TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/4 W103 2228204-1

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Veröffentlicht am 04.11.2020
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Entscheidungsdatum

04.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55

Spruch

W103 2228204-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX und XXXX , Rechtsanwälte in XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.12.2019, Zl. 80209209 - 180683374, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß den §§ 7 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4, 8, 10 Abs. 1 Z 4, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF, §§ 52 Abs. 2 Z 3 und Abs. 9, 55 und 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Mit Schreiben vom 23.07.2018 teilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer, einem volljährigen Staatsangehörigen der Russischen Föderation, mit, dass gegen seine Person aufgrund mehrfacher rechtskräftiger Verurteilungen ein Verfahren zur Aberkennung seines Status des Asylberechtigten eingeleitet worden sei und gewährte ihm die Möglichkeit, zu seiner Straffälligkeit, seinen privaten und familiären Lebensumständen sowie allfälligen Gründen, welche aktuell einer Rückkehr in den Herkunftsstaat entgegenstünden, schriftlich Stellung zu beziehen.

Mit Eingabe vom 27.08.2019 wurde durch den nunmehrigen bevollmächtigten Vertreter eine schriftliche Stellungnahme eingebracht, in welcher ausgeführt wurde, der Beschwerdeführer sei im Alter von neun Jahren ins Bundesgebiet gelangt, er verfüge seit dem Jahr 2005 über die Asylberechtigung und habe bis zum Antritt seiner Freiheitsstrafe im gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern (Vater und Stiefmutter) gelebt. Im Bundesgebiet würden sich zudem sechs Geschwister des Beschwerdeführers als Asylberechtigte aufhalten. Im Herkunftsland würden keine Angehörigen mehr leben. Die leibliche Mutter des Beschwerdeführers sei, als der Beschwerdeführer vier Jahre alt gewesen wäre, während des zweiten Tschetschenienkrieges in dessen Beisein in Russland ermordet worden. Der Vater des Beschwerdeführers habe die Rebellen unterstützt und habe aus diesem Grund das Land verlassen müssen. Der Beschwerdeführer habe in Österreich die Pflichtschule abgeschlossen und im Anschluss eine polytechnische Schule sowie einen Berufsorientierungskurs besucht. Dieser bereue seine strafbaren Handlungen und sei aktuell bemüht, einen Platz in einem Antiaggressionstraining zu bekommen. Familienangehörige von Aufständischen stünden in erhöhter Gefahr, weiterhin verfolgt zu werden. Dabei sei es ohne Belang, dass die Tätigkeiten des Vaters des Beschwerdeführers bereits lange zurückliegen. Zurückkehrende Familienmitglieder von Aufständischen würden dabei als Druckmittel gesehen, festgenommen und bedroht, um die Rückkehr des Betroffenen zu erreichen. Übermittelt wurden ein Jahres- und Abschlusszeugnis über die achte Schulstufe sowie eine Kopie des Bescheides des Bundesasylamtes vom 10.10.2005, mit welchem dem Vater des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl in Österreich gewährt worden wäre.

Am 04.09.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache im Verfahren zur Aberkennung des Asylstatus niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab zusammengefasst zu Protokoll, die Taten, derentwegen er sich nun in Strafhaft befände, seien „eine dumme Sache“ gewesen; der Beschwerdeführer sei damals auf Drogen gewesen. Wenn er jetzt nach Hause ginge, werde er erstmal ein bis zwei Wochen zu Hause bei seiner Familie bleiben und den Kontakt zu seinen ehemaligen Freunden meiden. Der Beschwerdeführer habe eine Elektrikerlehre begonnen und bereits zwei Ausbildungsjahre hinter sich gehabt. Wenn er über die Sachen, die ihn hierhergebracht hätten, nachdenke, fände er es einfach nur mehr lächerlich. Er wolle ein normales Leben führen. Er habe eine Verlobte, welche ihn wöchentlich besuchen komme; er wolle Arbeit suchen, Geld sparen und heiraten. In Österreich habe er die Schule absolviert, eine Lehre begonnen und sei dann in falsche Kreise geraten. Er sei mit diesen Freunden aufgewachsen und habe dann ab dem 16. Lebensjahr seine Probleme gehabt. Vor seiner letzten Inhaftierung hätte er als Security und als Elektriker gearbeitet, gewohnt hätte er bei seinen Eltern und Geschwistern. Auf die Frage, was aus heutiger Sicht gegen eine Rückkehr in sein Herkunftsland spreche, erklärte der Beschwerdeführer, sein Vater werde in Tschetschenien gesucht; wenn der Beschwerdeführer zurückkehre, werde man ihn aufgrund seines Familiennamens erkennen und erschießen oder ihn foltern, damit sein Vater nach Tschetschenien zurückkommt. Der Beschwerdeführer hätte nichts gemacht, er sei damals gerade einmal acht Jahre alt gewesen. Zu seinem Lebensunterhalt in Österreich führte er aus, sein Vater habe zwei Boxclubs und hätte Wohnungen vermietet, Geld sei demnach kein Problem. Seine Eltern hätten ihn finanziell unterstützt und täten dies nach wie vor. In Österreich würden seine Eltern, seine Geschwister, ein Onkel, eine Tante sowie die Verlobte des Beschwerdeführers leben. Der Beschwerdeführer spreche sehr gut Deutsch. Der Beschwerdeführer könnte sofort als Security oder bei einer näher angeführten Firma arbeiten. Der Beschwerdeführer sei in Österreich aufgewachsen; in Tschetschenien habe er nur mehr weitschichtige Verwandte, mit denen er gelegentlich Kontakt hätte. In der Justizanstalt habe er sechs Monate eine Gruppentherapie besucht und merke selbst, dass er ruhiger geworden sei. Gesundheitlich ginge es ihm gut, er benötige keine Medikamente. In Russland respektive Tschetschenien hätte er keine Perspektive. Vor allem die Politik dort sei ganz schlecht, zudem sei da auch noch die Sache mit seinem Vater. Der Beschwerdeführer hätte zu Tschetschenien keinen Bezug. Der Beschwerdeführer bereue seine Taten. Er verfolge auch die Politik hier in Österreich und die Probleme, die straffällige Ausländer verursachen würden. Ihm sei bewusst, dass er zu dieser Gruppe gehöre. Er hätte nie darüber nachgedacht, wisse jetzt aber, dass Österreich gut zu ihm gewesen wäre, ihm geholfen und Schutz gegeben hätte. Der Beschwerdeführer verzichtete auf die Einsichtnahme in die herangezogenen Berichte zur Lage in seinem Herkunftsstaat und führte aus, wenn er in Grosny ankomme, sehe die Polizei bei seiner Ankunft sofort, dass er aus einem anderen Land komme. Er würde verhört werden, weshalb er so lange im Ausland gewesen wäre und sein Land verraten hätte. Es bestünde die Gefahr, dass er gefoltert würde. Wenn er nach Tschetschenien ginge, könnte ihm, da sein Vater Freiheitskämpfer gewesen wäre und gesucht würde, der Tod oder Folter drohen. In der Justizanstalt arbeite er von Montag bis Donnerstag als Elektriker, von Freitag bis Sonntag ginge er seinen Hobbies nach.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 30.12.2019 wurde dem Beschwerdeführer in Spruchteil I. der ihm mit Bescheid vom 12.10.2005, Zahl: 05 00.301-BAG, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 idgF aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchteil II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und gemäß „§ 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 0 FPG“ ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt VII.).

Die Entscheidung über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde auf die neun vorliegenden strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers gestützt. Weiters wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation keiner Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt sein werde. Aufgrund der mehrmaligen und einschlägigen Straffälligkeit sei der Beschwerdeführer als gemeingefährlicher Täter anzusehen. Der Beschwerdeführer sei sechsmal zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, wobei das Gesamtausmaß der Freiheitsstrafen sieben Jahre und fünf Monate betrage. Die Taten seien als besonders schwere Verbrechen einzustufen, zumal sie sich gegen besonders geschützte Rechtsgüter gerichtet hätten. Durch die wiederholt unter Gewaltanwendung gegen andere Personen begangenen Taten sei eindeutig das mangelnde Rechtsbewusstsein und die Bereitschaft des Beschwerdeführers, andere Personen in ihren Rechtsgütern zu verletzen, ersichtlich. Der Beschwerdeführer hätte den Asylstatus aufgrund der Fluchtgründe seines Vaters zuerkannt bekommen. Bezüglich seiner Befürchtungen einer politischen Verfolgung aufgrund der Fluchtgründe seines Vaters werde angeführt, dass sein Vater sich bezüglich seiner Fluchtgründe auf Vorkommnisse im ersten Tschetschenienkrieg berufen hätte. Dem vorliegenden Berichtsmaterial ließen sich keine Hinweise entnehmen, dass in den letzten Jahren oder derzeit Personen, die den Widerstand in den Jahren vor der letzten offiziellen Amnestie 2006 unterstützt oder selbst gekämpft hätten, und eine Amnestie in Anspruch genommen hätten oder mit einer solchen Person verwandt seien, nun alleine deshalb Verfolgung drohen würde. Betroffen seien hauptsächlich Unterstützer und Familienmitglieder gegenwärtig aktiver Widerstandskämpfer, weshalb eine Verfolgung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat nicht festzustellen gewesen sei. Aus einer Abwägung ergebe sich, dass die persönlichen Anfangsschwierigkeiten des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat gegenüber der von ihm ausgehenden Gefahr für die Sicherheit in Österreich zurücktreten würde und die Aberkennung des Status daher geboten wäre.

Der Beschwerdeführer sei jung und arbeitsfähig und könnte sich seine in Österreich erworbenen beruflichen Fähigkeiten in seinem Heimatland zu Nutze machen. Der Beschwerdeführer spreche muttersprachlich Tschetschenisch und könnte seine Kenntnisse des Russischen nach einer Rückkehr wieder ausbauen. Dem Beschwerdeführer wäre es möglich, durch seine in Österreich ansässige Familie unterstützt zu werden. Durch seine in Österreich lebenden Verwandten und Bekannten hätte der Beschwerdeführer mit größter Wahrscheinlichkeit Anknüpfungspunkte in Tschetschenien, die ihm in der ersten Zeit nach einer Rückkehr eine Unterkunft und Unterstützung zur Verfügung stellen könnten. Die nach einer Rückkehr vorzunehmende Registrierung ermögliche dem Beschwerdeführer den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen, zum Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt seines Herkunftsstaates. Es bestünden sohin keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr eine unmenschliche Behandlung drohe, weshalb Gründe für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht vorliegen würden. Zudem sei der Beschwerdeführer aufgrund seiner Straffälligkeit gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 von der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ausgeschlossen. Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 hätten sich im Verfahren ebenfalls nicht ergeben.

Der Beschwerdeführer sei als neunjähriges Kind gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern ins Bundesgebiet eingereist, habe hier die Hauptschule absolviert und eine Lehre als Elektriker begonnen, jedoch nicht abgeschlossen. Der Beschwerdeführer habe als Security gearbeitet, spreche ausreichend Deutsch und habe bis zur Verhaftung von Unterstützung seiner vermögenden Eltern gelebt. Der Beschwerdeführer sei zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, aus welcher er voraussichtlich im Jahr 2021 entlassen werde. Eine nachhaltige Integration seiner Person habe bereits angesichts seiner wiederholten Verurteilungen nicht festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer hätte seine Verlobte zwei Monate vor seiner letzten Inhaftierung kennengelernt; da dieser bereits seit Mai 2018 in Haft sei, die Beziehung zu seiner Verlobten ihn nicht von der Begehung einer weiteren Straftat abgehalten hätte und die Haft voraussichtlich noch bis 2021 andauern werde, stelle die Rückkehr in die Russische Föderation keinen Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers dar. Aufgrund der vorliegenden Straftaten erfolge durch eine Aufenthaltsbeendigung kein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Familien- und Privatleben.

Hinsichtlich des ausgesprochenen Einreiseverbotes wurde festgehalten, die Erfüllung des Tatbestandes des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG indiziere das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Der Beschwerdeführer habe kontinuierlich strafrechtliche Delikte begangen und damit seinen Unwillen zur Beachtung der österreichischen Rechtsordnung zum Ausdruck gebracht.

3. Mit am 29.01.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften eingebracht. Begründend wurden wurde zunächst das Vorliegen von Ermittlungs- und Begründungsmängeln ins Treffen geführt. Richtig sei, dass gegen den Beschwerdeführer neun Verurteilungen vorlägen; dabei handle es sich vorwiegend um Delikte wegen Körperverletzung, Diebstahl, Nötigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Es sei aber nicht ausreichend, an mehreren Stellen im Bescheid den bloßen Urteilstenor zu zitieren; vielmehr seien die Strafakten beizuschaffen und darauf basierend die Beurteilung der Schwere der Taten vorzunehmen. Der Beschwerdeführer sei bis zum Jahr 2017 als Jugendlicher bzw. junger Erwachsener zu behandeln gewesen. Der Beschwerdeführer, welcher bereits im Kindesalter die Ermordung der Mutter in Tschetschenien habe mitansehen müssen, räume durchaus ein, dass er zu Aggressionen neige. Die strafrechtlichen Verurteilungen würden weder einzeln noch gesamtbetrachtend das Kriterium eines „besonders schweren Verbrechens“ erreichen. Letztlich habe sich die Behörde mit dem angegebenen Verfolgungsgrund in Tschetschenien nicht ausreichend auseinandergesetzt. Der Vater des Beschwerdeführers hätte im sogenannten zweiten Tschetschenienkrieg Rebellen durch Hilfstätigkeiten unterstützt. Sein Wohnhaus sei Gegenstand eines Anschlages geworden, seine damalige Gattin und ein Kind seien getötet worden. Der Vater werde auch heute noch von russischen Behörden gesucht. Die Einvernahme des Vaters des Beschwerdeführers als Zeuge werde beantragt. Verwiesen wurde auf zwei anbei übermittelte ACCORD-Anfragebeantwortungen vom 03.02.2016 [a9467-1] und vom 31.05.2016 [a-9589-3] zur Verfolgung von Familienangehörigen von Rebellen. Aus diesen ginge hervor, dass Angehörige von ehemaligen Rebellen der beiden Kriege sehr wohl von staatlicher Verfolgung betroffen sein könnten. Es werde daher im weiteren Verfahren die Tätigkeit des Vaters des Beschwerdeführers im zweiten Tschetschenienkrieg, seine erlittenen Übergriffe sowie die aktuelle Lage zu ergeben sein. Es dürfe nicht übersehen werden, dass der Beschwerdeführer seine Taten bereue und sein überwiegendes Leben in Österreich verbracht hätte. Eingeräumt werde, dass die Integration des Beschwerdeführers durch die Vorstrafen getrübt sei; im Sinne einer Gesamtbetrachtung sei jedoch dem engen, intensiven und langjährigen Familienleben der Vorrang einzuräumen. Insbesondere seien die Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes daher nicht vorgelegen.

4. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 31.01.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Seine Identität steht fest. Diesem wurde mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.10.2005 in Stattgabe seines im Jänner 2005 infolge illegaler Einreise in das Bundesgebiet gestellten Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Der Beschwerdeführer ist aufgrund der der Tatsache, dass sein Vater im zweiten Tschetschenienkrieg Rebellen mit Hilfstätigkeiten unterstützt hat, keiner Verfolgung durch die Behörden seines Herkunftsstaates ausgesetzt. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau, zudem spricht er grundlegend Russisch und verfügt über Angehörige im Herkunftsstaat und in Österreich. Der Beschwerdeführer, welcher sein Heimatland im Alter von acht Jahren verlassen und im Bundesgebiet eine Schulbildung absolviert hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen.

1.3. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen §§ 127, 129 Z 2 StGB § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten verurteilt, welche ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden ist (Jugendstraftat).

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen §§ 127, 130 1. Fall StGB § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt, von der ihm ein Teil in der Höhe von neun Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden ist (Jugendstraftat).

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB, §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB zu einer (Zusatz-)Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten, welche ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren und Anordnung der Bewährungshilfe bedingt nachgesehen worden ist, verurteilt (Jugendstraftat).

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer im Jänner 2013 eine Person durch Versetzen eines Faustschlages sowie eines Tritts mit dem linken Knie gegen dessen Gesicht vorsätzlich am Körper verletzt hat, wodurch das Opfer einen verschobenen Nasenbeinbruch, eine Prellung des linken Oberkiefers, mithin eine an sich schwere Körperverletzung, erlitt; überdies hat er im Dezember 2012 eine weitere Person durch Versetzen von zwei Faustschlägen ins Gesicht, wodurch diese eine leichte Körperverletzung erlitt, vorsätzlich am Körper verletzt

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB, §§ 127, 129 Z2 StGB, § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit Mittätern in mehreren Angriffen Einbruchsdiebstähle begangen hat und überdies gemeinsam mit einem Mittäter eine Person durch Versetzen mehrerer Schläge gegen dessen Kopf bzw. Körper vorsätzlich am Körper verletzt hat.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 15 StGB § 105 StGB, § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Monaten verurteilt.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer einer anderen Person im Mai 2015 einen Faustschlag ins Gesicht versetzte, wodurch der Genannte eine Jochbeinprellung rechts, eine Gehirnerschütterung und eine Prellung des rechten Augapfels erlitten hat. Wenige Tage später hat er durch gefährliche Drohung zumindest mit einer Verletzung am Körper zur Unterlassung der Anzeigeerstattung bzw. Zurückziehung der Anzeige zu nötigen versucht, indem er gegenüber dem Bruder des Opfers der Körperverletzung äußerte, er werde seine Leute schicken, welche den Zweitgenannten abstechen würden, sollte dieser seine Anzeige nicht zurückziehen.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 15 StGB, § 269 Abs. 1 1. Fall StGB, §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von einem Jahr verurteilt.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer als Insasse einer Justizanstalt versucht hat, einen Justizwachebeamten an einer Amtshandlung, nämlich an seiner Verlegung in eine besonders gesicherte Zelle und der dortigen Anhaltung zu hindern, indem er massiv mit den Händen um sich schlug und einem der Beamten einen Faustschlag in dessen Gesicht versetzte. Hierdurch hat der Beschwerdeführer einen Beamten während der Vollziehung seiner Aufgaben, der eine Prellung im Gesicht erlitt, vorsätzlich am Körper verletzt.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB, § 15 StGB, § 84 Abs. 4 StGB, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 24 Monaten verurteilt.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer drei Personen durch Faustschläge gegen den Gesichtsbereich am Körper verletzt hat; eine weitere Person hat er schwer zu verletzen versucht, indem er dieser Faustschläge und einen Fußtritt gegen dessen Gesicht bzw. Kopf versetzt hat, wodurch das Opfer bewusstlos wurde und eine Rissquetschwunde im Bereich des Mundes sowie eine Prellung des Ellenbogens mit Hautabschürfungen erlitt. Bei der Strafbemessung als erschwerend wertete das befasste Gericht das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit mehreren Vergehen, vier einschlägige Vorstrafen, den raschen Rückfall und das Vorliegen der Rückfallsvoraussetzungen nach § 39 StGB soqiw als mildernd, dass es teilweise beim Versuch geblieben war. Festgehalten wurde, dass aufgrund der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers in Bezug auf sein durch mehrere einschlägige Vorstrafen getrübtes Vorleben im Besonderen, sowie aufgrund der Tastsache, dass bislang kürzer ausgefallene unbedingte Freiheitsstrafen keine Wirkung gezeigt haben, jedenfalls eine empfindliche unbedingte Freiheitsstrafe zu verhängen gewesen sei, um diesem das Unrecht seiner Straftaten vor Augen zu führen und der Begehung weiterer solcher Handlungen entgegenzuwirken.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1, 84 Abs. 4 StGB zu einer (Zusatz-)Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer im Februar 2017 in der Justizanstalt eine andere Person durch einen Faustschlag am Körper verletzt hat, welche dadurch, wenn auch nur fahrlässig, eine an sich schwere Körperverletzung, nämlich einen verschobenen Nasenbeinbruch erlitten hat.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten verurteilt.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer im April 2019 einen Justizwachebeamten zumindest mit einer Verletzung am Körper bedroht hat, um diesen in Furcht und Unruhe zu versetzen.

Ein weiterer Aufenthalt seiner Person würde eine erhebliche Gefährdung öffentlicher Interessen an der Verhinderung von Straftaten gegen die Rechtsgüter Leib und Leben sowie fremdes Vermögen darstellen, zumal auf Grundlage seines bisher gesetzten Verhaltens die Gefahr einer neuerlichen Straffälligkeit, insbesondere im Bereich der (schweren) Körperverletzungsdelikte, zu prognostizieren ist. Ein Wegfall der von seiner Person ausgehenden Gefährdung kann zum Entscheidungszeitpunkt frühestens nach einem Ablauf von zehn Jahren prognostiziert werden.

1.4. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. In Österreich verbüßt der Beschwerdeführer derzeit eine Haftstrafe. Im Bundesgebiet befinden sich der Vater, die Stiefmutter und Geschwister des Beschwerdeführers, die im Jahr 2005 gemeinsam mit ihm eingereist waren. Der Beschwerdeführer lebte bis zur Inhaftierung im gemeinsamen Haushalt mit seinen Angehörigen, steht zu diesen jedoch in keinem persönlichen oder finanziellen Abhängigkeitsverhältnis. Außerdem leben eine Tante und ein Onkel des Beschwerdeführers in Österreich, zu welchen ebenfalls kein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Der Beschwerdeführer hat eine Verlobte im Bundesgebiet, welche er zwei Monate vor der letztmaligen Inhaftierung kennengelernt hat, mit der er bislang in keinem gemeinsamen Haushalt gelebt hat und zu der er aufgrund der Verbüßung der Haftstrafe nur eingeschränkten Kontakt hatte. Der Beschwerdeführer hat sich Deutschkenntnisse angeeignet und im Bundesgebiet die Pflichtschule absolviert. Eine weitergehende Ausbildung hat er nicht abgeschlossen. Er hat eine Lehre als Elektriker begonnen und arbeitet auch während des Strafvollzugs in diesem Bereich. Der Beschwerdeführer war seit Erreichen der Volljährigkeit nicht selbsterhaltungsfähig.

1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 13.3.2019). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 6.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 6.8.2019

Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition.

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich zu den föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2018).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, AI 22.2.2018, HRW 17.1.2019). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 13.3.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssten mitsamt ihren Familien Tschetschenien verlassen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2018) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019

-        AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 23.9.2019

-        DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 7.8.2019

-        ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 7.8.2019

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl es Mechanismen zur Untersuchung von Misshandlungen gibt, werden Misshandlungsvorwürfe gegen Polizeibeamte nur selten untersucht und bestraft. Straffreiheit ist weit verbreitet (US DOS 13.3.2018), ebenso wie die Anwendung übermäßiger Gewalt durch die Polizei (FH 4.2.2019).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 13.3.2019).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Chef der Republik, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 13.3.2019). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden „unantastbaren Polizeieinheiten“ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind auch in Moskau präsent (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 7.8.2019

-        HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 7.8.2019

-        US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 7.8.2019

Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 8.2019a). Die Verfassung postuliert die Russischen Föderation als Rechtsstaat . Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland ist an folgende UN-Übereinkommen gebunden:

- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

- Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

- Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

- Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

- Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

- Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.9.2012) (AA 13.2.2019).

Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 317 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat dabei fast alle Empfehlungen akzeptiert und nur wenige nicht berücksichtigt. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der EMRK. Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des EGMR um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert [Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 13.2.2019).

Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie der unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Leute für wohltätige Projekte engagieren und freiwillige Arbeit leisten. Regionale zivile Kammern wurden zu einer wichtigen Plattform im Dialog zwischen der Zivilbevölkerung und dem Staat in Russlands Regionen (ÖB Moskau 12.2018). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AI 22.2.2018, FH 4.2.2019). Der konsultative „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim russischen Präsidenten übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 13.2.2019). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur führen zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Folter und andere Misshandlungen sind nach wie vor verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wird weiter erschwert. Im Nordkaukasus kommt es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018). Derzeit stehen insbesondere die LGBTI-Community in Tschetschenien sowie die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Russland unter Druck (ÖB Moskau 12.2018).

Im Zuge der illegalen Annexion der Krim im März 2014 und der Krise in der Ostukraine wurde die Gesellschaft v.a. durch staatliche Propaganda nicht nur gegen den Westen mobilisiert, sondern auch gegen die sog. „fünfte Kolonne“ innerhalb Russlands. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland derzeit aufgrund prozeduraler Unstimmigkeiten ausgesetzt bleibt, werden konkrete Projekte zum Menschenrechtsschutz weiterhin im Kontext des Europäischen Instruments für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR) gefördert. Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert (ÖB Moskau 12.2018)

Der aktuelle Jahresbericht der föderalen Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa für das Jahr 2017 bestätigt die Tendenz der russischen Bevölkerung zur Priorisierung der sozialen vor den politischen Rechten. Im Auftrag ihrer Einrichtung hat die Public Opinion Foundation (FOM) eine Studie über die Meinung der Bürger Russlands über die Einhaltung von Menschenrechten in der Russischen Föderation durchgeführt. Dabei konnte eine positive Entwicklung im Vergleich zu 2016 festgestellt werden: 41% der Befragten (2016: 39%) meinten, dass Menschenrechte in Russland geschützt werden, 39% (2016: 46%) waren gegenteiliger Meinung. Die Mehrheit der Teilnehmer ist allerdings der Auffassung, dass sich die Menschenrechtslage in Russland nicht geändert habe. Im Zuge der Berichterstattung der Menschenrechtsbeauftragten an den russischen Präsidenten vom August 2018 zeigte sich, dass die meisten Beschwerden im Jahr 2017 arbeits-und wohnrechtliche Themen, das Gesundheits- und Schulwesen sowie Straf- und Verfahrensrechte betrafen, allgemein habe sich aber die Meinung der russischen Bevölkerung über den Menschenrechtsschutz verbessert. Unter Druck steht auch die Freiheit der Kunst, wie etwa die Kontroversen um zeitgenössisch inszenierte Produktionen von Film, Ballett und Theater zeigen (ÖB Moskau 12.2018).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend „Aufständische“ und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet (ÖB Moskau 12.2018), und es werden von dort schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlin

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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