Wiederverschließung).

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführerin in den Herkunftsstaat:

Die Beschwerdeführerin stammt aus Balcad. Balcad steht unter Kontrolle der Regierung und ist daher ausreichend sicher. Die Familie der Beschwerdeführerin lebt noch in Balcad. Die Beschwerdeführerin könnte dort von ihrer Familie und ihrem Clan Schutz bekommen.

Balcad ist jedoch erheblich von der Nahrungsmittelunsicherheit betroffen (IPC-Stufe 3 – crisis).

Die Beschwerdeführerin ist in Somalia aufgewachsen und mit der somalischen Kultur und den somalischen Gepflogenheiten sozialisiert. Sie spricht Somalisch als Muttersprache. Sie hat 5 Jahre lang eine Koranschule besucht. Sie leidet jedoch an psychischen Beschwerden. Sie verfügt über keine Berufsausbildung oder über Berufserfahrung in Somalia. Sie wäre daher in Balcad auf eine ausreichende und nachhaltige Unterstützung ihrer Familie angewiesen. Die Familie lebt jedoch unter ärmlichen Verhältnissen und muss bereits eine Vielzahl an minderjährigen Kindern versorgen. Die Familie der Beschwerdeführerin ist daher selber erheblich von der Nahrungsmittelunsicherheit in Balcad betroffen.

Der Beschwerdeführerin ist es aufgrund der derzeit herrschenden Nahrungsmittelunsicherheit in Balcad nicht möglich sich selber ihren ausreichenden Lebensunterhalt zu sichern, zumal sie über keine Berufsausbildung und keine Berufserfahrung verfügt. Sie ist aufgrund der psychischen Beschwerden auch vulnerabel. Frauen in Somalia sind erheblicher von Arbeitslosigkeit und Anspannungen am Arbeitsmarkt betroffen.

Der Beschwerdeführerin droht bei einer Ansiedlung in Balcad aufgrund der dort herrschenden schlechten Versorgungslage ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit.

Die Sicherheitslage in Mogadischu ist ausreichend sicher. Mogadischu ist durch einen internationalen Flughafen sicher erreichbar. In Mogadischu sind Personen, die in IDP-Lagern leben erheblich von der Nahrungsmittelunsicherheit betroffen (IPC-Stuge 3 – crisis).

Die Beschwerdeführerin hat in Mogadischu – sowie in anderen Städten in Somalia – derzeit kein tragfähiges familiäres Netzwerk. Die Beschwerdeführerin müsste sich daher als alleinstehende Frau in Mogadischu oder in anderen großen Städten in einem IDP-Lager ansiedeln. Es ist der Beschwerdeführerin nicht möglich sich – ohne familiäres oder soziales Netzwerk – in Mogadischu oder in anderen Städten in Somalia anzusiedeln und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia vom 17.09.2018 (LIB),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Humanitäre Hilfe, Arbeitsmarkt, Versorgungslage in Mogadischu vom 11.05.2018 (Beilage ./III)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation - Alleinstehende Frauen, wohnen arbeiten vom 22.03.2018 (Anfragebeantwortung Frauen)

-        Focus Somalia, Clans und Minderheiten vom 31.05.2017 (Focus)

-        Analyse der Staatendokumentation betreffend Sheikhal vom 19.08.2011 (Sheikhal)

-        FSNAU - Somalia Food Security Outlook Februar bis September 2020 (FSNAU)

-        FEWSN

1.5.1. Politische Situation

Somalia ist faktisch zweigeteilt in die somalischen Bundesstaaten und Somaliland, einen selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird, aber als autonomer Staat mit eigener Armee und eigener Rechtsprechung funktioniert (LIB Kapitel 2)

Seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 war Süd-/Zentralsomalia immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen. Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. In vielen Bereichen handelt es sich bei Somalia um einen „indirekten Staat“, in welchem eine schwache Bundesregierung mit einer breiten Palette nicht-staatlicher Akteure (z.B. Clans, Milizen, Wirtschaftstreibende) verhandeln muss, um über beanspruchte Gebiete indirekt Einfluss ausüben zu können (LIB Kapitel 2)

Während im Norden bereits die Gliedstaaten Somaliland und Puntland etabliert waren, wurden im Rahmen eines international vermittelten Abkommens von 2013 bis 2016 die Bundesstaaten Jubaland, South West State (SWS), Galmudug und HirShabelle neu gegründet. Allerdings hat keine dieser Verwaltungen die volle Kontrolle über die ihr nominell unterstehenden Gebiete (LIB Kapitel 2).

Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clan-Balance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (LIB Kapitel 2).

1.5.2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage bleibt instabil und unvorhersagbar. Zwar ist es im Jahr 2018 im Vergleich zu 2017 zu weniger sicherheitsrelevanten Zwischenfällen und auch zu einer geringeren Zahl an Todesopfern gekommen, doch ist die Sicherheitslage weiterhin schlecht. Sie ist vom bewaffneten Konflikt zwischen AMISOM (African Union Mission in Somalia), somalischer Armee und alliierten Kräften auf der einen und al Shabaab auf der anderen Seite geprägt. Zusätzlich kommt es in ländlichen Gebieten zu Luftschlägen. Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen. Wer sich in Somalia aufhält, muss sich der Gefährdung durch Terroranschläge, Kampfhandlungen, Piraterie sowie kriminell motivierte Gewaltakte bewusst sein. Auch der Konflikt um Ressourcen (Land, Wasser etc.) führt regelmäßig zu Gewalt (LIB Kapitel 3).

Viele Städte stehen unter der Kontrolle somalischer Armee und AMISOM sowie der Regierung, wobei diese Städte oft vom Gebiet der Als Shabaab umgeben ist (LIB Kapitel 3).

1.5.3. Mogadischu:

Mogadischu bleibt weiterhin unter Kontrolle von Regierung. Die vormals für Verbesserungen in der Sicherheitslage verantwortliche Mogadishu Stabilization Mission (MSM) wurde nunmehr deaktiviert. Ihre Aufgaben wurden mittlerweile von der wesentlich verstärkten Polizei übernommen. Letztere wird von Armee, AMISOM und Polizeikontingenten von AMISOM unterstützt (LIB Kapitel 3.1.3.).

Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Al Shabaab wieder die Kontrolle über Mogadischu erlangt. Es gibt in der Stadt auch kein Risiko mehr, von der Al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden (LIB Kapitel 3.1.3.).

Die Al Shabaab ist in der Lage in weiten Teilen des Stadtgebiets Anschläge durchzuführen. Es kommt regelmäßig zu Sprengstoffanschlägen oder aber zu gezielten Tötungen. Üblicherweise zielt die Al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Offizielle, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung, Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und –Gebäude sowie Soldaten von Armee und AMISOM. Betroffen sind Regierungseinrichtungen, Restaurants und Hotels, die von nationalen und internationalen Offiziellen frequentiert werden. Für die Zivilbevölkerung ist das größte Risiko, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein oder mit der Regierung in Verbindung zu stehen oder von Al Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen zu werden (LIB Kapitel 3.1.3.). Die Situation in Mogadischu ist nicht derartig, dass jeder Mensch in der Stadt einem Risiko eines Eingriffs in die körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt wäre.

Nicht alle Teile von Mogadischu sind bezüglich Übergriffen von al Shabaab gleich unsicher. So sind z.B. jene Teile, in welche Rückkehrer siedeln (u.a. IDP-Lager) besser vor al Shabaab geschützt. IDP-Lager stellen für die Gruppe kein Ziel dar. Jedenfalls ist al Shabaab nahezu im gesamten Stadtgebiet in der Lage, verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben. Die meisten Anschläge richten sich gegen Villa Somalia, Mukarama Road, Bakara-Markt, die Flughafenstraße und Regierungseinrichtungen. Auch Dayniile ist stärker betroffen. Gebiete, die weiter als 10 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegen, werden teilweise von al Shabaab kontrolliert. Vor allem Dayniile, Yaqshiid und Heliwaa werden als unsichere Gebiete erachtet (LIB Kapitel 3.1.3.).

Es besteht kein Risiko, alleine aufgrund der eigenen Clanzugehörigkeit angegriffen zu werden. Trotzdem sind Clan und Clanzugehörigkeit in Mogadischu nach wie vor relevant (LIB Kapitel 3.1.3.).

In Mogadischu sind 28% der Bevölkerung arbeitssuchend. 6% der Jugendlichen sind arbeitssuchend (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 19). Es gibt in Mogadischu bessere Job-Aussichten als in den meisten anderen Teilen Somalias, auch für Jugendliche ohne Bildung und Arbeitserfahrung. Während in Somalia die meisten Menschen in der Landwirtschaft arbeiten, arbeiten in Mogadischu die meisten Menschen im Handel bzw. im Dienstleistungssektor oder in höheren bildungsabhängigen Berufen (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 21). Das Auswahlverfahren im Arbeitsleben basiert oft auf Clanbasis, gleichzeitig werden aber viele Arbeitsplätze an Rückkehrer aus der Diaspora vergeben. Es gibt auch Beschäftigungsmöglichkeiten, die von vielen Somaliern nicht in Anspruch genommen werden, da diese Arbeit als minderwertig erachtet wird, z.B. Friseur, Kellner oder Reinigungsarbeiten (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 22).

Die somalische Wirtschaft zeigt eine positive Entwicklung. Die Schaffung an Arbeitsplätzen bleibt jedoch unter den Bedürfnissen. Trotzdem gibt es in Mogadischu aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs zahlreiche Möglichkeiten. Das Durchschnittseinkommen für Jugendliche beträgt 190 USD im Monat. In Mogadischu beträgt das Durchschnittseinkommen 360 USD im Monat. Fast 10% der Jugendlichen in Mogadischu verdienen mehr als 400 USD im Monat (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 23-24).

Für Mogadischu selbst gilt die IPC-Stufe 2 (stressed); für IDP’s die IPC-Stufe 3 (crisis) (FSNAU; FEWSN).

Mogadischu ist über einen internationalen Flughafen sicher erreichbar (LIB Kapitel 19 und 23). Mogadischu verfügt über einige Gesundheitseinrichtungen, Spitäler und Kliniken (LIB Kapitel 22).

1.5.4. Al-Shabaab:

Ziel der Al Shabaab ist es, die somalische Regierung und ihre Alliierten aus Somalia zu vertreiben und in Groß- Somalia ein islamisches Regime zu installieren. Je höher der militärische Druck auf al Shabaab anwächst, je weniger Gebiete sie effektiv kontrollieren, desto mehr verlegt sich die Gruppe auf asymmetrische Kriegsführung (Entführungen, Anschläge, Checkpoints) und auf Drohungen. Dabei ist auch die Al Shabaab in ihrer Entscheidungsfindung nicht völlig frei. Die Gruppe unterliegt durch die zahlreichen Verbindungen z.B. zu lokalen Clan-Ältesten auch gewissen Einschränkungen (LIB Kapitel 3.1.6.).

1.5.5. Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates:

Im somalischen Kulturraum existieren drei Rechtsquellen: traditionelles Recht (Xeer), islamisches Schariarecht (v.a. für familiäre Angelegenheiten) sowie formelles Recht. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung. Staatlicher Schutz ist in Gebieten der al Shabaab nicht verfügbar. Der Clan-Schutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten (LIB Kapitel 4).

1.5.6. Clanstruktur:

In Somalia ist die Bevölkerung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans zersplittert, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeits-empfinden bestimmt. Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (LIB Kapitel 17.1.).

Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalier. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Dieses Identifikationsmerkmal bestimmt, welche Position eine Person oder Gruppe im politischen Diskurs oder auch in bewaffneten Auseinandersetzungen einnimmt. Darum kennen Somalier üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem. Allerdings gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LIB Kapitel 17.1). In Mogadischu und anderen großen Städten ist es daher nicht automatisch nachvollziehbar, welchem Clan eine Person angehört. Die (Clan-)Zusammensetzung der Bevölkerung von Mogadischu ist sehr heterogen. Dort können sich Angehörige jedes Clans niederlassen (LIB Kapitel 19).

Als "noble" Clanfamilien gelten die traditionell nomadischen Hawiye, Darod, Dir und Isaaq sowie die sesshaften Digil und Mirifle/Rahanweyn. Es ist nicht möglich, die genauen Zahlenverhältnisse der einzelnen Clans anzugeben. Hawiye, Darod, Isaaq und Digil/Mirifle stellen wohl je 20-25% der Gesamtbevölkerung, die Dir deutlich weniger. Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen mit nichtsomalischer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben (LIB Kapitel 17.1). Die Clanfamilien unterteilen sich weiter in die Ebenen der Clans, Sub(sub)clans, Lineages und die aus gesellschaftlicher Sicht bei den nomadischen Clans wichtigste Ebene, die sogenannte Mag/Diya (Blutgeld/Kompensation) zahlenden Gruppe (Jilib), die für Vergehen Einzelner gegen das traditionelle Gesetz (xeer) Verantwortung übernimmt (Focus, S. 8 f; LIB Kapitel 4).

Clanschutz bedeutet für eine Einzelperson die Möglichkeit vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Ein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Kompensation zu zahlen - oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind - insbesondere bei Kompensations-zahlungen (Mag/Diya). Generell - aber nicht überall - funktioniert Clanschutz besser als der Schutz durch Staat oder Polizei. Dementsprechend wenden sich viele Menschen bei Gewaltverbrechen eher an den Clan als an die Polizei. (LIB Kapitel 4).

Sheikhal

Die Ashraf und die Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Sheikhal beziehen ihren religiösen Status aus einem vererbten religiösen Status. Die Ashraf und die Sheikhal werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Die Sheikhal sind außerdem eng mit dem Clan der Hawiye/Hirab assoziiert (LIB Kapitel 17.4).

Irreführend bei der Definition des Status von Gruppen in Somalia ist immer wieder die Bezeichnung "Minderheit". Dieses in der westlichen Hemisphäre definierte Konstrukt ist im somalischen Kontext im Sinne einer ethnischen Minderheit nur beschränkt einsetzbar. Tatsächlich existieren zwar ethnische Unterschiede doch ist dies nur ein Indikator unter mehreren, welcher den Status einer Gruppe im Sozialsystem Somalias festlegt (Sheikhal, S.15). Die alleinige Zugehörigkeit zu einer Gruppe der "Sheikhal" bringt keine negative Konotation mit sich. Die Sheikhal Lobogi, welche mittlerweile universell als zu den Hawiye zugehörig erachtet werden, können sich auf allen drei Ebenen des Rechts (traditionell, islamisch, staatlich) wie jeder andere Somali bewegen. Als aktiv am Bürgerkrieg teilnehmend sind die Sheikhal als Gruppe auch nicht als schutzlos zu erachten (Sheikhal, S. 16).

Es kann nicht festgestellt werden, dass Angehörige der Sheikhal in Somalia allein aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind.


Minderheiten

Die berufsständischen Gruppen stehen auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie der somalischen Gesellschaft. Sie unterscheiden sich in ethnischer, sprachlicher und kultureller Hinsicht nicht von der Mehrheitsbevölkerung, sind aber traditionell in Berufen tätig, die von den Mehrheitsclans als "unrein" oder "unehrenhaft" angesehen werden. Diese Berufe und andere ihrer Praktiken (z.B. Fleischverzehr) gelten darüber hinaus als unislamisch (Focus, S. 14).

Die Clans der berufsständischen Gruppen sind gleich strukturiert wie die Mehrheitsclans, mit dem einzigen Unterschied, dass sie ihre Abstammung nicht auf die Gründerväter Samaale bzw. Saab zurückverfolgen können, sondern "nur" auf den "Vater" ihres Clans. Gleich wie die Mehrheitsclans haben das Aufzählen der Väter (Abtirsiimo) und die Zugehörigkeit zu einem Clan eine große Bedeutung (Focus, S. 15 f).

Für die Berufsgruppen gibt es zahlreiche somalische Bezeichnungen, bei denen regionale Unterschiede bestehen. Häufig genannt werden Waable, Sab, Madhibaan und Boon. Die landesweit geläufige Bezeichnung Midgaan ist negativ konnotiert (er bedeutet "unberührbar" oder "ausgestoßen") und wird von den Berufsgruppen-Angehörigen als Beleidigung empfunden; sie bevorzugen Begriffe wie Madhibaan oder Gabooye. Der Ausdruck Gabooye wird besonders im Norden des somalischen Kulturraums als Dachbegriff benutzt. Der Begriff umfasst nicht alle Berufsgruppen, aber zumindest vier untereinander nicht verwandte Clans berufsständischer Gruppen: Tumaal, Madhibaan, Muse Dheriyo und Yibir. Der Begriff Gabooye kann auch als Begriff für einen eigenen Clan der berufsständischen Gruppen unter vielen gebraucht werden. Ursprünglich bezeichnete Gabooye nur einen Clan aus dem Süden, dessen Angehörige sich als Jäger betätigten. Madhibaan sind ursprünglich Jäger, heute aber als Färber, Gerber, Schuhmacher und in anderen Berufen tätig. Sie leben im ganzen somalischen Kulturraum (Focus, S. 16 f).

Aufgrund der großen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Clans ist es auch heute für Somalier im somalischen Kulturraum essentiell und in der Diaspora zumindest nicht irrelevant, sich in diesem System verorten zu können (Focus, S. 20). Jüngere Somalier im urbanen Raum oder in der Diaspora sind heute häufig nur noch in der Lage, ihre Clanzugehörigkeit bis zur Stufe Sub-Clan sowie vier oder fünf Generationen im Abtirsiimo (Abstammungslinie) aufzuzählen. Es kommt aber selbst bei jungen Somalier in der Diaspora nicht vor, dass sie gar keine Ahnung von ihrem Clan und ihrem Abtirsiimo haben. Sogar wenn sie sich für das Clansystem nicht interessieren, können sie zumindest ihren Clan und Sub-Clan sowie den Abtirsiimo bis zum Urgroßvater nennen. Fast alle Somalier kennen zumindest ihren Clan-Ältesten (Focus, S. 24).

Aufgrund der wahrgenommenen Bevorzugung der berufsständischen Gruppen im Asylverfahren in westlichen Staaten sind andere Somalier dazu übergegangen, sich als Angehörige von Berufsgruppen auszugeben. Da andere Somalier aber im Durchschnitt gebildeter sind als die Angehörigen berufsständischer Gruppen, sind sie in der Lage, sich mehr Wissen über die berufsständischen Gruppen anzueignen, als diese selbst haben (Focus, S. 25).

Mischehen

In dieser Frage kommt es weiterhin zu einer gesellschaftlichen Diskriminierung, da Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen meist nicht akzeptieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Mehrheitsfrau einen Minderheitenmann heiratet. Der umgekehrte Fall ist weniger problematisch. Zudem bestehen regionale Unterschiede: Im clanmäßig homogeneren Norden des somalischen Kulturraums sind Mischehen seltener und gleichzeitig stärker stigmatisiert als im Süden. Hawiye und Rahanweyn sehen die Frage der Mischehe weniger eng. Außerdem ist der Druck auf Mischehen insbesondere in ländlichen Gebieten ausgeprägt. In Mogadischu sind Mischehen möglich. Al Shabaab hat Hindernisse für Mischehen beseitigt, in ihren Gebieten kommt es zunehmend zu solchen Eheschließungen (LIB Kapitel 17.3).

Eine Mischehe führt so gut wie nie zu Gewalt oder gar zu Tötungen. Seltene Vorfälle, in denen es etwa in Somaliland im Zusammenhang mit Mischehen zu Gewalt kam, sind in somaliländischen Medien dokumentiert. Hingegen kommt es häufig zur Verstoßung des aus einem „noblen“ Clan stammenden Teils der Eheleute durch die eigenen Familienangehörigen. Letztere besuchen das Paar nicht mehr, kümmern sich nicht um dessen Kinder oder brechen den Kontakt ganz ab; es kommt zu sozialem Druck. Diese Art der Verstoßung kann vor allem in ländlichen Gebieten vorkommen. Eine Mischehe sorgt auf jeden Fall für Diskussionen und Getratsche, nach einer gewissen Zeit wird sie aber meist akzeptiert (LIB Kapitel 17.3).

1.5.7. Frauen

Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär. Frauen und Mädchen bleiben den besonderen Gefahren der Vergewaltigung, Verschleppung und der systematischen sexuellen Versklavung ausgesetzt. Wirksamer Schutz gegen solche Übergriffe - insbesondere in IDP-Lagern - ist mangels staatlicher Autorität bisher nicht gewährleistet. Auch Frauen und Mädchen von Minderheiten sind häufig unter den Opfern von Vergewaltigungen (LIB Kapitel 18.1).

In Somalia, insbesondere im urbanen Raum, gibt es einen erheblichen Anteil von Familien mit weiblichem Haushaltsvorstand. 8,3% aller Haushalte werden von alleinstehenden Frauen (nie verheiratet, verlassen, geschieden, verwitwet) geführt. Der überwiegende Anteil letztgenannter Haushalte findet sich im urbanen Raum und in IDP-Lagern; gleichzeitig haben die meisten dieser Haushaltsvorstände keine Bildung. Zu den unteren Wohlstandskategorien (sehr arm, arm) zählen 43,2% dieser Haushalte, zur mittleren 19,8% und zu den oberen zwei 37%. Es liegen keine Informationen darüber vor, wonach es allen diesen Frauen an einer Existenzgrundlage mangeln würde oder dass alle diese Frauen keine Unterkunft haben würden (Anfragebeantwortung Frauen, S. 3).

Aufgrund der Tatsache, dass Frauen in der konfliktbelasteten somalischen Gesellschaft immer öfter die Rolle des "Versorgers" übernehmen mussten, haben sich ihnen auch immer mehr wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet. So sind Frauen in zahlreichen Bereichen beruflich tätig (Haus-zu-Haus-Kleidungsverkäuferin; Kioskbetreiberin; Landwirtin; Selbständige; Zimmerer; IT; Schneiderin; Schönheitspflegerin; Catering; Handy-Reparatur; Handarbeiterin; Mechanikerin; Bauarbeiterin; Stofffärberin; Bäckerin; Klimaanlagen- und Kühlschrank-Reparatur; Fischhaltbarmachung und Fischtrocknung; Geflügelzucht; Elektrikerin; Greißlerin; Fleischerin; (Klein-)Händlerin; Gemüseverkäuferin; Restaurantbetreiberin.) Für ungebildete (IDP-)Frauen stehen in erster Line die Berufe Dienstmädchen, Müllsammlerin und Wäscherin offen. Frauen sind v.a. im primären Sektor (Landwirtschaft u.a.) tätig (67,8%). An zweiter Stelle folgen Dienstleistung und Handel (14,7%), danach die Tätigkeit als Hilfsarbeiterin (u.a. Dienstmädchen; 6,3%). Personen ohne Bildung finden sich vor allem im primären Sektor (Landwirtschaft u.a.) mit 64%, als Handwerker (16%), Fabriksarbeiter (11,7%) und in Dienstleistung und Handel (11,2%) (Anfragebeantwortung Frauen, S. 3 f).

In Mogadischu überwiegen generell Dienstleistung/Handel (31,8%), höhere (bildungsabhängige) Berufe (28,7%), Handwerk (15,6%), Hilfs- (11,2%) und Fabrikarbeiter (10,7%) (Anfragebeantwortung Frauen, S. 4).

Über ganz Somalia verteilt sind drei von zehn Jugendlichen arbeitslos. Insgesamt beträgt die mit westlichen Standards vergleichbare Arbeitslosigkeit 24%. Bei der Personengruppe ohne Bildung sind es 22%. Besonders in nomadischen und ländlichen Gebieten ist die Arbeitslosigkeit vergleichsweise gering. Im urbanen Raum und in IDP-Lagern sind 34% arbeitslos, in Mogadischu 28%. Frauen ohne Bildung sind zu 22% arbeitslos. Generell ist die Arbeitslosigkeit bei jüngeren Menschen höher (Altersgruppe 20-29: 29%, als bei älteren (Altersgruppe 30-39: 20%) (Anfragebeantwortung Frauen, S. 4).

Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit bei Frauen höher als jene bei Männern. Von Frauen geführte IDP-Haushalte reagieren besser auf Not, als von Männern geführte. Insgesamt sind von Frauen geführte Haushalte weniger von Armut betroffen. Dies gilt aber nicht in IDP-Lagern und in urbanen Gebieten (Anfragebeantwortung Frauen, S. 3).

Bei der Anmietung von Häusern kommt es zu keiner signifikanten Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Oft sind die Vermieter bzw. jene Personen, mit welchen Verträge abgeschlossen werden, selbst Frauen. Der entscheidende Faktor bei einer Anmietung ist nicht das Geschlecht, sondern die Frage, ob die Miete auch bezahlt werden kann. Von Frauen geführte Haushalte in Mietobjekten sind einem höheren Risiko der Zwangsräumung durch die Besitzer ausgesetzt, als von Männern geführte Haushalte (Anfragebeantwortung Frauen, S. 4).

Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich. Erwachsene Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition. Vielmehr können jene, die mit traditionellen Normen brechen, den Schutz und die Unterstützung durch Familie und Clan verlieren (LIB Kapitel 18.1).

Die Tradition hat sich gewandelt, viele Ehen werden ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen. Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr. Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen. In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt. Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Zusätzlich gibt es auch die Tradition der „runaway marriages“, bei welcher die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt. Diese Art der Eheschließung ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter in Anspruch genommen worden. In ca. 80% der Fälle konnten sich die Eheleute ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden (LIB Kapitel 18.1).

Weibliche Genitalverstümmelung (FGM)

Die Übergangsverfassung verbietet zwar weibliche Genitalverstümmelung, diese ist in Somalia aber weit verbreitet. Es sind ca. 95% aller Frauen und Mädchen beschnitten. Generell ist von einer leichten Rückläufigkeit auszugehen. Die Berichtslage, in welchem Alter die Beschneidung erfolgt divergiert und spricht von einem Bereich bis zum Alter von 14 Jahren. Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, werden nicht mehr beschnitten. Dies wäre aus Sicht der Gesellschaft gesundheitlich zu riskant. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (LIB Kapitel 18.1.1.).

Ca. 40% der Beschnittenen erlitten die weitreichendsten Form (pharaonische Beschneidung/Infibulation/WHO Typ III). Verbreitet sind die hieraus resultierenden Gesundheitsprobleme der Betroffenen. Viele überleben die Verstümmelung nicht. Bei den Bendiri und den arabischen Gemeinden in Somalia ist nicht die Infibulation sondern die Sunna (WHO Typen I und II) verbreitet. Bei diesen Gruppen scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt. Die Sunna hat sich nunmehr zur üblichsten Form der Beschneidung in Somalia entwickelt (LIB Kapitel 18.1.1.).

Landesweit bemühen sich die Regierungen, diese Praxis einzuschränken. Allerdings stellen Ineffizienz, Korruption und Nepotismus im Rechtsstaat bedeutende Hindernisse bei der Umsetzung dar. Außerdem gibt es nach wie vor religiöse Führer, die sich gegen ein Verbot der Sunna aussprechen (LIB Kapitel 18.1.1.).

Al Shabaab hatte ursprünglich jede Form von FGM verboten. Mittlerweile gilt das Verbot für die Infibulation, während die Sunna akzeptiert wird. Generell ist al Shabaab nicht Willens, dieses Verbot auf dem von ihr kontrollierten Gebiet auch umzusetzen. Die Gruppe unterstützt die Tradition nicht, geht aber auch nicht aktiv dagegen vor (LIB Kapitel 18.1.1.).

Unbeschnittene Frauen sind in der somalischen Gesellschaft sozial stigmatisiert. Allerdings kommt es zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen. Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist. Eine Möglichkeit ist, dass eine Mutter vorgibt, dass ihre Tochter einer Sunna unterzogen worden ist (LIB 17.09.2018 - S. 107).

Eine Reinfibulation (Wiederverschließung) wird meist dann von Frauen angewendet, wenn sie Jungfräulichkeit vorgeben wollen. Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist. Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben. Für junge Mädchen, die Opfer einer Vergewaltigung wurden oder vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten, kann es zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Ansonsten gibt es keinen Druck auf somalische Frauen, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Viele Frauen fragen aber offenbar von sich aus nach einer (manchmal nur teilweisen) Reinfibulation (LIB Kapitel 18.1.1).

Es handelt sich um eine persönliche Entscheidung, die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Defibulation nach einer Geburt bestehen bleibt und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Frauen entscheiden sich selber für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmöglichen Verschließung: a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z.B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl anfühlt; b) manche geschiedene Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen; c) Eltern von Vergewaltigungsopfern fragen danach; d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue . (LIB Kapitel 18.1.1.).

Es kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko einer Reinfibulation zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt (LIB Kapitel 18.1.1).

1.5.8. Grundversorgung:

Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. Zugang zu Bildung und Arbeit stellt in vielen Gebieten eine Herausforderung dar, wohingegen der tertiäre Bildungsbereich in Mogadischu boomt. Aufgrund des Fehlens eines formellen Banksystems ist die Schulden-Kredit-Beziehung (debt-credit relationship) ein wichtiges Merkmal der somalischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei spielen Vertrauen, persönliche und Clan-Verbindungen eine wichtige Rolle – und natürlich auch der ökonomische Hintergrund. Es ist durchaus üblich, dass Kleinhändler und Greissler anschreiben lassen (LIB Kapitel 21.1).

Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8%). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1%). 6,9% arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8% als Handwerker, 4,7% als Techniker, 4,1% als Hilfsarbeiter und 2,3% als Manager (LIB Kapitel 21.1).

Die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge, Rückkehrer und andere vulnerable Personengruppen sind limitiert. Eine Arbeit zu finden ist mitunter schwierig, verfügbare Jobs werden vor allem über Clan-Netzwerke vergeben. Generell ist das Clan-Netzwerk vor allem außerhalb von Mogadischu von besonderer Relevanz (LIB Kapitel 21.1).

Seitens der Regierung gibt es für Arbeitslose keinerlei Unterstützung. Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z.B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus. Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie) (LIB Kapitel 21.1).

Frauen stoßen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vor – etwa bei Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei. Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben. In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43% der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener (LIB Kapitel 21.1).

Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z.B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i.d.R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z.B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80%-90% des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft. Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin oder aber auch auf. Für Frauen gibt es auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z.B. können sie nicht Taxifahrer werden (LIB Kapitel 21.1).

Für viele Haushalte sind Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle. Diese Remissen, die bis zu 40% eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei und fördern die Resilienz der Haushalte (LIB Kapitel 21.1).

1.5.9. Aktuelle Grundversorgungslage (Nahrungsmittelversorgung, Dürre, Überflutung)

Die überdurchschnittliche Deyr-Ernte 2019, die Zunahme der Viehbestandsgrößen und die nachhaltige humanitäre Nahrungsmittelhilfe haben die Erholung von der vorangegangenen Dürre 2018/2019 und den jüngsten Überschwemmungen in ländlichen Gebieten unterstützt (FSNAU). Die wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19, die Überschwemmungen während der andauernden Gu-Regenzeit (April bis Juni) und die Verbreitung der Wüstenheuschrecken führen jedoch wieder zu einer Zunahme der Ernährungsunsicherheit in der Bevölkerung (FEWSN). Am meisten betroffen sind IDPs und marginalisierte Gruppen. Der humanitäre Bedarf ist nach wie vor hoch, Millionen von Menschen befinden sich in einer Situation akuter Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. In Nord- und Zentralsomalia herrschen durchgehend moderate bis große Lücken in der Versorgung. Dort wird für August/September 2019 in einigen Teilen mit IPC 3 und IPC 4 gerechnet. Das gleiche gilt für den Süden, wo aufgrund einer unterdurchschnittlichen Ernte die Lebensmittelpreise steigen werden (LIB Kapitel 21.2).

Für Mogadischu gilt die IPC-Stufe 2 (stressed); für IDP’s die IPC-Stufe 3 (crisis) (FSNAU; FEWSN).

1.5.10. Binnenflüchtlinge (IDPs):

IDPs gehören in Somalia zu den am meisten gefährdeten Personengruppen. Diese sind besonders benachteiligt, da sie kaum Schutz genießen und Ausbeutung, Misshandlung und Marginalisierung ausgesetzt sind. Ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nichtstaatlichen – aber auch staatlichen – Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkungen und Diskriminierung aufgrund von Clan-Zugehörigkeiten sind an der Tagesordnung; es kommt auch zu willkürlichen Tötungen, Vertreibungen und sexueller Gewalt. Für Vergewaltigungen sind bewaffnete Männer - darunter Regierungssoldaten und Milizionäre - verantwortlich. Weibliche IDPs sind hinsichtlich einer Vergewaltigung besonders gefährdet (LIB Kapitel 20).

IDPs sind über die Maßen von der Dürre und daher von Unterernährung betroffen (LIB Kapitel 20 und 21.2). Für sie ist es charakteristisch, dass sie humanitäre Unterstützung erhalten. Sie stellen etwa 20% der Bevölkerung von Mogadischu. Diese Gruppen profitieren nur zu einem äußerst geringen Anteil von Remissen. Die Männer dieser Bevölkerungsgruppen arbeiten oft im Transportwesen, am Hafen und als Bauarbeiter; Frauen arbeiten als Hausangestellte. Eine weitere Einkommensquelle dieser Gruppen ist der Kleinhandel – v.a. mit landwirtschaftlichen Produkten. Zusätzlich erhalten sie Nahrungsmittelhilfe und andere Leistungen über wohltätige Organisationen (LIB 21.1).

1.5.11. Medizinische Versorgung

Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die öffentlichen Krankenhäuser sind mangelhaft ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Der Standard von Spitälern außerhalb Mogadischus ist erheblich schlechter. In Mogadischu gibt es mindestens zwei Spitäler, die für jedermann zugänglich sind (LIB Kapitel 22).

Die Primärversorgung wird oftmals von internationalen Organisationen bereitgestellt und ist für Patienten kostenfrei. Allerdings muss manchmal für Medikamente bezahlt werden. Private Einrichtungen, die spezielle Leistungen anbieten, sind sehr teuer. Medikamente, die Kindern oder ans Bett gebundenen Patienten verabreicht werden, sind kostenlos (LIB Kapitel 22).

Es gibt nur fünf bei der WHO registrierte Zentren zur Betreuung psychischer Erkrankungen und nur drei Psychiater in Somalia. Diese befinden sich in Berbera, Bossaso, Garoowe, Hargeysa und Mogadischu. Von der Regierung gibt es so gut wie keine Unterstützung für diese Einrichtungen, sie sind von Spenden abhängig. Psychisch Kranken haftet meist ein mit Diskriminierung verbundenes Stigma an. Nach wie vor ist das Anketten psychisch Kranker eine weit verbreitete Praxis (LIB Kapitel 22).

Grundlegende Medikamente sind verfügbar, darunter solche gegen die am meisten üblichen Krankheiten sowie jene zur Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck, Epilepsie und von Geschwüren. Auch Schmerzstiller sind verfügbar. Medikamente können ohne Verschreibung gekauft werden. Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt in erster Linie über private Apotheken. Für Apotheken gibt es keinerlei Aufsicht (LIB Kapitel 22).

1.5.12. Bewegungsfreiheit:

Reisende sind durch die zahlreichen, von unterschiedlichen Gruppen betriebenen Straßensperren einer Gefahr ausgesetzt. Neben den Straßensperren kann auch das Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen ein Risiko darstellen. Viele der Hauptstraßen werden nur teilweise von AMISOM und Armee kontrolliert. Trotzdem bereisen Zivilisten und Wirtschaftstreibende tagtäglich die Überlandverbindungen. Bei Reisen von Gebieten der Regierung in jene von al Shabaab besteht das Risiko, von beiden Seiten der Kollaboration verdächtigt zu werden (LIB Kapitel 19).

In ganz Süd-/Zentralsomalia gibt es Straßensperren (Checkpoints), an welchen Fahrzeuge aufgehalten und Personen kontrolliert werden. Prinzipiell geht es an einer Straßensperre um die Einhebung von Wegzoll, wobei die Höhe des Zolls mitunter willkürlich ist. Es gibt permanente und ad hoc Straßensperren, betrieben von Sicherheitskräften, al Shabaab oder Clan-Milizen (LIB Kapitel 19).

Es ist weder Ziel von al Shabaab, Menschen am Reisen zu hindern, noch sind Reisende selbst ein Ziel. Straßensperren zielen in erster Linie auf die Einhebung von Steuern ab und in zweiter Linie darauf, Spione zu identifizieren. Alleine die Tatsache, dass jemand in einem westlichen Land gewesen ist, stellt im Kontext mit Al Shabaab an solchen Straßensperren kein Problem dar. Allerdings ruft westliches Verhalten oder westliche Kleidungsart Sanktionen hervor. Zu befürchten haben an Straßensperren der Al Shabaab jene Personen etwas, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Sie befinden sich in Lebensgefahr. Dies gilt insbesondere an Straßensperren in jenen Gebieten, die nicht vollständig unter Kontrolle von al Shabaab stehen. Dort dürfen Spione standrechtlich – ohne Verfahren – exekutiert werden. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab werden Verdächtige i.d.R. verhaftet und vor Gericht gestellt. Außerdem kann es Personen treffen, die von Al Shabaab – etwa wegen des Mitführens von bestimmten Objekten (Smartphones, Regierungsdokumente, Symbole, die mit der Regierung assoziiert werden etc.) – als mit der Regierung in Zusammenhang stehend oder als Spione verdächtigt werden. Auch Reisende, die im Gebiet der Reisebewegung weder über Familien- noch Clan-Verbindungen verfügen, können von al Shabaab unter Umständen als Spione verdächtigt werden (außer sie haben einen Bürgen). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Reiseziel der Person im von der al Shabaab kontrollierten Gebiet lieg (LIB Kapitel 19).

Es ist nicht ungewöhnlich, alleine reisende ältere Frauen anzutreffen. Dahingegen wird vermieden, jüngere Frauen ohne Begleitung auf Reisen zu schicken – v.a. aufgrund der Gefahr sexueller Gewalt. Für Frauen gibt es nämlich ein erhöhtes Risiko, an Straßensperren sexueller Gewalt ausgesetzt zu werden. Dabei spielt die Clanzugehörigkeit kaum eine Rolle, denn im Transit ist der Schutz des Clans oft wirkungslos (LIB Kapitel 19).

In Mogadischu gibt es keine Probleme bei der Bewegungsfreiheit (LIB Kapitel 19).

1.5.13. Rückkehrer:

Schon nach den Jahren 2011 und 2012 hat die Zahl der aus der Diaspora nach Süd-/Zentralsomalia zurückkehrenden Menschen stark zugenommen. Viele lokale Angestellte internationaler NGOs oder Organisationen sind aus der Diaspora zurückgekehrte Somali. Andere kommen nach Somalia auf Urlaub oder eröffnen ein Geschäft. Im Jahr 2017 sind 245 Personen aus der EU und anderen europäischen Staaten nach Somalia zurückgebracht worden. Im ersten Halbjahr 2018 waren es 208. Bis Juli 2019 sind insgesamt 90.058 Somalis über AVR-Programme des UNHCR zurückgeführt worden, mehrheitlich aus Kenia, aber auch aus Dschibuti, Libyen und dem Jemen (LIB Kapitel 23).

Rückkehrer werden nicht von somalischen Behörden misshandelt. Mit technischer und finanzieller Unterstützung haben sich verschiedene westliche Länder über die letzten Jahre hinweg für die Schaffung und anschließende Professionalisierung eines speziell für Rückführung zuständigen Returnee Management Offices (RMO) innerhalb des Immigration and Naturalization Directorates (IND) eingesetzt. Staatliche Repressionen sind nicht die Hauptsorge der Rückkehrer. Rückkehrer werden vom RMO/IND grundsätzlich mit Respekt behandelt. Am Flughafen kann es zu einer Befragung von Rückkehrern durch das RMO hinsichtlich Identität, Nationalität, Familienbezügen sowie zum gewünschten zukünftigen Aufenthaltsort kommen. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für unbegleitete Minderjährige und andere Rückkehrer (LIB Kapitel 23).

Der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] ist unter anderem dafür verantwortlich, Mitglieder in schwierigen finanziellen Situationen zu unterstützen. Das traditionelle Recht (Xeer) bildet hier ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie). Eine erfolgreiche Rückkehr und Reintegration kann in erheblichem Maße von der Clanzugehörigkeit bzw. von lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person abhängig sein. Für Rückkehrer ohne Netzwerk oder Geld gestaltet sich die Situation schwierig. Ein Netzwerk ist z.B. hinsichtlich Arbeitssuche wichtig (LIB Kapitel 21.3).

Rückkehrer nach Mogadischu haben dort einen guten Zugang zu Geld- oder sonstiger Hilfe von Hilfsagenturen. Hinzu kommen Remissen von Verwandten im Ausland. Hingegen erhalten IDPs vergleichsweise weniger Remissen (LIB Kapitel 21.3).

Die Zurverfügungstellung von Unterkunft und Arbeit ist bei der Rückkehrunterstützung nicht inbegriffen und wird von den Rückkehrern selbst in die Hand genommen. Diesbezüglich auftretende Probleme können durch ein vorhandenes Netzwerk abgefedert werden. Es gibt keine eigenen Lager für Rückkehrer, daher siedeln sich manche von ihnen in IDP-Lagern an (LIB Kapitel 21.3).

Prinzipiell gestaltet sich die Rückkehr für Frauen schwieriger als für Männer. Eine Rückkehrerin ist auf die Unterstützung eines Netzwerks angewiesen, das in der Regel enge Familienangehörige – geführ

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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