Entscheidungsdatum
21.10.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W236 2228148-2/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Lena BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE-Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils 17.08.2020, Zl. 733128910/150218785, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.10.2020 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt IV. zu lauten hat:
„Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen.“
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer reiste (gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau und den vier gemeinsamen, damals teils minderjährigen Kindern) am 11.10.2003 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 12.10.2003 einen Asylantrag.
2. Im Zuge seiner Einvernahme am 07.11.2003 vor dem Bundesasylamt gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, aus XXXX zu stammen und nach Abschluss der Pflichtschule und Absolvierung des Militärdienstes von 1981-1990 Kraftfahrer gewesen zu sein. Von 1990 bis zum 1. Tschetschenienkrieg sei er Straßenpolizist gewesen. Im 1. Tschetschenienkrieg habe er auf Seiten der Tschetschenen teilgenommen. Von 1996 bis 1998 sei er in Grosny wieder Straßenpolizist gewesen. Im 2. Tschetschenienkrieg habe er nur noch vereinzelt an Kämpfen teilgenommen. Er sei Angehöriger einer Spezialeinheit gewesen. Er sei Zugsführer einer Aufklärungseinheit unter XXXX gewesen, welche in Grosny stationiert gewesen sei; ihm unterstanden zwölf Leute. Diese Einheit sei nur auf Abruf eingesetzt worden. Bis Ende 1999/Anfang 2000 seien sie an der Verteidigung Grosnys beteiligt gewesen, danach sei er nicht mehr eingesetzt worden. Wie schon vor dem 2. Krieg habe er auch danach vom Ölgeschäft und einer in der Nähe gefundenen Ölquelle gelebt. Anfang 2003 habe ihm ein Freund, den er noch von seiner Arbeit als Polizist gekannt habe und der immer noch bei der Polizei gewesen sei, mitgeteilt, dass die Russen neue Namenslisten von Kriegsteilnehmern hätten und sich sein Name auch auf einer dieser Listen befinde. Er sei dann vorsichtig geworden und habe im Frühjahr 2003 in Inguschetien Reisepässe für sich und seine Familie besorgt. Aufgeschreckt durch die vielen Säuberungsaktionen habe er im Juni 2003 beschlossen, mit seiner Familie zu fliehen. Er sei jedoch nie von russischen Soldaten verfolgt oder verschleppt worden und sei keiner persönlichen Verfolgung ausgesetzt gewesen. Es sei aber nur eine Frage der Zeit gewesen. Bei Säuberungsaktionen sei es ihm immer gelungen, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Sein Haus sei mehrmals durchsucht und seine Frau nach ihm befragt worden.
3. Mit Bescheid vom 14.09.2004, Zl. 03 31.289-BAT, wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 7 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 1997/76, idF BGBl. I Nr. 126/2002, Asyl gewährt und gemäß § 12 leg. cit. festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
4. Der Beschwerdeführer trat in Österreich bisher sechs Mal strafgerichtlich in Erscheinung:
1. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 18.02.2010, XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat, bedingt auf eine Probezeit von zwei Jahren verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, im Zuge einer Auseinandersetzung dem Opfer M.E. einen Faustschlag ins Gesicht und in weiterer Folge einen Fußtritt ins Gesicht versetzt zu haben, wodurch das Opfer einen Bruch des linken oberen Schneidezahns, eine Prellung der rechten Gesichtshälfte und zwei Rissquetschwunden an der Unterlippe erlitten habe. Mildernd wurde die Unbescholtenheit, erschwerend die erhebliche Verletzung des Geschädigten gewertet.
2. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 13.05.2011, XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, das Opfer H.H. durch einen Faustschlag gegen dessen linke Gesichtshälfte, der eine Lockerung von drei Zähnen zur Folge gehabt habe, verletzt zu haben und dem Opfer H.H. sowie dem Opfer T.A. eine Körperverletzung angedroht zu haben. Strafmildernd wurden die tatsachengeständige Verantwortung und die Bereitschaft zur Schadensgutmachung durch teilweise Anerkennung der Privatbeteiligtenansprüche gewertet. Straferschwerend wurden die einschlägige Vorstrafe sowie das Zusammentreffen von zwei Vergehen gewertet.
3. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 10.10.2013, XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, dem Opfer W.S. einen Faustschlag gegen die linke Halsseite versetzt und anschließend mit dem linken Fuß auf diesen eingetreten zu haben, wobei er dem Opfer eine Halsprellung zugefügt habe. Anschließend habe er ihn gefährlich bedroht. Mildernd wurden das teilweise Tatsachengeständnis und der geäußerte Wille zur Schadenswiedergutmachung gewertet. Erschwerend wurden zwei einschlägige Vorstrafen gewertet.
4. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.11.2015, XXXX , (bestätigt durch das Urteil des Oberlandesgericht XXXX vom 20.07.2016, XXXX ) wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 1 WaffG (unbefugtes Führen und Besitzen einer genehmigungspflichtigen Schusswaffe der Kategorie B) zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, das Opfer M.A. durch die Abgabe eines Schusses mit einer Pistole in den linken Brustbereich, wodurch dieser infolge des Brustkorbdurchschusses ein Herzpumpenversagen bei traumatischer Aufreißung der linken Herzkammer in Verbindung mit einem massiven Blutverlust nach innen erlitt, getötet zu haben. Weiters habe er, wenn auch nur fahrlässig, unbefugt eine genehmigungspflichtige Schusswaffe der Kategorie B besessen und geführt. Mildernd wurden das umfassende und reumütige Geständnis zum Schusswaffenbesitz gewertet. Erschwerend wurden die drei einschlägigen Vorstrafen, das Zusammentreffen eines Verbrechens mit zwei Vergehen und die Tatbegehung während offener Probezeiten gewertet.
5. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 27.11.2017, XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 und Abs. 4 StGB und des Vergehens der versuchten Begünstigung nach § 15 und § 299 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, in der Justizanstalt vor den Beamten der Polizeiinspektion als Zeuge einer förmlichen Vernehmung falsch ausgesagt zu haben, indem er ausgesagt habe, am 17.03.2017 nicht durch einen Schlag des M.A. verletzt worden zu sein, sondern Nasenbluten durch einen unabsichtlich auf sein Gesicht gefallenen Ball erlitten zu haben. Er habe dadurch versucht, den M.A. der Strafverfolgung ganz oder zum Teil absichtlich zu entziehen. Mildernd wurde gewertet, dass es teilweise beim Versuch geblieben sei, erschwerend wurde das Zusammentreffen von zwei Vergehen gewertet.
6. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 13.01.2020 XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, einen Justizwachebeamten mit einer Verletzung am Körper gefährlich bedroht zu haben. Mildernd wurde kein Umstand gewertet, erschwerend die mehreren einschlägigen Vorstrafen und die Begehung in Strafhaft.
Der Beschwerdeführer befindet sich seit 06.02.2015 in einer Justizanstalt in Österreich in Strafhaft. Als voraussichtliches Haftende ist momentan der 05.08.2035 in Aussicht gestellt.
5. Mit Schreiben vom vom 23.09.2016 wurde der Beschwerdeführer darüber in Kenntnis gesetzt, dass gegen ihn ein Aberkennungsverfahren eingeleitet wurde und ihm mehrere Fragen zur schriftlichen Beantwortung übermittelt. Mit Stellungnahme vom 24.11.2016 führte der Beschwerdeführer aus, dass er sich seit seiner Einreise im Jahr 2003 durchgehend im Bundesgebiet aufhalte und hier mehrere Deutschkurse absolviert habe. In Österreich leben seine Ex-Ehefrau, von der er seit dem Jahr 2012 geschieden sei, sowie die fünf gemeinsamen Kinder, die ihn in der Haft besuchen kommen. Er habe mehrere Herzinfarkte erlitten und leide an Diabetes. Er habe bei diversen Firmen gearbeitet, dazwischen sei er auch beim AMS gemeldet gewesen. Er habe von den Erwerbstätigkeiten und von staatlicher Unterstützung gelebt.
6. Am 30.07.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen, wobei er angab, einen Herzinfarkt erlitten zu haben und an Diabetes sowie an grauem Star zu leiden. In Tschetschenien leben noch drei seiner Brüder und drei seiner Schwestern jeweils mit Familien. Auch Onkeln, Tanten und Cousins gebe es noch, aber es seien schon viele verstorben. Seiner Familie in Tschetschenien gehe es nicht gut, da es kaum Arbeit gebe. Er telefoniere alle drei Monate mit Familienangehörigen in Tschetschenien. Im Falle seiner Rückkehr fürchte er umgebracht zu werden, da er einerseits für die Republik Itschkeria gekämpft habe und andererseits hier in Österreich den Mörder seines Vaters umgebracht habe. Dafür drohe ihm in Tschetschenien Vergeltung. Da er gegen Russland gekämpft habe, würde er im Falle der Rückkehr sofort erschossen oder lebenslang eingesperrt werden, das wisse er aus dem Fernsehen. Amnestiert seien nur die worden, die sich gestellt hätten. Er sei jedoch geflohen und glaube nicht, dass er unter die Amnestie falle. Der von ihm umgebrachte Mann habe in Tschetschenien Brüder und auch hier Kinder, die seine Kinder umbringen und ihn fertigmachen wollen. Das Opfer sei mit Messern und Pistolen bewaffnet gewesen und habe ihn bedroht. Er habe sich dann an die Polizei gewandt und habe einen Waffenschein beantragt, aber keine Waffen bekommen. Sein Opfer habe ihm selbst gesagt, dass er seinen Vater in Tschetschenien umgebracht habe und dasselbe mit ihm machen werde. Dann habe er sich am Schwarzmarkt eine Pistole um € 2.600,-- gekauft. Im Strafverfahren habe er zwar gesagt, er habe sie gefunden, in Wahrheit habe er diese aber in Österreich gekauft. Er habe nicht vorgehabt, sein Opfer zu töten. Dieser Mann habe mit ihm zu raufen begonnen und sei auf ihn losgegangen, er sei sehr stark gewesen. Er sitze zu Unrecht im Gefängnis, er habe nur den getötet, der ihn umbringen habe wollen. In Österreich habe er bei verschiedenen Stellen als Fahrer und Lagerarbeiter gearbeitet, das sei immer unterschiedlich lange gewesen. Einmal sei er entlassen worden, da die Arbeit zu schwer für ihn gewesen sei. In Österreich leben seine Ex-Ehefrau, von der er seit sieben oder acht Jahren geschieden sei, seine fünf Kinder sowie acht Enkelkinder. Sie kämen ihn einmal im Monat in der Haft besuchen, manchmal auch öfter.
7. Mit dem o.a. Bescheid vom 17.08.2020 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 leg. cit. fest, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 (gemeint wohl Z 4) AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG, festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 3 Z 5 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend wird darin im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer straffällig geworden sei und jene Umstände im Herkunftsland, welche seinerzeit zur Anerkennung als Flüchtling geführt hätten, zwischenzeitlich weggefallen seien. Daraus resultierend lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nicht mehr vor. Aktuelle Rückkehrhindernisse habe der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen können. So habe er mit seinen vagen und widersprüchlichen Angaben nicht glaubhaft machen können, aufgrund seines in Österreich verübten Mordes in Tschetschenien der Gefahr der Blutrache ausgesetzt zu sein. Da Widerstandskämpfer aus den Tschetschenienkriegen und alle Personen, die vor dem Jahr 2006 gekämpft hätten, unter eine Amnestie fallen, liege für den Beschwerdeführer keine aktuelle Gefährdung vor. Der Beschwerdeführer nehme zwar Blutverdünner und leide an Diabetes, diese Medikamente seien jedoch auch in der Russischen Föderation verfügbar. Er verfüge in Tschetschenien noch über ausreichend Verwandte, sei zudem selbst arbeitsfähig, spräche Russisch und Tschetschenisch auf Muttersprachenniveau und sei mit den Gepflogenheiten im Herkunftsstaat vertraut. Es sei daher nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten würde. Die Beschwerdeführer verfüge in Österreich zwar über familiäre Anknüpfungspunkte (Kinder). Dem stehen jedoch seine strafrechtlichen Verurteilungen sowie der Umstand gegenüber, dass sich der Beschwerdeführer in Haft befinde und seit Jahren in keinem gemeinsamen Haushalt mehr mit seinen Kindern lebe. Sonstige Anhaltspunkte für eine ausgeprägte und verfestigte Integration in Österreich habe der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen können. Die Erlassung der Rückkehrentscheidungen sei daher gerechtfertigt. Vor dem Hintergrund der Straffälligkeit des Beschwerdeführers erweise sich die Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbotes als geboten.
8. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 31.08.2020 fristgerecht Beschwerde, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wird, dass das Bundesamt nur mangelhafte Ermittlungen zur angeblich geänderten Lage in der Russischen Föderation insbesondere zur Frage nach grundlegenden Veränderungen angestellt habe. Auch habe es nur mangelhafte Ermittlungen zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers in Österreich angestellt und dessen Situation im Falle der Rückkehr nach Tschetschenien unzureichend erhoben. Die im Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und befassen sich nur am Rande mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers. Ausführliche Berichte zur politischen Verfolgung in der Russischen Föderation auch Jahrzehnte nach der Ausreise fehlen gänzlich. Verwiesen wird auf die lange Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers in Österreich, seine in Österreich lebenden Kinder sowie auf seine Deutschkenntnisse und den Umstand, dass dessen Privatleben in Österreich einer Rückkehrentscheidung ebenso wie einem unbefristeten Einreiseverbot entgegenstünde.
9. Auf Ersuchen des Bundesverwaltungsgerichtes übermittelte die Justizanstalt XXXX am 16.09.2020 einen Führungsbericht des Beschwerdeführers, in welchem mitgeteilt wird, dass der Beschwerdeführer seit seiner Einlieferung in die Justizanstalt am 08.11.2016 zweimal disziplinär zur Verantwortung gezogen habe werden müssen (Arbeitsverweigerung, ungebührliches Benehmen gegenüber einer im Strafvollzug tätigen Person). Diesbezüglich sei er im Zuge von Ordnungsstrafverfahren mit Geldstrafen belegt worden. Er sei dem Anstaltsbetrieb „Kunst“ zugewiesen, wo er bislang eine zufriedenstellende Arbeitsleistung erbringe. Darüber hinaus nehme er regelmäßig an der angebotenen Kursmaßnahme „Deutschkurs“ teil. Weiters wurde eine Besuchsliste übermittelt, aus welcher ersichtlich ist, dass der Beschwerdeführer ca. monatlich von Familienmitgliedern besucht wird.
10. Am 15.10.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache und dem Beschwerdeführer statt, in welcher dieser ausführlich zu seinen Fluchtgründen und seiner Integration in Österreich befragt wurde.
Der Beschwerdeführer legte im Zuge der Verhandlung eine Behandlungsmitteilung der Justizanstalt XXXX sowie einen Herz-Stent-Pass der XXXX Landeskliniken vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Aufgrund des Asylantrags, der Einvernahmen des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie durch das Bundesasylamt und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der Bescheide, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungs- und Gerichtsakte, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Strafregister sowie insbesondere auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung am 15.10.2020 werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zum wesentlichen Verfahrensgang:
Dem Beschwerdeführer wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 14.09.2004, Zl. 03 31.289-BAT, der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Nach Einvernahme des Beschwerdeführers am 30.07.2019 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den dem Beschwerdeführer zuerkannten Status des Asylberechtigten mit Bescheid vom 17.08.2020, Zl. 733128910/150218785, wegen geänderter Umstände im Herkunftsstaat ab und erkannte ihm weder den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu noch erteilte es ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Weiters wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, wobei eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wurde. Gegen den Beschwerdeführer wurde zudem ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.
Am 15.10.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache und dem Beschwerdeführer statt, in welcher dieser ausführlich zu seinen Fluchtgründen und seiner Integration in Österreich befragt wurde.
1.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und führt die im Spruch ersichtlichen Personalien. Seine Identität steht fest.
Für den Beschwerdeführer scheinen im österreichischen Strafregister folgende Verurteilungen auf:
1. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 18.02.2010, XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat, bedingt auf eine Probezeit von zwei Jahren verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, im Zuge einer Auseinandersetzung dem Opfer M.E. einen Faustschlag ins Gesicht und in weiterer Folge einen Fußtritt ins Gesicht versetzt zu haben, wodurch das Opfer einen Bruch des linken oberen Schneidezahns, eine Prellung der rechten Gesichtshälfte und zwei Rissquetschwunden an der Unterlippe erlitten habe. Mildernd wurde die Unbescholtenheit, erschwerend die erhebliche Verletzung des Geschädigten gewertet.
2. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 13.05.2011, XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, dem Opfer H.H. durch einen Faustschlag gegen dessen linke Gesichtshälfte, der eine Lockerung von drei Zähnen zur Folge gehabt habe, verletzt zu haben und dem Opfer H.H. sowie dem Opfer T.A. eine Körperverletzung angedroht zu haben. Strafmildernd wurden die tatsachengeständige Verantwortung und die Bereitschaft zur Schadensgutmachung durch teilweise Anerkennung der Privatbeteiligtenansprüche gewertet. Straferschwerend wurden die einschlägige Vorstrafe sowie das Zusammentreffen von zwei Vergehen gewertet.
3. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 10.10.2013, XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, dem Opfer W.S. einen Faustschlag gegen die linke Halsseite versetzt und anschließend mit dem linken Fuß auf diesen eingetreten zu haben, wobei er dem Opfer eine Halsprellung zugefügt habe. Anschließend habe er ihn gefährlich bedroht. Mildernd wurden das teilweise Tatsachengeständnis und der geäußerte Wille zur Schadenswiedergutmachung gewertet. Erschwerend wurden zwei einschlägige Vorstrafen gewertet.
4. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.11.2015, XXXX , (bestätigt durch das Urteil des Oberlandesgericht XXXX vom 20.07.2016, XXXX ) wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 1 WaffG (unbefugtes Führen und Besitzen einer genehmigungspflichtigen Schusswaffe der Kategorie B) zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, das Opfer M.A. durch die Abgabe eines Schusses mit einer Pistole in den linken Brustbereich, wodurch dieser infolge des Brustkorbdurchschusses ein Herzpumpenversagen bei traumatischer Aufreißung der linken Herzkammer in Verbindung mit einem massiven Blutverlust nach innen erlitt, getötet zu haben. Weiters habe er, wenn auch nur fahrlässig, unbefugt eine genehmigungspflichtige Schusswaffe der Kategorie B besessen und geführt. Mildernd wurden das umfassende und reumütige Geständnis zum Schusswaffenbesitz gewertet. Erschwerend wurden die drei einschlägigen Vorstrafen, das Zusammentreffen eines Verbrechens mit zwei Vergehen und die Tatbegehung während offener Probezeiten gewertet.
5. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 27.11.2017, XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 und Abs. 4 StGB und des Vergehens der versuchten Begünstigung nach § 15 und § 299 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, in der Justizanstalt vor den Beamten der Polizeiinspektion als Zeuge einer förmlichen Vernehmung falsch ausgesagt zu haben, indem er ausgesagt habe, am 17.03.2017 nicht durch einen Schlag des M.A. verletzt worden zu sein, sondern Nasenbluten durch einen unabsichtlich auf sein Gesicht gefallenen Ball erlitten zu haben. Er habe dadurch versucht, den M.A. der Strafverfolgung ganz oder zum Teil absichtlich zu entziehen. Mildernd wurde gewertet, dass es teilweise beim Versuch geblieben sei, erschwerend wurde das Zusammentreffen von zwei Vergehen gewertet.
6. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 13.01.2020 XXXX , wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig erkannt, einen Justizwachebeamten mit einer Verletzung am Körper gefährlich bedroht zu haben. Mildernd wurde kein Umstand gewertet, erschwerend die mehreren einschlägigen Vorstrafen und die Begehung in Strafhaft.
Der Beschwerdeführer befindet sich seit 05.02.2015 in einer Justizanstalt in Österreich in Strafhaft. Als voraussichtliches Haftende ist momentan der 05.08.2035 in Aussicht gestellt.
Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 11.10.2003 zunächst aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz und anschließend aufgrund seines Status als Asylberechtigter durchgängig rechtmäßig in Österreich auf.
Bis zu seiner Ausreise aus Tschetschenien im Juli 2003 lebte der Beschwerdeführer ausschließlich in der Russischen Föderation – er stammt aus XXXX –, wo er eine zehnjährige Schulausbildung sowie den einjährigen Militärdienst abschloss. In den Jahren 1981 bis 1990 war der Beschwerdeführer als Kraftfahrer tätig, von 1990 bis 1998 – mit einer Unterbrechung während des ersten Tschetschenienkrieges – arbeitete der Beschwerdeführer als Straßenpolizist. Ab 1998 lebte der Beschwerdeführer von einer in seinem Garten gefundenen Ölquelle und dem Verkauf der daraus gewonnenen Erdölprodukte.
Der Beschwerdeführer nahm am ersten Tschetschenienkrieg auf Seiten der Tschetschenen teil. Im zweiten Tschetschenienkrieg war er Zugsführer einer in Grosny stationierten Aufklärungseinheit unter XXXX ; ihm unterstanden zwölf Leute. Bis Ende 1999/Anfang 2000 war der Beschwerdeführer mit seiner Einheit an der Verteidigung Grosnys beteiligt, danach wurde er nicht mehr eingesetzt. Anfang 2003 erfuhr er von befreundeten Polizisten, dass er auf einer neuen russischen Namensliste von Kriegsteilnehmern aufscheine. Aufgeschreckt durch die vielen Säuberungsaktionen beschloss der Beschwerdeführer im Juni 2003 mit seiner Familie zu fliehen. Der Beschwerdeführer war in Tschetschenien nie einer persönlichen Verfolgung ausgesetzt und wurde bei keiner Säuberungsaktion mitgenommen.
Der Beschwerdeführer beherrscht sowohl die russische als auch die tschetschenische Sprache in Wort und Schrift.
Der Beschwerdeführer ist von seiner asylberechtigten Ehefrau seit dem Jahr 2012 geschieden. Weiters leben in Österreich drei volljährige Söhne (Geburtsjahrgänge 1984, 1987 und 1995), eine volljährige Tochter (Geburtsjahrgang 1991) und ein minderjähriger Sohn (Geburtsjahrgang 2005) – alle ebenfalls asylberechtigt. In Österreich leben zudem die Frau und die Kinder des verstorbenen Cousins des Beschwerdeführers.
Der Beschwerdeführer wird von seinen Kindern und seiner Ex-Ehefrau monatlich in der Haft besucht und erhält von diesen finanzielle Unterstützung von ca. € 200 pro Monat. Der Beschwerdeführer lebt mit seinen Kindern und seiner Ex-Ehefrau zumindest seit 05.02.2015 nicht mehr in einem gemeinsamen Haushalt.
In Tschetschenien verfügt der Beschwerdeführer noch über drei Brüder und drei Schwestern samt Familien sowie über viele Cousins, zu denen er regelmäßigen telefonischen Kontakt pflegt. Festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat über eine zumindest vorübergehende Unterkunftsmöglichkeit im Rahmen des Familienverbandes verfügt.
Der Beschwerdeführer erlitt zwei Herzinfarkte, ihm wurde im Jahr 2009 ein Stent gesetzt. Weiters leidet der Beschwerdeführer an Diabetes Typ II, Prostatahyperplasie, hohen Blutcholesterinwerten, hohem Blutdruck und Laktoseintoleranz. Er nimmt täglich Antidiabetiker und spritzt Insulin, nimmt Blutverdünner, Blutdrucksenker, Cholesterinsenker, Vitamin B, ein Medikament für die Prostata, ein Antipsychotikum sowie einen Magenschutz und zeitweise Cortison. Bei Bedarf nimmt er Schlaftabletten, Hautcreme, Lactulose, Schmerzmittel und einen Spray bei Brustenge.
Bis zu seiner Inhaftierung ging der Beschwerdeführer unregelmäßigen Beschäftigungen nach. Im Wesentlichen lebte er von der finanziellen Unterstützung seiner Kinder sowie von Sozialleistungen. In der Justizanstalt ist der Beschwerdeführer dem Anstaltsbetrieb „Kunst“ zugewiesen und nimmt an der angebotenen Kursmaßnahme „Deutschkurs“ teil. Sonstige Ausbildungen absolvierte der Beschwerdeführer in Österreich nicht.
Während seiner Haft in der Justizanstalt XXXX wurde der Beschwerdeführer zweimal disziplinär zur Verantwortung gezogen – einmal wegen Arbeitsverweigerung, einmal wegen ungebührlichen Benehmens gegenüber einer im Strafvollzug tätigen Person –, wobei er im Zuge von Ordnungsstrafen mit Geldstrafen belegt wurde.
Festgestellt wird, dass dem Beschwerdeführer in der Russischen Föderation keine asylrelevante Verfolgung mehr droht. Nicht festgestellt werden kann, dass dem Beschwerdeführer in der Russischen Föderation aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder er im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würden und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
Nicht festgestellt werden kann, dass eine ausreichend ausgeprägte und verfestigte entscheidungserhebliche individuelle Integration des Beschwerdeführers in Österreich vorliegt. Ein der Ausweisung entgegenstehendes Familienleben besteht nicht.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderberichten wiedergegeben:
1.3.1. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 27.03.2020 (letzte Information eingefügt am 21.07.2020)
1. Politische Lage
Letzte Änderung: 21.07.2020
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).
Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020
- CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 17.7.2020
- Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020
- Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020
- MDR 16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html, Zugriff 21.7.2020
- ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020
- OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020
- Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020
- RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020
- Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020
- Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020
- Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020
1.1. Tschetschenien
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020; vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür
des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020
- FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020
- HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020
- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020
2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 27.03.2020
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020
- BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020
- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
2.1. Nordkaukasus
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).
Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020
- Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C