Entscheidungsdatum
22.10.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W268 2231150-1/12E
W268 2231147-1/11E
W268 2231152-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin MMag. Iris Gachowetz über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, vertreten durch den Verein für Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , 1.) Zl. XXXX , 2.) Zl. XXXX , 3.) XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung:
I. zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird im Punkte des § 3 AsylG als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
II. und in derselben Rechtssache den Beschluss gefasst:
A) Im Übrigen wird der angefochtene Bescheid in seinen restlichen Spruchpunkten aufgehoben und die Rechtssache zur Erlassung einer neuen Entscheidung an die belangte Behörde zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin reisten gemeinsam mit ihrer minderjährigen Tochter, der Drittbeschwerdeführerin, unter Umgehung der Grenzbestimmungen nach Österreich ein und stellten am 11.03.2020 für sich und ihre Tochter Anträge auf internationalen Schutz.
1.1. Im Zuge ihrer Erstbefragung am selben Tag gaben der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin im Wesentlichen an, dass sie Staatsangehörige der Russischen Föderation und muslimischen Glaubens seien sowie der tschetschenischen Volksgruppe angehörten.
Der Erstbeschwerdeführer führte zu seinem Fluchtgrund aus, am 20.12.2016 habe ein Terroranschlag stattgefunden. Jugendliche aus seiner Gemeinde seien dabei von Polizisten erschossen worden. Im Rahmen von polizeilichen Untersuchungen sei der BF – wie andere auch – festgenommen und einvernommen worden. Der BF sei 18 Tage in Haft gewesen und am 08.01.2017 entlassen worden. Der BF sei in der Haft geschlagen und misshandelt worden. Die Polizei habe schlussendlich festgestellt, dass der BF mit dem Terroranschlag vom 20.12.2016 nichts zu tun habe. Von 2016 bis 2020 sei der Beschwerdeführer dann zwei Mal monatlich bei der Polizei gewesen und untersucht und befragt worden. Die übrigen Beschwerdeführer beriefen sich auf dieselben Fluchtgründe.
1.2. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden am 06.04.2020 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen.
1.3.1. Der Erstbeschwerdeführer brachte im Zuge seiner Einvernahmen vor dem Bundesamt zu seinem Fluchtgrund befragt vor, im Dezember 2016 habe es eine Auseinandersetzung zwischen Bürgern und Polizisten mit beidseitigen Opfern gegeben. Der Beschwerdeführer sei zu diesem Zeitpunkt aufgrund mehrfacher Befragungen zu seiner Religion in der Vergangenheit amtsbekannt gewesen. Der BF sei am 21.12.2016 auf eine Polizeistation außerhalb seines Dorfes gebracht worden. Dort sei er wie viele andere junge Männer befragt worden. Der BF sei 2 Tage lang mit Fragen unter Druck gesetzt und geschlagen worden. Nach 18 Tagen sei der BF mit starkem Gewichtsverlust und schlechtem Allgemeinzustand entlassen worden. Die Polizei hätte gewusst, dass er mit der Sache nichts zu tun gehabt habe und habe ihn deshalb freigelassen. Für die nächsten 6 Monate sei der BF in Ruhe gelassen worden; anschließend jedoch wieder durch Befragungen unter Druck gesetzt worden. Der BF würde nicht sachgerecht beten und den Koran falsch interpretieren. Am 28.10.2017 habe der BF geheiratet und ein „normales“ Leben geführt bis zum 25.02.2020. An diesem Tage habe der BF im Geschäft bei seiner Schwiegermutter gearbeitet; er habe in der Moschee gebetet und sei gegen 19:00 Uhr nach Hause gekommen. Am Abend hätten den BF teilweise maskierte Männer entführt und erst am 04.03.2020 freigelassen. Während seiner Anhaltung sei der BF angehalten worden, mehrere Urkunden mit ungewissem Inhalt zu unterschreiben. Der BF habe sich geweigert und sei gegen die Nieren geschlagen worden. Nach der Entlassung habe seine Familie entschieden, er solle sein Heimatland verlassen. Dieser Stress hätte auch bei seiner Frau und seinem Kind gesundheitliche Probleme verursacht. Bezüglich der gesundheitlichen Probleme seiner Tochter könnten sie Unterlagen vorlegen, für sein Fluchtvorbringen habe er jedoch keine Unterlagen.
1.3.2. Die Zweitbeschwerdeführerin führte im Zuge ihrer niederschriftlichen Einvernahme aus, keine eigenen Fluchtgründe zu haben. Die Probleme ihres Mannes hätten bereits vor der Heirat begonnen. Der Erstbeschwerdeführer sei auf eine „Liste“ gesetzt worden. Nach der Hochzeit sei der Erstbeschwerdeführer regelmäßig (2 bis 3 Mal pro Monat) befragt worden. Am 25.02.2020 seien teilweise maskierte Männer zum Erstbeschwerdeführer nach Hause gekommen und hätten den BF mitgenommen. Er sei am 04.03.2020 freigelassen worden. Anschließend habe die Familie das Land verlassen. Befragt nach dem Gesundheitszustand der Familie gab die Zweitbeschwerdeführerin an, dass sie Baldriantabletten gegen die Nervosität einnehmen würden. Sie habe Rückenschmerzen und auch das Blutbild ihrer Tochter sei nicht in Ordnung. Sie habe niedriges Hämoglobin. Das Kind sei auch zu Hause behandelt worden, weil sie nicht genügend Sauerstoff bekommen habe und das zentrale Nervensystem betroffen gewesen sei. Die Entwicklung sei ihrem Alter entsprechend, aber sie brauche ständige Kontrollen wegen des Kopf-Schädel-Blutdrucks. Ärztliche Befunde gebe es in Tschetschenien, doch aufgrund der jetzigen Situation der Quarantäne könne sie diese jetzt nicht verschicken lassen. Die Behandlung sei in Grozny in verschiedenen Einrichtungen sowie in Astrachean beim Neurologen erfolgt.
Am 07.04.2020 legten die Beschwerdeführer medizinische Befunde aus Russland betreffend ihre Tochter vor und fand eine ergänzende Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. In dieser gab die Zweitbeschwerdeführerin an, dass es noch viele andere medizinische Unterlagen in Tschetschenien gebe, jedoch habe ihre Mutter in der Eile nicht alle Unterlagen übermitteln können.
2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheiden vom XXXX die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Russland ab (Spruchpunkt II.), erkannte ihnen einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht zu (Spruchpunkt III.), erließ im Sinne des § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Russland zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich hielt die Behörde fest, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen betrage (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 15b Abs. 1 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführern die Unterkunftnahme in einem bestimmten Quartier aufgetragen (Spruchpunkt VII.).
2.1. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl traf dabei umfassende herkunftsstaatsbezogene Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Russischen Föderation, insbesondere zu Tschetschenien. Die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz wurde damit begründet, dass das Vorbringen der Beschwerdeführer allgemein gehalten worden sei und selbst auf Nachfrage unsubstantiiert blieb. Zusammengefasst sei daher festzustellen, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht werden konnte. Hinsichtlich des subsidiären Schutzes führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführer leiden an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung. Aus den Länderfeststellungen ergebe sich eindeutig, dass in der Russischen Föderation die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmittel grundsätzlich gewährleistet ist und es neben geringfügigen staatlichen Leistungen auch Unterstützung von humanitären und religiösen Organisationen im Fall von Notlagen gibt. Die Beschwerdeführer hätten außerdem familiäre Anknüpfungspunkte (Mutter, Geschwister) im Herkunftsstaat. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass den Beschwerdeführern bei einer Rückkehr die Lebensgrundlage entzogen wäre. Die aktuelle COVID-19 Pandemie erfordere auch nicht die Zuerkennung von subsidiären Schutz. Eine Epidemie im Herkunftsstaat eines Fremden sei zwar grundsätzlich unter dem Aspekt des Art. 3 EMRK beachtlich. Ein individuelles Risiko, an SARS-CoV-2 schwer oder gar tödlich zu erkranken, sei sehr niedrig. Das Risiko eines schweren Verlaufs sei bei jungen nicht immungeschwächten Menschen nochmals deutlich herabgesetzt. Ein „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohe den Beschwerdeführers aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht. Eine Gewährung von subsidiären Schutz komme somit nicht in Betracht. Zu einer allfälligen Verletzung des Rechtes auf Privatleben wurde in Bezug auf die Rückkehrentscheidung festgehalten, dass der Aufenthalt im Sinne höchstgerichtlicher Rechtsprechung als kurz zu bewerten sei. Auch aus den sonstigen Verfahrensergebnissen seien keine Tatsachen hervorgekommen, die der Erlassung einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würden.
2.2. Mit Verfahrensanordnung vom 23.04.2020 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
3. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer über ihren zur Vertretung im Beschwerdeverfahren bevollmächtigten Rechtsberater vollinhaltlich Beschwerde. Die vorgenommene Beweiswürdigung entspräche nicht höchstgerichtlichen Vorgaben. Der Erstbeschwerdeführer habe glaubhaft eine asylrelevante Verfolgungsgefahr vorgebracht. Aus den Länderberichten gehe hervor, dass die russischen Behörden weder gewillt noch im Stande sind, notwendigen Schutz zu gewährleisten. In Tschetschenien gäbe es weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane. Zum gesundheitlichen Vorbringen betreffend die Drittbeschwerdeführerin wurde ausgeführt, dass diesbezüglich am 09.06.2020 ein Termin im Salzkammergut-Klinikum vereinbart worden sei. Aufgrund der aktuellen Lage in Bezug auf Covid-19 sei es den Beschwerdeführern derzeit nicht möglich, alle medizinischen Unterlagen aus Tschetschenien zu organisieren und vorzulegen.
3.1. Die gegenständliche Beschwerde und die darauf Bezug nehmenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und langten am 20.05.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
3.2. Mit Schreiben vom 16.07.2020 wurden die Beschwerdeführer und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht unter gleichzeitiger Übermittlung der aktuellen Länderberichte zur Lage in der Russischen Föderation, insbesondere Tschetschenien, geladen.
3.3. Am 19.06.2019 wurde eine mündliche Verhandlung unter Teilnahme der Beschwerdeführer vor dem Bundesverwaltungsgericht abgehalten.
3.4. In Folge an die mündliche Verhandlung wurden diverse medizinische Befunde betreffend die Drittbeschwerdeführerin aus Österreich vorgelegt, aus welchen hervorgeht, dass bei dieser ein Verdacht auf einen benignen extrazerebralen Hydrozephalus bestehe.
3.5. Hinsichtlich des Verfahrensinhaltes sowie des Inhalts der Beschwerde im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Ehegatten, die Eheschließung erfolgte in ihrem Herkunftsstaat. Die Drittbeschwerdeführerin ist deren minderjährige Tochter. Alle Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, muslimischen Glaubens und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig. Die Beschwerdeführer reisten im März 2020 unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 11.03.2020 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Die Beschwerdeführer leben im gemeinsamen Haushalt.
1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer ist gesund und nimmt aktuell weder Medikamente noch befindet er sich in ärztlicher Behandlung. Er wurde in XXXX geboren. Mit Kriegsausbruch ist der Erstbeschwerdeführer nach Grozny ausgewandert. Der Erstbeschwerdeführer besuchte neun Jahre eine Grundschule. Der Beschwerdeführer war zuletzt als Administrator im Geschäft seiner Schwiegermutter tätig und konnte von seinem Einkommen gut leben. In Österreich halten sich zwei Brüder des Erstbeschwerdeführers auf. Die Brüder besuchen den Erstbeschwerdeführer alle paar Wochen. Ein gemeinsamer Haushalt oder finanzielles Abhängigkeitsverhältnis besteht nicht. In Tschetschenien halten sich die Mutter, drei verheiratete Schwestern und zwei Brüder des Beschwerdeführers auf. Die beiden Brüder besitzen Immobilien; der Erstbeschwerdeführer hat im Haus seiner Mutter gelebt. Der Erstbeschwerdeführer hat in Österreich nur wenige soziale Kontakte, ist weder ehrenamtlich noch in einem Verein aktiv. Er ist strafrechtlich unbescholten. Der Erstbeschwerdeführer geht keiner legalen Erwerbstätigkeit nach und ist insoweit nicht selbsterhaltungsfähig.
1.1.2. Die Zweitbeschwerdeführerin hat Rückenschmerzen und Nervenprobleme, hat aber einen guten Allgemeinzustand. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in XXXX geboren und wuchs in Grozny auf. Die Zweitbeschwerdeführerin absolvierte zwei universitäre Studien (Philologie und Wirtschaftswissenschaft). Die Zweibeschwerdeführerin war zuletzt als Lehrerin in einer Schule in ihrem Herkunftsstaat tätig. Die Zweitbeschwerdeführerin besitzt eine Schwester in Deutschland, einen Onkel in Frankreich und zwei Cousins und einen Onkel in Österreich. Ein gemeinsamer Haushalt mit den gerade genannten Verwandten oder ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis besteht nicht. Im Herkunftsland (Tschetschenien) halten sich Eltern und drei Brüder der Zweitbeschwerdeführerin auf, zu denen auch Kontakt besteht. Die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin besitzt ein Privathaus und zwei Brüder besitzen auch zwei Wohnungen. Die Zweitbeschwerdeführerin geht keiner legalen Arbeit nach und ist insoweit nicht selbsterhaltungsfähig. Sie beherrscht die tschetschenische und russische Sprache; die deutsche Sprache beherrscht sie nicht. In Österreich leben keine Verwandten. Die Zweitbeschwerdeführerin verfügt über wenige soziale Kontakte in Österreich, ist weder ehrenamtlich noch in einem Verein aktiv und strafrechtlich unbescholten.
1.1.3. Die Drittbeschwerdeführerin ist minderjährig. Bei ihr besteht der Verdacht auf einen benignen extrazerebralen Hydrozephalus und sie war bzw. ist diesbezüglich sowohl in Russland als auch in Österreich in medizinischer Behandlung.
1.2. Nicht festgestellt wird, dass die Beschwerdeführer ihren Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen haben oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit erhebliche Übergriffe zu befürchten hätten. Insbesondere wird nicht festgestellt, dass der Erstbeschwerdeführer von teilweise maskierten Männern festgenommen und mehrere Tage verhört und misshandelt worden ist und bei seiner Rückkehr einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zu befürchten hätte.
1.3. Zum Verfahrenssachverhalt, der die Aufhebung und Zurückverweisung trägt, maW zu den schweren Ermittlungslücken bei der Behörde im Hinblick auf die Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz:
Sowohl der Erstbeschwerdeführer als auch die Zweitbeschwerdeführerin haben im Rahmen des verwaltungsbehördlichen Verfahrens auf die gesundheitlichen Probleme ihrer Tochter hingewiesen sowie weiters auch angegeben, dass die Vorlage von medizinischen Befunden aufgrund der aktuellen Lage im Hinblick auf die Einschränkungen durch die Coronavirus-Pandemie schwierig sei, wobei letztendlich dennoch ein paar Unterlagen in russischer Sprache vorgelegt wurden (vgl. AS 57, 89 des Aktes des Erstbeschwerdeführers; AS 55, 87).
Im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 07.04.2020 wurden die Beschwerdeführer zwar befragt, worum es sich bei den vorgelegten medizinischen Unterlagen handle, eine nähere Erörterung dieser Unterlagen bzw. eine Übersetzung der Unterlagen in die deutsche Sprache erfolgte jedoch nicht. Es wurde insbesondere auch nicht erörtert, inwieweit die Behandlungen der Drittbeschwerdeführerin erfolgreich waren und ob diese aufgrund dieser gesundheitlichen Probleme in einen gefährlichen, allenfalls lebensbedrohlichen Zustand geraten könnte. Die Zweitbeschwerdeführerin gab zum Gesundheitszustand ihrer Tochter an, dass das Blutbild ihrer Tochter nicht in Ordnung sei und sie niedriges Hämoglobin habe. Sie sei auch zu Hause behandelt worden, weil sie nicht genügend Sauerstoff bekommen habe und das zentrale Nervensystem sei betroffen gewesen. Sie brauche letztendlich ständige Kontrollen wegen des Kopf-Schädel-Blutdrucks (vgl. AS 55).
Im Gegensatz dazu qualifizierte die Behörde im belangten Bescheid die Drittbeschwerdeführerin als gesund und führte diesbezüglich in den Feststellungen lediglich folgendes aus: „Sie sind ein Jahr alt und nicht immungeschwächt. [….] Sie leiden an keinen schweren, lebensbedrohenden Krankheiten.“
Die von den Beschwerdeführern vorgebrachten gesundheitlichen Probleme der Drittbeschwerdeführerin wurden somit letztendlich schlichtweg ignoriert und erfolgte an keiner Stelle des Bescheids ein Eingehen auf die vorgebrachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Drittbeschwerdeführerin und somit auch keine Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit diese Beeinträchtigungen behandlungsbedürftig sind und welche Folgen sich daraus ergeben könnten.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:
Politische Lage
(Letzte Änderung: 27.03.2020)
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).
Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).
Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Quellen:
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? EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
? FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020
? GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 10.3.2020
? GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2020
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? Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020
? NZZ – Neue Zürcher Zeitung (19.3.2020): Putin hält trotz Coronavirus-Krise an der Verfassungsabstimmung fest, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-in-russland-krise-ueberschattet-verfassungsabstimmung-ld.1547213, Zugriff 26.3.2020
? ORF.at (25.3.2020): Putin verschiebt Abstimmung über Verfassungsänderung, https://orf.at/stories/3159340/, Zugriff 26.3.2020
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? Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020
? Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020
? Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020
Tschetschenien
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür
des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020
? FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020
? HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020
? NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020
? ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 27.03.2020
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020
? BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020
? Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020
? EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020
? GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
Nordkaukasus
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).
Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020
? ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
Tschetschenien
Letzte Änderung: 27.03.2020
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
Quellen:
? Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 27.03.2020
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020
? AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020
? EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
? FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020
? ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
? US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020
Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 27.03.2020
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation,