TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/27 W226 2236087-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.10.2020
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Entscheidungsdatum

27.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W226 2236087-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.09.2020, Zl.: 733376004-191135267 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der damals minderjährige Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste am 30.10.2003 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern illegal in das österreichische Bundesgebiet ein. Am selben Tag wurde für den BF durch seine gesetzliche Vertretung ein Asylerstreckungsantrag gestellt, welchem mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 13.01.2004 stattgegeben und dem BF gemäß §§ 10, 11 Abs. 1 AsylG Asyl (abgeleitet von seinem Vater) gewährt und kraft Gesetzes festgestellt wurde, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

I.2. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF gem. § 83 (1) StGB, § 107 (1) StGB, § 133 (1) StGB, § 142 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten bedingt, Probezeit 3 Jahre, Anordnung der Bewährungshilfe, verurteilt (Jugendstraftat).

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF gem. §§ 15, 105 StGB, 142 (1) StGB, §§ 142 (1), 143 (1) 2. Fall, § 83 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

Der schwere Raub resultiert aus der Drohung mit Gewalt gegen eine Person, auch unter Verwendung einer Waffe (Klappmesser), um ein Mobiltelefon wegnehmen zu können; durch Androhung von Schlägen gemeinsam mit Mittäter, um eine Uhr und Bargeld dem weiteren Opfer wegnehmen zu können; Drohung mit „Zusammenschlagen“, um gemeinsam mit weiteren Mittätern einem Opfer eine Jacke, Bargeld und ein Mobiltelefon wegzunehmen. Die Nötigung resultiert aus der gefährlichen Drohung, von einer Anzeige Abstand zu nehmen, andernfalls das Opfer „zusammengeschlagen“ werde.

Mit Urteil des XXXX vom XXXX , XXXX wurde der BF gem. § 288 (1), § 299 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Wochen verurteilt.

Mit Urteil des LG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF gem. §§ 15, 83, § 84 (2) StGB, § 50 WaffG, §§ 15, 269 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt (junger Erwachsener).

Dem Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX ist zu entnehmen, dass der BF einem uniformierten Exekutivbeamten mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich der Anhaltung bzw. der anschließenden Festnahme einer anderen Person zu hindern versucht hat, indem er diesen mit beiden Fäusten auf den Rücken schlug, um die Festnahme zu verhindern. Zudem wurde ein Besitz eines Springmessers – trotz Waffenverbots gemäß § 12 WaffG geahndet.

Als mildernd wurden das Alter unter 21 Jahren, das teilweise Geständnis und dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, gewertet. Erschwerend wurden das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen und die 3 Vorstrafen sowie die Begehung der Tat innerhalb offener Probezeit gewertet.

Zugleich wurde die mit Urteil vom 10.02.2016 gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen.

I.3. Die belangte Behörde leitete ein Aberkennungsverfahren gegen den BF ein und vernahm dessen Vater am 07.09.2020 zeugenschaftlich dazu ein.

Die Einvernahme diente erkennbar der nochmaligen Erörterung, warum dem Vater des BF vor längerer Zeit der Asylstatus zuerkannt wurde und führte dabei der Vater wie folgt aus:

Es sei damals Krieg gewesen, die Familie sei nach Österreich gekommen, damit der Staat Österreich den Vater des BF rette. Er sei geflohen, weil damals allgemein Menschen getötet worden seien, er habe seinen Mitschülern geholfen, die Widerstand geleistet hätten. Er habe mit Essen geholfen und er habe Wohnungen für diese Freunde gemietet. Die Menschen seien grundlos, ohne Wahl, getötet worden. Auf die Frage, ob er glaube, dass er heute immer noch aus diesen Gründen verfolgt werden würde, führte der Vater aus wie folgt:

„Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ich habe aber dennoch Angst. Die Leute von Kadyrow sind gute Freunde von Putin. Ich glaube, dass ich noch immer Probleme haben werde.“

Der Vater des BF begründete dies im Wesentlichen damit, dass Kadyrow verkündet habe, dass alle Menschen, die damals Probleme gehabt hätten, nach der Rückkehr eine Strafe bekommen würden, Kadyrow habe das auf You Tube gesagt.

Auf die Frage, ob er jemanden kenne, der in die Heimat zurückgekehrt sei und eine Strafe bekommen habe, vermeinte der Vater des BF, dass er niemanden kenne, er kenne nur Gerüchte. In der Heimat habe er noch seine Mutter, ein Bruder und eine Schwester würden irgendwo in Russland leben, der jüngere Bruder würde sich noch zuhause befinden. Zu diesem habe er aber sehr wenig Kontakt, zuletzt vor 1 ½ Monaten. Zu dem älteren Bruder habe er keinen Kontakt. Im Fall der Rückkehr würde der Vater des BF theoretisch befürchten, dass er gefragt werden würde, warum er hier in Österreich gewesen sei. Er würde gerne in der Heimat leben, habe aber Angst dorthin zu fahren, er habe viele Freunde dort, vermisse die Heimat.

Auf die Frage, ob er anderswo in der Russischen Föderation leben könnte, vermeinte der Vater:

„Mit russischen Leuten ist es sehr schwer. Sie trinken sehr viel Wodka und prügeln sich dann.“

Zur Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers selbst befragt, führte der Vater aus, dass sich der Beschwerdeführer „Tattoos“ gemacht habe, diese seien in Tschetschenien nicht erlaubt, dafür werde man verprügelt. Der BF habe die Tattoos am Arm und am Fuß. Er selbst habe den Sohn vor längerer Zeit zur Polizei gebracht und gesagt, die Polizei solle ihn zurückschicken, weil dieser ein Auto gestohlen habe. Normalerweise müsste man den Beschwerdeführer zurückschicken, er mache schlimme Sachen. In der Haft habe er den Beschwerdeführer nicht besucht, er wolle ihn nicht sehen. Der Beschwerdeführer habe einen schweren Charakter, die Familie in der Heimat würde ihn nicht unterstützen können. Wenn Österreich ihn aber zurückschicken wolle, dann solle das gemacht werden. Der Beschwerdeführer könne dort leben, wenn er sich zusammenreist. Er würde – so der Vater auf konkrete Frage – dem Sohn natürlich helfen, sollte er in die Heimat zurückkehren müssen. Der Vater habe ein Haus in Tschetschenien, wenn der Sohn in Tschetschenien wäre, würde er ihm erlauben, dass er dort leben kann. Er wolle sich für seinen Sohn, den Beschwerdeführer, entschuldigen. Er habe Österreich damals um Hilfe gebeten und diese auch bekommen. Er wolle nicht, dass sein Sohn so etwas macht. Beim nächsten Mal, wenn der Sohn wieder etwas anstellt, würde er selbst die Polizei holen.

I.4. Am 08.09.2020 wurde nunmehr der Beschwerdeführer selbst in der Justizanstalt Josefstadt niederschriftlich zum Aberkennungsverfahren einvernommen. Er führte aus, Tschetschenisch muttersprachlich zu sprechen, außerdem Deutsch und ein wenig Russisch. Er sei auch gesund und könne jederzeit arbeiten, nehme keine Medikamente ein. In Österreich habe er die Pflichtschule abgeschlossen, sei offiziell für 2 oder 3 Monate auf einer Baustelle angestellt gewesen. Jetzt in der Haftzeit habe er eine Lehre als Mechaniker angefangen. Er sei nicht verheiratet, habe keine Kinder und wisse nicht, ob sich Verwandte von ihm im Heimatland aufhalten würden. Er wisse nur von einer Tante, die in Kanada lebe, eine weitere Tante sei in Polen.

Zu konkreten Rückkehrbefürchtungen befragt, vermeinte der Beschwerdeführer, dass er überall Tattoos habe, in Tschetschenien würde man direkt als Verbrecher angesehen, er habe das so von Leuten gehört.

Auf die Frage, welche Befürchtungen er für den Fall der Rückkehr in einen anderen Teil des Heimatlandes habe, vermeinte der Beschwerdeführer wie folgt:

„Ich weiß nicht, ob ich dort Feinde habe.“ Er glaube aber, es sei in Russland schwer zu leben. Sonst habe er keine Befürchtungen. Wer seine Feinde überhaupt seien, dass wisse er nicht. Die Eltern hätten gesagt, es ginge nicht, heimzufahren, es gäbe einen Familienstress und es habe irgendeinen Vorfall gegeben und deshalb gäbe es Blutrache. Entweder in der Familie der Mutter oder des Vaters habe es irgendeinen Vorfall gegeben. Es gäbe jedenfalls keine Möglichkeit, dort zu leben, dies wegen der Tattoos, auch hier in Österreich habe er Probleme mit Tschetschenen. Er kenne viele Leute, die nach Tschetschenien geschickt wurden und dort umgebracht worden seien. In Tschetschenien würden Menschen, die geflüchtet seien, als Feinde angesehen. Auf Vorhalt, dass er damals erst 2 Jahre alt gewesen sei, vermeinte der Beschwerdeführer, dass alle Geflüchteten nicht mehr als Tschetschenen wahrgenommen würden.

Zum Leben in Österreich befragt verwies der Beschwerdeführer darauf, die Schule besucht und einmal kurz gearbeitet zu haben, dann sei er im Alter von 15 bis 17 Jahren im Gefängnis gewesen. Jetzt sitze er wieder in Haft, weil er angeblich einen Polizisten angegriffen habe. In Österreich habe er nur seine Familie. Er sei mit einem Freund zusammen gezogen, habe sich dann aber nicht mehr angemeldet und habe seit 2018 keinen offiziellen Wohnsitz mehr in Österreich.

I.5. Am 21. September 2020 langte bei der belangten Behörde ein weiterer Abschlussbericht der LPD XXXX , Landeskriminalamt, ein, wonach gegen den Beschwerdeführer Ermittlungen wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung geführt würden. Der Beschwerdeführer stehe in Verdacht, als eines der federführenden Mitglieder einer kriminellen Vereinigung mehrere „Sittenwächterkanäle“ sowie „Sittenwächtergruppen“ betrieben zu haben.

I.6. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 22.09.2020 erkannte das BFA den mit Bescheid vom 13.01.2004 (im Bescheid fälschlich 18.02.2011) zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Ferner wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf 10 Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Das BFA stellte fest, dass der BF russischer Staatsangehöriger sei, der Volksgruppe der Tschetschenen angehöre und sich zum muslimischen Glauben bekenne. Er sei in Tschetschenien aufgewachsen und habe bis 2004 dort gelebt. Er leide an keiner lebensbedrohlichen Krankheit.

Der Beschwerdeführer sei 19 Jahre alt und nicht immungeschwächt, er sei in Österreich straffällig geworden, habe aber auch eine Schulbildung genossen. Im Fall der Rückkehr habe er keine Gefährdung oder Bedrohung zu befürchten, er habe noch verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte im Heimatland und könne Kontakt zu diesen herstellen. Auch die Familie aus Österreich könnte ihn unterstützen.

Das Einreiseverbot wurde mit der Straffälligkeit, unter anderem wegen mehrfacher Körperverletzung, gefährlicher Drohung, Veruntreuung, mehrfachen Raubs und schweren Raubs und falscher Beweisaussage, Begünstigung, Sachbeschädigung, schwerer Körperverletzung und versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt begründet.

Nach umfangreichen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat führte die belangte Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung aus, dass der Beschwerdeführer individuelle Fluchtgründe nicht glaubhaft vorgebracht habe. Er habe nur angeführt, dass er Tattoos hätte und dort als Verbrecher angesehen werden würde. Es gäbe jedoch auch im Heimatland Tattoostudios und somit würde es auch im Heimatland Menschen geben, die Tattoos haben. Der Beschwerdeführer könne zudem in einer Großstadt des Heimatlandes leben, zumal es dort eben Tattoostudios gäbe und er nicht weiter auffallen würde. Eine glaubhafte Gefährdungslage im Heimatland habe er nicht vorgebracht. Die Gründe, welche zum Status geführt hätten, seien nicht mehr aktuell, zumal auch der Vater, von dem der Beschwerdeführer den Schutz erhalten habe, - keine Gefährdungslage mehr im Heimatland zu befürchten habe, zumal ehemalige Unterstützer der Widerstandskämpfer bereits im Jahr 2006 amnestiert worden seien. Auch den Brüdern sei der Asylstatus schon aberkannt worden. Der Beschwerdeführer selbst habe selbst niemals eigene Gründe gehabt und könne somit auch keine Gefährdungslage im Heimatland befürchten. Die belangte Behörde verwies den Beschwerdeführer darauf, dass er aus eigenem den Lebensunterhalt in der Russischen Föderation bestreiten könne, er sei ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann. Er spreche die dort gesprochene Sprache (Tschetschenisch), sei auch mit der dort ansässigen Kultur vertraut und sei es ihm aufgrund dessen möglich, in die Heimat zurückzukehren und dort ein neues Leben aufzubauen.

Betreffend die aktuelle COVID-19-Pandemie führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer ein junger und nicht immungeschwächter Mensch sei, er falle daher in keine Risikogruppe. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass er sich mit dem Erreger im Herkunftsstaat infiziere, dies könne aber auch im Fall des Verbleibs in Österreich passieren. Es sei das Risiko eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs der Erkrankung äußerst gering.

Die Rückkehrentscheidung wurde von der belangten Behörde mit der bereits dargestellten mehrfachen strafrechtlichen Verurteilung begründet, der Beschwerdeführer lehne offensichtlich die österreichische Rechtsordnung und zeige ein negatives Persönlichkeitsbild. Es sei nicht absehbar, gegen welche Person sich die Gewaltbereitschaft als nächstes richte. Auch das Einreiseverbot wurde von der belangten Behörde mit der Schwere des Fehlverhaltens begründet, die gesetzten Straftaten würden klar aufzeigen, dass der Beschwerdeführer eine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit darstelle.

I.7. Gegen diesen Bescheid hat der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde erhoben. Der Beschwerdeführer fürchte weitere Verfolgung durch die Verfolger seines Vaters. Der Vater habe Widerstandskämpfer unterstützt. In Tschetschenien sei die sogenannte Sippenhaftung durchaus üblich.

Die belangte Behörde habe auch nicht dargelegt, aufgrund welcher Länderfeststellungen davon auszugehen sei, dass für den Beschwerdeführer keine Verfolgungsgefahr im Heimatland bestehe. Es sei nicht erkennbar, warum dem Beschwerdeführer trotz der durchwegs üblichen Sippenhaftung auch als Volljährigem keine Verfolgung mehr drohen würde. Zudem verweist der Beschwerdeführer darauf, dass dem Vater weiterhin der Status des Asylberechtigten zukomme, man dürfe deshalb den Asylstatus nicht einfach aberkennen.

Darüber hinaus verweist die Beschwerde auf eine „aktuelle Menschenrechtslage“ laut einem Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 13.05.2016.

Zur Rückkehrentscheidung und zum Einreiseverbot wurde ausgeführt, dass die gesamte Kernfamilie des Beschwerdeführers weiterhin in Österreich lebe. Persönliche Kontakte seien dadurch so gut wie unmöglich, der Beschwerdeführer sei jedoch auf die Unterstützung seiner Familie angewiesen, sei er doch in Russland völlig entwurzelt. Der Beschwerdeführer bereue seine Taten und wolle fortan wieder einen ordentlichen Lebenswandel führen und das Familienleben mit seiner Kernfamilie in Österreich fortsetzen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum muslimischen Glauben.

Er wuchs in Tschetschenien auf, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern bis zu seiner Ausreise nach Europa lebte. Zum Zeitpunkt der Ausreise war der BF 2 Jahre alt.

Er reiste am 30.10.2003 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in das österreichische Bundesgebiet ein und wurde durch seine gesetzliche Vertretung ein Asylerstreckungsantrag gestellt, welchem vom Bundesasylamt mit Bescheid vom 13.01.2004, stattgegeben wurde.

Der BF wurde – wie oben dargestellt – 5 mal in Österreich rechtskräftig strafrechtlich verurteilt.

Im Falle des BF kann keine positive Zukunftsprognose erstellt werden. Der BF hatte alle Möglichkeiten, seine Chancen in Österreich zu nützen und sich zu integrieren, was ihm jedoch, insbesondere vor dem Hintergrund seines strafrechtlichen Verhaltens und der diesbezüglichen Verurteilungen, nicht gelungen ist. Der BF ist mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten und wurde mittlerweile 5 Mal zu bedingten bzw. unbedingten Haftstrafen verurteilt. Der BF hält sich wegen der bereits mehrfach ausgeführten Straftaten derzeit in einer Justizanstalt im Strafvollzug auf. Der BF war seit Juni 2018 ohne aufrechte Meldung, bis er wegen der letzten Straftat in U-Haft genommen wurde

Inwieweit der BF einen Asylausschlussgrund gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG verwirklicht hat (er wurde von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt und ist aufgrund dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft) ist nicht zu beurteilen, da die Behörde die Aberkennung nur auf § 7 Abs. 1 Z. 2 AsylG gestützt hat. Jedenfalls ist der in Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK angeführte Endigungsgrund eingetreten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF oder seinem Vater (von welchem der BF seinen Asylstatus seinerseits abgleitet hat) im Falle der Rückkehr eine aktuelle Verfolgung aus asylrelevanten Gründen drohen würde.

Die Eltern des BF leben in Österreich und sind zum dauerhaften Aufenthalt in Österreich berechtigt. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu den in Österreich aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen des BF aus gesundheitlichen oder anderen Gründen besteht nicht. Die Beziehung, die im Wesentlichen seit seiner Haftaufenthalte nur durch Besuche in der Haft gelebt werden können, kann auch von der Russischen Föderation aus über elektronische Medien und Internet aufrechterhalten werden. Der Vater hat in seiner Zeugenaussage zudem ausgeführt, den BF in der Justizanstalt nicht zu besuchen, er „will ihn nicht sehen“ (AS 361). Dass der BF von anderen Familienmitgliedern besucht würde bzw. es seit 2018 überhaupt noch Kontakt geben würde (Zeitpunkt der Abmeldung) wurde nicht vorgebracht.

Der BF ist ledig, kinderlos und hat keine Obsorgeverpflichtungen. Der BF spricht und versteht Deutsch einwandfrei. Zusätzlich spricht und versteht er Tschetschenisch sowie - wenig - Russisch. In Österreich besuchte der BF im Rahmen der Schulpflicht die Volks- und Hauptschule. Er hat eine Tätigkeit am Bau begonnen, hat diese aber nach kurzer Zeit wieder abgebrochen.

Der BF stellt weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Es kann nicht festgestellt werden, dass beim BF tatsächlich ein Lebenswandel stattfand.

Der BF ist erkennbar in der Lage, Hilfstätigkeiten auszuüben und ist auch arbeitswillig.

Eine Rückkehr des BF in die Russische Föderation stellt keine Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention dar. Im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation droht dem BF weder die Todesstrafe noch eine Haftstrafe unter unmenschlichen Bedingungen, Folter oder unmenschliche Behandlung.

Dem BF droht in der Russischen Föderation keine Doppelbestrafung und auch außerhalb der Strafverfolgung keine Verfolgung auf Grund des der Verurteilung in Österreich zugrundliegenden Verhaltens. Dem BF droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation keine Folter oder unmenschliche Behandlung auf Grund seiner Verurteilung in Österreich und des dieser Verurteilung zugrundeliegenden Verhaltens. Ihm droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung wegen der Asylantragstellung oder wegen des langjährigen Aufenthaltes außerhalb der Russischen Föderation.

Es ist dem BF jedenfalls möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation, entweder in Tschetschenien selbst oder auch in anderen Landesteilen niederzulassen und anzumelden sowie durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele russische Städte verfügen über eine große tschetschenische Diaspora und bieten die stärkeren Metropolen und Regionen Russlands bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch Chancen für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Der BF hat auch Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung. Zudem sind weiterhin Verwandte des BF (ua. eine Großmutter, zwei Onkel und Tanten) im Heimatland aufhältig und kann der BF den Kontakt zu diesen Personen (notfalls über seine in Österreich lebende Familie) wiederherstellen. Der Vater hat ausdrücklich erwähnt, dem BF das vorhandene Familienhaus zur Verfügung zu stellen und diesen von Österreich aus auch allenfalls finanziell zu unterstützen (AS 361 ff.)

Zur Lage in der Russischen Föderation/Tschetschenien:

1.       Neueste Ereignisse – Integrierte Kurzinformationen

Ende 2018 kam es in Tschetschenien wieder zur Verhaftung von Homosexuellen. Laut Angaben des russischen LGBT-Netzwerkes wurden mindestens 40 Frauen und Männer inhaftiert, mindestens zwei sollen im Zuge von Folter getötet worden sein (LGBT Netzwerk 14.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019). Laut dem Leiter des LGBT-Netzwerkes, Igor Kotschetkow, kam es nicht nur zur physischen Bedrohung bis zur Inkaufnahme des Todes der Festgehaltenen, sondern die Sicherheitskräfte sollen auch versucht haben, die Frauen und Männer daran zu hindern, aus der Teilrepublik auszureisen oder vor Gericht zu ziehen (NZZ 18.1.2019, vgl. UN News 13.2.2019). Die Kampagne, deren Muster und auch der Ort der Inhaftierung, eine Anlage in der Stadt Argun, erinnern an eine erste Welle an Verhaftungen von tschetschenischen Homosexuellen vor zwei Jahren. Nach Einschätzung von Menschenrechtsaktivisten gingen die Einschüchterungen, Festnahmen und Gewalttaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender weiter. Im Frühsommer 2017 hatte das Ermittlungskomitee von höchster Stelle in Moskau aus wegen starken internationalen Drucks eine Untersuchung der schwerwiegenden Vorwürfe angeordnet. Diese brachte allerdings nie konkrete Resultate (NZZ 18.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019).

Quellen:

- Russisches LGBT-Netzwerk (14.1.2019): New wave of persecution against LGBT people in Chechnya: around 40 people detained, at least two killed, https://lgbtnet.org/en/newseng/new-wave-persecution-against-lgbt-people-chechnya-around-40-people-detained-least-two-killed, Zugriff 28.2.2019

- Nowaja Gaseta (18.1.2019): ?????????? ??????, https://www.novayagazeta.ru/articles/2019/01/16/79205-legitimnye-zhertvy, Zugriff 28.2.2019

- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.1.2019): In Tschetschenien hat eine neue Welle der Verfolgung Homosexueller begonnen, https://www.nzz.ch/international/in-tschetschenien-hat-eine-neue-welle-der-verfolgung-homosexueller-begonnen-ld.1452401, Zugriff 28.2.2019

- UN News (13.2.2019): LGBT community in Chechnya faces ‘new wave of persecution’: UN human rights experts, https://news.un.org/en/story/2019/02/1032641, Zugriff 28.2.2019

Änderungen seit Mai 2018:

Erstens wurde weitere, die Zeugen Jehovas betreffende Literatur in die „Föderale Liste extremistischer Materialien“ des Justizministeriums der RF (http://minjust.ru/ru/extremist-materials?field_extremist_content_value) aufgenommen. Es handelt sich dabei um die Positionen 4471, 4472, 4485 bis 4488 und 4502, die aufgrund der Entscheidungen diverser russischer Gerichte am 5.7.2018 bzw. am 31.8.2018 in die Liste aufgenommen wurden. Zweitens wurde der Erlass N 11 „Über die gerichtliche Praxis in Strafsachen zu Verbrechen mit extremistischer Ausrichtung“ des Plenums des Obersten Gerichts vom 28.6.2011 am 20.9.2018 novelliert, die Definition der Z 20 Abs. 2, was unter einer Teilnahme an einer extremistischen Organisation iSd Art. 282.2 russ. StGB zu verstehen ist, ist aber ebenso unverändert geblieben wie der Art. 282.2 russ. StGB („Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation“) selbst. Auch die Entscheidung des Obersten Gerichts der RF N AKPI 17-238 vom 20. April 2017, mit der das „Leitungszentrum der Zeugen Jehovas in Russland“ als extremistische Organisation eingestuft und verboten wurde, ist unverändert gültig.

Unter dem Link http://gorod-che.ru/new/2018/10/10/58877 findet sich ein Artikel vom 10.10.2018, wonach fünf Bewohner der Kirowsker Oblast festgenommen wurden wegen des Versuches, die Tätigkeit einer religiösen Organisation, die die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas weiterverbreitet, wieder aufzunehmen. Trotz der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts vom 20.4.2017 hätten die Festgenommenen laut Untersuchungskomitee – in voller Kenntnis der Gerichtsentscheidung – in der Zeit vom 16.8.2017 bis zum 29.9.2018 beschlossen, die religiöse Tätigkeit wieder aufzunehmen.

Unter Beachtung aller konspirativen Maßnahmen hätten sie jedes Mal in neuen Wohnungen Treffen von Jüngern und Teilnehmern der religiösen Vereinigung organisiert. Dort hätten sie biblische Lieder gesungen, die Fertigkeiten bei der Durchführung der missionarischen Tätigkeit vervollkommnet und in der Extremismus-Liste aufgeführte verbotene Literatur studiert (New World Translation of the Holy Scriptures, Nr. 4488 der Liste). Außerdem hätten sie eine verbotene religiöse Organisation finanziert, indem sie ca. 500.000 RUB von den Glaubensanhängern gesammelt hätten. Dieses Geld sei zwischen den Führern der Organisation für die Miete der Räumlichkeiten, für den Erwerb und die Wartung von Computern aufgewendet worden. Der Rest der Summe sei dem Leitungszentrum überwiesen worden.

Art. 282.3 des russ. StGB (http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/51346ce1f845bc43ee6f3eadfa69f65119c941fa/) stellt die Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit unter gerichtliche Strafe. Er lautet:

„Art. 282.3 Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit

1. Die Zurverfügungstellung oder Sammlung von Mitteln oder die Erbringung finanzieller Dienstleistungen, wissentlich bestimmt für die Finanzierung der Organisation, der Vorbereitung und Begehung zumindest eines der Verbrechen extremistischer Ausrichtung oder für die Sicherstellung der Tätigkeit einer extremistischen Vereinigung oder extremistischen Organisation wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 1 bis 4 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 3 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr oder mit Freiheitsstrafe von 3 bis 8 Jahren.

2. Diese Taten, begangen von einer Person unter Ausnutzung ihrer Amtsstellung wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder ohne eine solche oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 2 bis 5 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist von 1 bis zu 2 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren.

Anmerkung: Eine Person, die erstmals ein Verbrechen gemäß dieses Art. begangen hat, wird von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit frei, wenn sie mittels rechtzeitiger Benachrichtigung der Behörden oder auf andere Weise die Verhinderung des Verbrechens, das sie finanziert hat, sichergestellt hat, ebenso wenn sie die Verhinderung der Tätigkeit der extremistischen Gesellschaft oder der extremistischen Organisation sichergestellt hat, für deren Sicherstellung der Tätigkeit sie Mittel zur Verfügung gestellt oder gesammelt oder finanzielle Dienstleistungen erbracht hat, wenn in ihren Handlungen kein anderer Straftatbestand enthalten ist.“

Teilnahmen an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen (der Zeugen Jehovas) werden also von den russischen Behörden im Lichte der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts, des Auslegungserlasses und der Extremismus-Liste des russischen Justizministeriums im Rahmen der russischen Strafgesetze weiterhin verfolgt.

Eine nochmalige Internetrecherche der ÖB Moskau hat aber weiterhin keine Hinweise erbracht, dass einfache Gläubige der Zeugen Jehovas, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressionen betroffen wären.

Quellen:

-        ÖB Moskau (23.10.2018): Information per Email

Bewegungsfreiheit bzw. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens.

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-        ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

Rechtsschutz / Justizwesen

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-        ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

2.       Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation – Außen- und Europapolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

-        CIA – Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

-        FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

-        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

-        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

-        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

-        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

1.       

1.1.    Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        GKS – Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018, http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

-        ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-        Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

3.       Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-        BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

2.       

2.1.    Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

-        Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-        Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

4.       Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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