TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/12 L506 2234994-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.11.2020
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Entscheidungsdatum

12.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L506 2234994-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. GABRIEL als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Staatenlos (Palästinensische Autonomiegebiete – Westjordanland), vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.08.2020, Zl. XXXX , Regionaldirektion Wien, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3 und § 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend BF) stammt aus den palästinensischen Autonomiegebieten und ist staatenlos. Er stellte am 29.11.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Anlässlich der Erstbefragung am selben Tag gab der BF zu seinen Daten an, dass er in Jordanien geboren und palästinensischer Staatsangehöriger bzw. staatenlos sei. Er sei Araber mit sunnitischer Religionszugehörigkeit und er sei verheiratet. Seine Frau sei österreichische Staatsbürgerin und lebe mit den drei gemeinsamen minderjährigen Kindern in XXXX . In seinem Heimatland habe er 12 Jahre die Grundschule besucht und als Maler gearbeitet. Seine Eltern und Geschwister seien nach wie vor in Palästina aufhältig. Seinen Ausreiseentschluss habe er im Oktober 2019 gefasst und er sei mit einem spanischem Visum C, gültig bis 30.11.2019, über Jordanien und Spanien nach Österreich geflogen. Befragt zu seinen Ausreisegründen gab der BF an, er sei in seinem Heimatland von der Fatah-Bewegung zu Unrecht beschuldigt worden, Informationen an die Hamas-Bewegung weitergegeben zu haben; er sei mehrmals abgeholt und befragt worden. Bei Rückkehr fürchte er weitere Befragungen durch die Fatah-Bewegung.

3. Am 10.03.2020 erfolgte eine Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA). Dort gab der BF an, dass er Araber mit sunnitischer Religionszugehörigkeit und gesund sei. Er habe 2011 in Palästina geheiratet, die Ehefrau sei österreichische Staatsbürgerin, lebe mit den drei gemeinsamen Kindern in XXXX und sei etwa zwei Mal im Jahr nach Palästina auf Besuch gekommen. Der BF habe 2017 einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt, welcher 2018 abgelehnt worden sei. Deshalb habe er ein spanisches Visum beantragt – und auch bekommen. Zum Ausreisegrund befragt wiederholte der BF sein Vorbringen aus der Erstbefragung, wonach er von der Fatah-Bewegung mehrmals abgeholt und zu seiner Verbindung zur Hamas-Bewegung befragt worden sei, obwohl er an diesen politischen Bewegungen nicht interessiert sei. Bei Rückkehr fürchte er weitere Befragungen durch die Fatah-Bewegung und er ersuche um ein Visum, damit er in Österreich bei seiner Familie bleiben könne.

4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.08.2020 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Palästina abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung nach Palästina gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI).

Nach Wiederholung des Vorbringens des BF stellte das BFA fest, dass die Identität des BF feststehe, dieser Araber und muslimisch-sunnitischen Glaubens und mit einer in Österreich lebenden österreichischen Staatsbürgerin verheiratet sei, mit der er drei Kinder habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass der BF in Palästina einer Verfolgung durch staatliche Organe oder Privatpersonen unterliege.

Das BFA führte beweiswürdigend aus, dass der BF seinen Asylantrag missbräuchlich gestellt habe, da sein eigentliches Motiv eine Familienzusammenführung gewesen sei.

Spruchpunkt II. begründete die Behörde zusammengefasst damit, dass das Bestehen einer Gefährdungssituation iSd § 8 Abs 1 Z 1 AsylG zu verneinen sei.

Zu den Spruchpunkten III.-VI. hielt das BFA fest, dass nach Interessensabwägung die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung für den Beschwerdeführer keinen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle.

5. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 20.08.2020 wurde gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt und gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG der BF verpflichtet, ein Rückkehrberatungsgespräch bis zum 04.09.2020 in Anspruch zu nehmen.

6. Gegen den oa. Bescheid erhob der BF binnen offener Frist vollumfängliche Beschwerde. Zu deren Inhalt im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen (zur Zulässigkeit dieser Vorgangsweise: VwGH 16.12.1999, 99/20/0524).

Nach kurzer Darlegung des Sachverhaltes wurde darauf verwiesen, dass dem BF wegen des Verdachts, Informationen an die Hamas-Bewegung weitergegeben zu haben, Verfolgung aus politischen Gründen drohe und er bei Rückkehr fürchte, von der Fatah-Bewegung aufgefunden und getötet zu werden. Zudem werde auf die angespannte Sicherheitslage im Herkunftsstaat des BF verwiesen sowie auf die fehlende Schutzfähigkeit bzw. –willigkeit des Staates Palästina. Moniert wurde weiters, dass das Familienleben des BF in Österreich und das Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Familie in der Interessensabwägung zu wenig gewichtet bzw. berücksichtigt worden sei und eine Abschiebung des BF nach Palästina einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Familienleben darstelle.

Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge den angefochtenen Bescheid des BFA zur Gänze beheben und dem BF gem. § 3 AsylG Asyl gewähren; den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit zur Gänze beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverweisen; für den Fall der Abweisung obiger Beschwerdeanträge gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG feststellen, dass dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf dessen Herkunftsstaat Pakistan zukomme; feststellen, dass die gem. § 52 FPG erlassene Rückkehrentscheidung gem. § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei, feststellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung (plus) gem. § 55 AsylG vorliegen und dem BF daher gem. § 58 Abs. 2 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung (plus) von Amts wegen zu erteilen sei und eine mündliche Beschwerdeverhandlung gem. § 24 Abs. 1 VwGVG durchzuführen.

7. Mit hg. Schreiben vom 19.10.2020 wurde dem BF Parteiengehör hinsichtlich hg. Feststellungen zur Situation im Westjordanland gewährt, doch langte binnen Wochenfrist bzw. bis zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt keine Stellungnahme des BF ein.

8. Hinsichtlich des Verfahrensganges und des Parteivorbringens im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

9. Beweis wurde erhoben durch die Einsichtnahme in den behördlichen Verwaltungsakt unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben des BF, des Bescheidinhaltes sowie des Inhaltes der gegen den Bescheid des BFA erhobenen Beschwerde. Einsicht genommen wurde zudem in die vom BFA in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des BF, die dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Verfahrensbestimmungen

1.1. Zuständigkeit der entscheidenden Einzelrichterin

1.1.1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA das Bundesverwaltungsgericht.

1.1.2. Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Aufgrund der geltenden Geschäftsverteilung wurde der gegenständliche Verfahrensakt der erkennenden Einzelrichterin zugewiesen, woraus sich deren Zuständigkeit ergibt.

2. Feststellungen (Sachverhalt):

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers wird festgestellt:

Der Beschwerdeführer stammt aus den palästinensischen Autonomiegebieten und ist staatenlos. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Araber mit muslemisch-sunnitischer Religionszugehörigkeit. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest.

Der Beschwerdeführer wurde in Jordanien geboren und war vor seiner Ausreise mit seinen Eltern und sechs Geschwistern in den palästinensischen Autonomiegebieten in der Stadt XXXX im Gouvernement Hebron im südlichen Westjordanland aufhältig. Er hat dort zwölf Jahre die Schule besucht, mit Matura abgeschlossen und seinen Lebensunterhalt als Maler verdient. Die Eltern und sechs Geschwister des BF sind nach wie vor im Herkunftsort des BF aufhältig und der BF steht mit ihnen in Kontakt.

Der Beschwerdeführer reiste legal aus seinem Heimatland aus und – über Spanien – nach Österreich mit einem spanischen Visum C, gültig bis 30.11.2019, legal in das österreichische Bundesgebiet ein; er stellte am 29.11.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer ist mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet und hat drei Kinder. Die Ehefrau und die Kinder des Beschwerdeführers leben in XXXX . Die Ehefrau bezieht seit 21.03.2019 Leistungen aus der bedarfsorientierten Mindestsicherung. Sie reiste etwa zwei Mal pro Jahr zu Besuchszwecken nach Palästina.

Der Beschwerdeführer stellte am 14.11.2017 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Familiennachzugs, welcher vom Magistrat der Stadt XXXX , XXXX , am 07.03.2018 abgewiesen wurde.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise in seinem Herkunftsstaat wegen einer unterstellten politischen Gesinnung einer individuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung ausgesetzt war bzw. im Falle seiner Rückkehr dorthin einer sonstigen Gefährdung oder Bedrohung ausgesetzt sein wird. Auch kann nicht festgestellt werden, dass der BF aufgrund seiner ihm unterstellten politischen Gesinnung einen – eine asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteil in seinem Herkunftsstaat zu erwarten haben wird.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Es können keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr liefe, in den palästinensischen Autonomiegebieten einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in die palästinensischen Autonomiegebiete einem innerstaatlichen oder internationalen Konflikt ausgesetzt wäre.

Zum Entscheidungszeitpunkt konnte auch keine sonstige aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in seinem Herkunftsstaat festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer hat keinen Nachweis über eine abgelegte Deutschprüfung oder über die Teilnahme an Kursen beigebracht; er ist auch kein Mitglied in einem Verein oder sonstigen Organisation. Im Strafregisterauszug scheinen keine Verurteilungen des Beschwerdeführers auf und ist er unbescholten.

Es liegen weder die Voraussetzungen für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“, noch für einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK vor und ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung geboten. Es ergibt sich aus dem Ermittlungsverfahren überdies, dass die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers nach Palästina festzustellen ist.

2.2. Zur Lage im Herkunftsstaat wird festgestellt:

Politische Lage

Die Palästinensischen Gebiete bestehen aus dem Westjordanland, dem Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem (AA 6.11.2019a). Palästina hat den Status eines Völkerrechtssubjekts, wird aber von Österreich nicht als Staat im Sinne des Völkerrechts anerkannt (BMEIA 18.3.2020). 137 Staaten erkennen Palästina als unabhängigen Staat an (GIZ 5.2020a). Konkret bedeutet der Beobachter-status als Nicht-Mitgliedstaat mehr Mitspracherechte bei den Vereinten Nationen. Künftig können die Palästinenser im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung – sofern sie betroffen sind – an Diskussionen teilnehmen und Resolutionen einbringen. Ein weiterer wichtiger Zugewinn ist der Zugang zu Unterorganisationen der UN wie dem Internationalen Strafgerichtshof (BPB 30.11.2012). Im Dezember 2014 stimmte das Europäische Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit (498 Stimmen dafür, 88 dagegen) für die „Quasi“-Anerkennung Palästinas als Staat. Dieses Votum ist rechtlich nicht bindend, aber es sendet eine starke Botschaft an die internationale Gemeinschaft. Schweden ist einen Schritt weiter gegangen und hat Palästina offiziell als Staat anerkannt (BBC 17.12.2014).

Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO – Palestinian Liberation Organisation) wurde 1964 gegründet, 1974 als einzig legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes von der UNO anerkannt und erhielt den Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen (VP o.D.; vgl. Britannica o.D.). 1993 kam es zum Oslo-Abkommen zwischen Israel und der PLO (BPB 17.7.2011). Im Jahr 1993 folgte die Anerkennung der PLO als einzige Vertreterin der Palästinenser durch Israel (Israel MFA 10.9.1993). Die PLO ist die Dachorganisation für die verschiedenen palästinensischen Parteien und Bewegungen, darunter die Fatah, die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die Arabische Befreiungsfront, die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), die Palästinensische Befreiungsfront (PLF) und die Palästinensische Volkspartei (PPP). Hamas und Islamischer Dschihad sind nicht in der PLO vertreten (VP o.D.; vgl. SZ 12.1.2018).

Die Palästinensische Autonomiebehörde wurde 1994 nach Abschluss der Osloer Verträge zwischen Israel und der PLO gegründet. Grundpfeiler des politischen Systems sind der Präsident, die Regierung unter Vorsitz eines Premierministers sowie das Parlament, der sogenannte Legislativrat (PLC) mit 132 Sitzen. Das Wahlrecht sieht Verhältniswahl (Landesebene) und Direktwahl (Bezirksebene) vor. Die letzten Wahlen in der Westbank und Gaza fanden im Januar 2006 statt; die vierjährige Legislaturperiode ist seit 2010 abgelaufen. Der Legislativrat tagt seit der Machtübernahme der Hamas in Gaza im Juni 2007 nicht mehr. Am 22.12.2018 hat Präsident Abbas den PLC für aufgelöst erklärt (AA 6.11.2019b; vgl. FH 4.2.2019). Parlamentswahlen hätten in den folgenden sechs Monaten stattfinden sollen, was nicht passierte. Die Hamas lehnte die Entscheidung über die Auflösung des PLC ab (FH 4.2.2019; vgl. FH 2020). Der Präsident der PA wird vom Volk direkt gewählt. Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden im Januar 2005 statt. Die Amtszeit von Präsident Abbas ist formal seit 2009 abgelaufen (AA 6.11.2019b; vgl. FH 4.2.2019).

Nach dem Erdrutschsieg der Hamas [Anm.: bei den Wahlen im Jahr 2006] begannen die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern von Hamas und Fatah, in deren Verlauf Hunderte von Menschen ums Leben kamen. Ihren Höhepunkt fanden sie im Juni 2007 im Gazastreifen, als die Hamas mit Gewalt die Kontrolle über alle Sicherheitseinrichtungen und Regierungsgebäude der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA, Palestinian Authority) übernahm. Von diesem Zeitpunkt an war Palästina zweigeteilt, in einen von der Hamas kontrollierten Gazastreifen und ein von der Fatah kontrolliertes Westjordanland. In beiden Gebieten wurden Aktivisten der jeweils anderen Seite inhaftiert und misshandelt, deren Ein¬richtungen geschlossen, ihre Medien verboten und ihre Demonstrationen aufgelöst (GIZ 5.2020a).

In den letzten Jahren sind mehrere Versöhnungsversuche zwischen Fatah und Hamas gescheitert (CGRS 6.3.2020) bzw. bleiben weiterhin erfolglos (FH 4.2.2019). Am 12.10.2017 unterzeichneten Fatah und Hamas in Kairo erneut ein Versöhnungsabkommen. Nach 2011 und 2014 ist dies der dritte Versuch, den seit mehr als zehn Jahren bestehenden Konflikt zwischen den beiden wichtigsten politischen Bewegungen in Palästina zu überwinden. Am 21. Dezember 2017 erklärte jedoch der Hamas-Chef im Gazastreifen Yahia al-Sinwar, dass das Abkommen vom 12.10.2017 dabei sei, zu scheitern (GIZ 5.2020a). Es gibt noch keinen Termin für die nächsten Präsidentschaftswahlen (FH 2020; vgl. FH 4.2.2019; CGRS 6.3.2020). Entscheidungen über die Durchführung von Wahlen sind stark politisiert. Die PA führte 2017 Gemeinderatswahlen im Westjordanland durch, aber die Hamas lehnte angesichts der Streitigkeiten zwischen Hamas und Fatah über die Kandidatenlisten die Teilnahme ab, im Gaza-Streifen wurden keine Wahlen abgehalten (FH 4.2.2019). Die Gemeinderatswahlen von 2017 wiesen aufgrund des Boykotts wichtiger Oppositionsgruppen keinen nennenswerten politischen Wettbewerb auf. Neben der Fatah gibt es in der Westbank eine Reihe kleiner palästinensischer Parteien, die relativ frei operieren. Gegen Anhänger der Hamas und Rivalen von Präsident Abbas innerhalb der Fatah geht die PA jedoch hart vor. Israel hält politische Aktivisten fest und verhaftet sie, wenn sie als Bedrohung für die israelische Sicherheit wahrgenommen werden (FH 2020).

Die palästinensischen Gebiete sind seit Juni 1967 von Israel besetzt und seit Mai 1994 sind Teile der Gebiete unter begrenzter palästinensischer Selbstverwaltung durch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). In den A-Gebieten (aktuell 17,2 Prozent des Westjordanlands) ist die PA zuständig für die zivile Verwaltung und tagsüber für die innere Sicherheit. In den B-Gebieten (23,8 Prozent der Westbank) ist die PA für die zivile Verwaltung zuständig und Israel für die innere Sicherheit. In den C-Gebieten (Siedlerstraßen, Naturschutzgebiete, die israelischen Siedlungen, militärischen Einrichtungen und sonstige sicherheitsrelevante Gebiete, die insgesamt ca. 60 Prozent des Gebietes ausmachen) ist die PA nur für Bildung und Gesundheitsversorgung [Anm.: der palästinensischen Bevölkerung] zuständig. Die Genehmigung von entsprechender Infrastruktur ist jedoch Sache der israelischen Zivilverwaltung. Für alle auf das Land bezogenen Angelegenheiten wie Landvergabe, Planung und Bau, Infrastruktur und Wasser sowie für die innere Sicherheit ist Israel zuständig (GIZ 5.2020a; vgl. USDOS 21.6.2019). Theoretisch behält Israel in der Westbank nur in Zone C die volle Kontrolle, tatsächlich beeinflusst Israels Kontrolle im Gebiet C alle Einwohner der Westbank. Es gibt 166 A- und B-Gebiete, in denen sich die palästinensische Bevölkerung konzentriert, und die verstreut - wie Inseln - im C-Gebiet liegen. Die diese Gebiete umgebenden Landreserven sind oftmals als C-Gebiet deklariert, und Israel verbietet das Bebauen oder landwirtschaftliche Nutzen dieses Landes (ICG 19.6.2014; vgl. HRW 11.1.2016).

BBC News (12.2.2020): UN lists 112 businesses linked to Israeli settlements, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-51477231, Zugriff 25.5.2020

Die Fähigkeit des Präsidenten und der Ministerien der PA, politische Entscheidungen umzusetzen, ist in der Praxis durch die direkte israelische Militärkontrolle über einen Großteil der Westbank begrenzt. Die PA ist im Gebiet C praktisch nicht in der Lage, Dienstleistungen zu erbringen, Zugang zu erhalten oder Systeme zum Management von Wasser-, Abfall- oder Landressourcen zu entwickeln (FH 2020). In 70 Prozent der Westbank, d.h. im Gebiet C, untersagt Israel der palästinensischen Bevölkerung bauliche Aktivitäten (HRW 11.1.2016). Israel hält regelmäßig den Transfer von Steuereinnahmen an die PA zurück, was sich auf die Gehaltszahlungen und die Umsetzung der Politik auswirkt (FH 2020). Die Rivalität zwischen Hamas und Fatah schwächt nicht nur die palästinensische Position gegenüber Israel, sondern auch die Legitimität der palästinensischen Institutionen (BPB 17.11.2017). Viele Palästinenser sind mit der Politik der PA unzufrieden, bzw. haben kein Vertrauen in ihre Politik (MEE 15.2.2019).

Der Zersplitterung der palästinensischen Wohngebiete stehen die wachsenden 237 israelischen Siedlungen in Ostjerusalem und der Westbank, die auch Industriegebiete umfassen, gegenüber. In den Siedlungen leben etwa 500.000 Israelis (HRW 11.1.2016). Eine andere Quelle spricht von 600.000 Israelis, die in mehr als 200 Siedlungen im Westjordanland sowie in Ost-Jerusalem wohnen. Der UN-Sicherheitsrat hatte 2016 einen vollständigen Siedlungsstopp von Israel gefordert. Siedlungen wurden als Verstoß gegen internationales Recht und als großes Hindernis für einen Frieden in Nahost bezeichnet (DS 20.11.2018). Die israelische Besetzung der Westbank mit ihrem weiter andauernden Siedlungsbau und militärischen Checkpoints haben gemeinsam mit den palästinensischen Attacken zu einer Verlangsamung des Vorankommens in Richtung einer endgültigen Übereinkunft geführt und dazu, dass auf beiden Seiten über den Wert der Osloer Verträge diskutiert wird (BBC 8.4.2020). Die israelische Regierung treibt den Bau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten, die Zerstörung palästinensischer Häuser und Infrastruktur sowie die Vertreibung von Beduinen aus ihren Dörfern und Weidegründen und die Beschlag-nahmung von palästinensischem Land weiter voran (BPB 17.11.2017; vgl. FH 2020).

Im September 2019 kündigte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu seine Absicht an, das Jordantal im Westjordanland zu annektieren (FH 2020; vgl. HRW 14.1.2020). Auch der Nahost-Friedensplan der USA sieht vor, dass Israel die Souveränität über das Jordantal und die jüdischen Siedlungen in der Westbank erhält (NYT 28.1.2020). Diese in Aussicht genommenen Annexionen wurden weithin verurteilt und sind noch unklar (Reuters 8.2.2020). Palästinensische Politiker warnen davor, dass eine de facto-Annektierung die beschränkte Kooperation [Anm.: zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde] gefährden könnte (TWP 13.5.2020). Anfang 2020 demonstrierten tausende Palästinenser in der Westbank gegen den Nahost-Friedensplan von US-Präsident Trump. Es gab Verletzte (MEE 29.1.2020) und Tote (Haaretz 11.2.2020). Die Palästinenser verurteilten eine mögliche Annexion von Teilen des Westjordanlands als "Ende der Zweistaatenlösung". Die USA sind bisher das einzige Land weltweit, das eine Annexion von Teilen des Westjordanlands durch Israel offiziell unterstützt (DS 13.5.2020; vgl. DS 11.2.2020). Die Arabische Liga sprach von einem "neuen Kriegsverbrechen" gegen die Palästinenser (DS 13.5.2020). Gegner der Annexion warnen vor einer neue Welle von israelisch-palästinensischer Gewalt (NYT 12.5.2020).

Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Mahmoud Abbas erklärte in Reaktion auf die Annexionspläne den Rücktritt der PA von den Friedens- und Sicherheitsabkommen mit Israel und den USA - inklusive des Oslo-Abkommens von 1993. Wie sich dies auf die Sicherheits-kooperation vor Ort auswirken würde, blieb vorerst unklar (TWP 20.5.2020). Das Aussetzen der Sicherheitsvereinbarung durch Abbas wurde mittlerweile von israelischer Seite bestätigt (DS 21.5.2020; vgl. NZZ 22.5.2020). Das Koalitionsabkommen der neuen israelischen Regierung sieht eine Abstimmung über die Annexion von bis zu 30 Prozent des Westjordanlands nach dem 1. Juli 2020 vor, vorausgesetzt die USA stimmen dem zu (TWP 20.5.2020).

Quellen:

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- AA - Auswärtiges Amt (6.11.2019b): Palästinensische Gebiete: Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/palaestinensischegebiete-node/politisches-portrait/204438, Zugriff 31.3.2020

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- DS - Der Standard (20.5.2020): Abbas erklärt Ende aller Vereinbarungen mit Israel und USA, https://www.derstandard.at/story/2000117596111/abbas-erklaert-ende-aller-vereinbarungen-mit-israel-und-usa, Zugriff 20.5.2020

- DS – Der Standard (13.5.2020): Trumps Nahostplan im Koalitionsvertrag von Israels neuer Regierung, https://www.derstandard.at/story/2000117460015/trumps-nahost-plan-im-koalitionsvertrag-von-israels-neuer-regierung, Zugriff 14.5.2020

- DS - Der Standard (11.2.2020): Nahost-Plan: Washington pfeift wahlkämpfenden Netanjahu zurück, https://www.derstandard.at/story/2000114438993/nahost-plan-washington-pfeift-wahlkaempfenden-netanjahu-zurueck, Zugriff 14.5.2020

- DS – Der Standard (20.11.2018): Airbnb bietet Unterkünfte in israelischen Siedlungen nicht mehr an, https://www.derstandard.at/story/2000091788698/airbnb-bietet-unterkuenfte-in-israelischen-siedlungen-nicht-mehr-an, Zugriff 14.5.2020

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- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (22.5.2020): Die Palästinenser beenden die Sicherheitskooperation mit Israel, https://www.nzz.ch/international/palaestinenser-beenden-die-sicherheitskooperation-mit-israel-ld.1557745?reduced=true, Zugriff 29.5.2020

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- SZ – Süddeutsche Zeitung (12.1.2018): Warum die Hamas nun mit Islamisten kämpft, https://www.sueddeutsche.de/politik/palaestinenser-kampf-der-islamisten-1.3822891, Zugriff 3.4.2020

- TWP – The Washington Post (20.5.2020): Palestinian leader says he’s pulling out of peace agreements over annexation, https://www.washingtonpost.com/world/palestinian-leader-says-hes-pulling-out-of-peace-agreements-over-annexation/2020/05/19/fb7558a2-9a17-11ea-ad79-eef7cd734641_story.html, Zugriff 20.5.2020

- TWP - The Washington Post (13.5.2020): Clashes kill two in separate West Bank incidents, https://www.washingtonpost.com/world/middle_east/clashes-kill-two-in-separate-west-bank-incidents/2020/05/13/9e2b0fcc-94fc-11ea-87a3-22d324235636_story.html, Zugriff 14.5.2020

- USDOS – United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026368.html, Zugriff 31.3.2020

- USDOS – US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: Israel: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2011172.html, Zugriff 11.5.2020

- VP - Vertretung von Palästina in Österreich (o.D.): Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), https://www.palestinemission.at/palaestinensische-befreiungsorganis, Zugriff 31.3.2020

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Israel und den Palästinensischen Gebieten ist wesentlich vom israelisch-palästinensischen Konflikt geprägt (AA 11.5.2020). Auch den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbar-ländern können sich auf die Sicherheitslage im besetzten Palästinensischen Gebiet auswirken (EDA 11.5.2020). Das österreichische Außenministerium stuft die Sicherheitslage mit Stufe 3 (hohes Sicherheitsrisiko) ein, von nicht unbedingt notwendigen Reisen in das Westjordanland wird abgeraten. Es kann zu gewalttätigen Einzelaktionen, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen militanten Gruppen, Militäraktionen, schweren bewaffneten Zusammenstößen, Messerattacken, sporadischen Schusswechseln und Ausgangssperren sowie zur unangekündigten Totalsperrung von Checkpoints/Einreisepunkten vom Westjordanland nach Israel kommen (BMEIA 11.5.2020).

Seit Veröffentlichung der US-Vorschläge für den Nahost-Friedensprozess ist die Sicherheitslage insbesondere in Jerusalem und dem Westjordanland angespannt. Im Westjordanland kommt es vermehrt zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Es kommt immer wieder zu Anschlägen, Angriffen und Auseinandersetzungen zwischen israelischen Sicherheits-kräften, jüdischen Siedlern und palästinensischer Bevölkerung mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten. Es gibt immer wieder Berichte über Angriffe auf Fahrzeuge, die mit Steinen oder Molotow-Cocktails beworfen werden, teils durch Palästinenser, teils durch israelische Siedler. Die Sicher-heitslage im Westjordanland ist ausgesprochen volatil und kann sich nach akuten Sicherheits-vorfällen schnell ändern. In solchen Fällen können einzelne Ortschaften durch das israelische Militär abgeriegelt oder sogenannte „fliegende“ Checkpoints eingerichtet oder bestehende Check-points vorübergehend geschlossen werden. Es kann zu Einsätzen der israelischen Sicherheits¬kräfte in Ramallah und anderen palästinensischen Städten und Dörfern kommen. Protestaktionen sind jederzeit möglich (AA 11.5.2020).

Im gesamten Besetzten Palästinensischen Gebiet ist die Lage gespannt. Phasen vordergründiger Ruhe können jederzeit von Unruhen oder Gewalttaten unterbrochen werden. Es kommt immer wieder zu Demonstrationen mit gewaltsamen Ausschreitungen und zu Konfrontationen mit den Sicherheitskräften; dabei gibt es regelmäßig Verletzte und Todesopfer. An den von Israel kontrollierten Checkpoints kann es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen. Der zwischen Jerusalem und Ramallah gelegene Checkpoint Qalandia ist davon besonders betroffen. Selbst während Phasen vordergründiger Ruhe können die hohen Spannungen sowie Militäraktionen der israelischen Sicherheitskräfte im Westjordanland ohne Vorwarnung sicherheitsrelevante Ereig-nissen auslösen (EDA 11.5.2020). Es kann außerdem nicht ausgeschlossen werden, dass Gewalt aus dem Gazastreifen auf das Westjordanland übergreift (NYT 8.7.2019).

Das israelische Sicherheitspersonal und die Zivilbevölkerung sind im Westjordanland mit Terroranschlägen kleineren Ausmaßes konfrontiert. Laut B'Tselem wurden im Jahr 2019 im Westjordanland drei israelische Zivilisten und zwei Sicherheitskräfte von Palästinensern getötet (FH 2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Laufe des Jahres 2019 töteten israelische Streitkräfte laut der NGO B'Tselem und Medienberichten zufolge Palästinenser im Westjordanland, die versuchten oder angeblich versuchten, Israelis anzugreifen. Menschenrechtsgruppen geben an, die israelische Regierung habe übermäßige Gewalt angewendet, was zum Tod mehrerer Palästinenser, darunter auch Minderjähriger, geführt habe (USDOS 11.3.2020). Mit Stand 11.11.2019 wurden im Westjordanland inklusive Ost-Jerusalem 23 Palästinenser von israelischen Sicherheitskräften getötet, und mindestens 3.221 verletzt, darunter Personen, die verdächtigt wurden, Israelis angreifen zu wollen, aber auch Passanten und Demonstranten. Zwei Palästinenser wurden von jüdischen Siedlern getötet, 84 verletzt, und in 234 Vorfällen wurde Eigentum beschädigt. Palästinenser töteten in der Westbank fünf Israelis und verletzten 46 (Stand 17.9.2019) (HRW 14.1.2020).

Israelische Soldaten, die der exzessiven Gewaltanwendung oder der Misshandlungen palästinensischer Zivilisten beschuldigt werden, unterliegen dem israelischen Militärrecht, obwohl Verurteilungen selten sind und in der Regel nur zu leichten Strafen führen. Jüdische Siedler, die palästinensische Personen, Eigentum und landwirtschaftliche Ressourcen angreifen, bleiben im Allgemeinen straffrei. B'Tselem berichtet, dass im Jahr 2019 26 Palästinenser von israelischen Sicherheitskräften getötet wurden, zwei weitere wurden von Siedlern getötet (FH 2020; vgl. HRW 14.1.2020).

Laut OCHA wurden seit 1.1.2018 mit Stand 30.4.2020 insgesamt 76 Palästinenser in der Westbank getötet, 10 davon im Jahr 2020. 11.066 Palästinenser wurden im selben Zeitraum verletzt, darunter 1.391 im Jahr 2020. Von 1.1.2018 bis 30.9.2019 wurden 16 Israelis in der Westbank getötet; 175 Israelis wurden von 1.1.2018 bis 30.4.2020 verletzt, 27 davon im Jahr 2020 (OCHA o.D.).

Auch im Jahr 2020 geht die Gewalt in der Westbank weiter. So kam es im März zu Zusammen-stößen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern, Verhaftungsaktionen, der Zerstörung von Häusern und Beschlagnahmungen von palästinensischem Eigentum durch die israelische Armee (MSF 23.4.2020). Im Jahr 2019 setzte sich das Wachstum der jüdischen Siedlungen, die Beschlagnahmung palästinensischen Landes und der Abriss palästinensischer Häuser im Westjordanland fort. Das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) berichtete, dass die israelischen Behörden 2019 über 600 palästinensische Häuser oder Strukturen im Westjordanland und in Ostjerusalem beschlagnahmten oder zerstörten und damit mehr als 900 Palästinenser vertrieben. Dies stellt einen Anstieg gegenüber 2018 dar, als rund 460 Bauten betroffen waren. 2018 verabschiedete das israelische Parlament ein Gesetz, das den direkten Zugang der Palästinenser zum israelischen Obersten Gerichtshof für Petitionen gegen den Siedlungsbau im Westjordanland einschränkt. Ein israelisches Gesetz aus dem Jahr 2017 erlaubt die rückwirkende, formelle Beschlagnahme von privatem palästinensischem Land, auf dem illegal israelische Siedlungen gebaut worden waren, mit Entschädigung, obwohl die Umsetzung des Gesetzes 2019 bis zu einer Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof ausgesetzt blieb (FH 2020). Bis 11. November 2019 wurden 504 palästinensische Häuser und andere Strukturen zerstört, die meisten wegen fehlender Baugenehmigungen. Israel macht es den Palästinensern nahezu unmöglich, solche Genehmigungen in Ostjerusalem oder in den 60 Prozent des Westjordanlands, die unter seiner ausschließlichen Kontrolle stehen (Gebiet C), zu bekommen. Bis zum 16.9.2019 wurden laut OCHA 642 Menschen vertrieben (HRW 14.1.2020).

Anm.: Zu den Reaktionen auf die Annexionspläne der neuen israelischen Regierung siehe vorhergehender Abschnitt.

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (11.5.2020): Palästinensische Gebiete: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/palaestinensischegebiete-node/palaestinensischegebietesicherheit/203674, Zugriff 11.5.2020

- BMEIA – Bundesministerium für Äußeres (11.5.2020): Reiseinformation, Palästina, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/palaestina/, Zugriff 11.5.2020

- CIA – Central Intelligence Agency (15.3.2020): The World Factbook, Middle East, Gaza Strip, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gz.html, Zugriff 31.3.2020

- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (11.5.2020): Reisehinweise für das Besetzte Palästinensische Gebiet, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/besetztes-palaestinensisches-gebiet/reisehinweise-besetztes-palaestinensisches-gebiet.html, Zugriff 11.5.2020

- FH – Freedom House (2020): Freedom in the World 2020, West Bank, https://freedomhouse.org/country/west-bank/freedom-world/2020, Zugriff 5.5.2020

- Haaretz (11.2.2020): Twelve Palestinians Injured in West Bank Clashes With Israeli Forces, https://www.haaretz.com/middle-east-news/palestinians/.premium-twelve-palestinians-injured-in-west-bank-clashes-with-israeli-forces-1.8524138, Zugriff 11.5.2020

- HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Israel and Palestine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022793.html, Zugriff 5.5.2020

- MEE – Middle East Eye (29.1.2020). Thousands of Palestinians in West Bank protest against Trump's deal, https://www.middleeasteye.net/news/thousands-palestinians-protested-against-trump-plan-west-bank, Zugriff 11.5.2020

- MSF – Ärzte Ohne Grenzen (23.4.2020): Like a virus, violence spreads in the West Bank amid COVID-19, https://www.msf.org/virus-violence-spreads-west-bank-amid-covid-19, Zugriff 11.5.2020

- NYT – The New York Times (8.7.2019): West Bank Grows Calmer as Pocketbook Issues Take Priority Over Protests, https://www.nytimes.com/2019/07/08/world/middleeast/palestinian-west-bank-protests-economy.html, Zugriff 11.5.2020

- NYT – The New York Times (28.1.2020): Trump Plan’s First Result: Israel Will Claim Sovereignty Over Part of West Bank, https://www.nytimes.com/2020/01/28/world/middleeast/israel-west-bank-annex-sovereignty.html, Zugriff 11.5.2020

- OCHA – United Nations Office for the Coordniation of Humanitarian Affairs (o.D.): Occupied Palestinian Territories, Data on Casualties, https://www.ochaopt.org/data/casualties, Zugriff 8.5.2020

- Reuters (8.2.2020): Israel drawing up map for West Bank annexations: Netanyahu, https://www.reuters.com/article/us-israel-palestinians/israel-drawing-up-map-for-west-bank-annexations-netanyahu-idUSKBN2020RA, Zugriff 11.5.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Rechtssicherheit wird in Palästina dadurch erschwert, dass immer noch Elemente des osmanischen, britischen, jordanischen, ägyptischen [Anm.: bzgl. Gaza-Streifen], israelischen (israelische Militärverordnungen) und palästinensischen Rechts (seit 1994) nebeneinander existieren. Darüber hinaus wird in Palästina Gewohnheitsrecht und religiöses Recht (insbesondere im Familienrecht) angewandt. Daneben werden die Beschlüsse des Obersten Palästinensischen Gerichtshofes nicht immer umgesetzt (GIZ 5.2020a).

Israel übt in variierendem Ausmaß die juristische Kontrolle über die Besetzten Gebiete aus. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übt im Westjordanland ein unterschiedliches Maß an Autorität aus, sie verfügt über keine Autorität über Jerusalem. Die Palästinenser im Westjordanland unterliegen Gesetzen (Jordanian and Mandatory statutes), die vor 1967 in Kraft waren, sowie den vom israelischen Militärkommandeur im Westjordanland erlassenen militärischen Verordnungen und in den relevanten Bereichen dem Recht der PA. Israelis, die in den Siedlungen in der Westbank leben, unterliegen einer Kombination aus israelischem Zivil- und Strafrecht sowie Militär-verordnungen. PalästinenserInnen, die im Gebiet C der Westbank leben, fallen unter das israelische Militärrecht. Palästinenser, die in Gebiet B leben, fallen unter das Zivil- und Strafrecht der PA, während Israel die vorrangige Verantwortung für die Sicherheit behält. Obwohl nach dem Oslo-II-Abkommen für Palästinenser, die in Gebiet A des Westjordanlands leben, nur das Zivil- und Strafrecht der PA gilt, wendet Israel im Rahmen seiner vorrangigen Verantwortung für die Sicherheit immer dann, wenn sein Militär in Gebiet A eindringt, die vom Militärkommandanten erlassenen militärischen Befehle an (USDOS 21.6.2019). Die im Westjordanland geltenden rechtlichen Regelungen sind insofern grundlegend diskriminierend, als Israelis und Palästinenser, die sich am selben Ort aufhalten oder Verbrechen begehen, unterschiedlichen Gerichten und Gesetzen unterworfen sind (FH 2020). Weder die palästinensischen Justiz noch das israelische Militärgerichtssystem ist völlig unabhängig (AI 18.2.2020) im Gegensatz zu den für die israelischen Siedler im Westjordanland zuständigen israelischen Zivilgerichte, die unabhängig sind (FH 2020).

Im Juli 2019 erließ Präsident Abbas zwei Dekrete, das erste löste den bestehenden High Judicial Council auf und ersetzte ihn durch ein Übergangsgremium, das zweite senkte das Rentenalter der Richter (FH 2020). Der High Judicial Council war 2002 einberufen worden, um die Unabhängigkeit der Richter zu verbessern, die Transparenz und die Leistungsfähigkeit ihrer Arbeit sicherzustellen, die Prozessabläufe zu verbessern und die Bearbeitung der Fälle zu erleichtern (AI 18.2.2020). Eine Reihe von Richtern und Menschenrechtsorganisationen prangerten diese Schritte [Auflösung des High Judicial Council] als ein Versuch an, die Exekutivkontrolle über die Justiz zu verstärken. Die Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen wird durch Non-Compliance durch die PA sowie durch das Fehlen einer palästinensischen Gerichtsbarkeit in Gebiet C, wo das israelische Militär die ausschließliche Kontrolle ausübt, behindert (FH 2020).

Die Gesetze der PA sehen das Recht auf eine unabhängige Justiz sowie einen fairen und öffentlichen Prozess vor. Verfahren sind öffentlich, außer in Sonderfällen, etwa wenn ein nicht-öffentliches Verfahren zum Schutz bestimmter Interessen nötig ist. Es gilt die Unschuldsvermutung, und der Angeklagte hat das Recht, zeitnah über die gegen ihn vorliegende Anklage informiert zu werden. Gemäß Amnesty International werden diese Rechte manchmal nicht gewahrt. Rechtsbeistand ist vorgesehen - auf Kosten des Staates, wenn nötig. Die Angeklagten haben das Recht auf Berufung. Die PA in der Westbank gewährleistet diese prozeduralen Rechte weitgehend (USDOS 11.3.2020). Die Coalition for Accountability and Integrity (AMAN) identifiziert jedoch immer wieder Herausforderungen wie die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit, die Bekämpfung von Vettern- und Günstlingswirtschaft sowie die Sicherung einer starken und fairen Justiz (FH 2020). Der Unabhängigen Kommission für Menschenrechte (ICHR) zufolge war das Justizsystem der PA dem Druck der Sicherheitsbehörden und der Exekutive ausgesetzt, was die Leistungsfähigkeit und Unabhängigkeit der Justiz untergräbt. Die Behörden der PA führten Gerichtsbeschlüsse nicht immer aus. Palästinenser haben das Recht, Klage gegen die PA zu erheben, haben dies aber selten getan. Neben den gerichtlichen Rechtsmitteln stehen selten genutzte administrative Rechtsmittel zur Verfügung (USDOS 11.3.2020).

Die intransparente Unterscheidung zwischen strafrechtlichen und sicherheitsrelevanten Straftaten, die regelmäßige Anwendung von Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren durch palästinensische und israelische Sicherheitskräfte sowie die Anwendung des Kriegsrechts und eines Militärgerichts-systems, das ausschließlich für Palästinenser im Westjordanland gilt, verletzen die Rechte der Palästinenser auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren. Menschenrechtsgruppen dokumentieren regelmäßig Anschuldigungen über willkürliche Inhaftierungen durch die Sicherheitskräfte der PA (FH 2020). Die israelischen Streitkräfte stellen Palästinenser, die wegen Sicherheitsdelikten beschuldigt werden, vor israelische Militärgerichte (USDOS 11.3.2020). Die israelischen Militärgerichte bieten nicht die vollen Verfahrensgarantien, wie sie Zivilgerichte bieten (FH 4.2.2019).

Palästinenser werden von den israelischen Behörden auch regelmäßig über längere Zeiträume ohne Anklage inhaftiert. Das israelische Militär führt häufig Hausdurchsuchungen ohne Haftbefehl durch. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsgruppe B'Tselem befanden sich Ende Dezember 2019 4.248 palästinensische Sicherheitsgefangene und Gefangene aus der Westbank in israelischen Gefängnissen. Es sollen Ende Dezember 2019 auch 186 palästinensische Minderjährige aus den besetzten Gebieten in israelischen Gefängnissen inhaftiert gewesen sein. Diese Minderjährigen werden in der Regel in Abwesenheit eines Anwalts oder eines elterlichen Vormunds verhört und von einem speziellen Militärgericht verurteilt. Freisprüche sind sehr selten, und diese Gerichte sind wegen mangelnden Rechtsschutzes kritisiert worden. Einzelne Zeugenaussagen bezeugen auch die Anwendung exzessiver Gewalt durch das israelische Militär (FH 2020).

Die palästinensischen Behörden im Westjordanland machten von einem Gesetz aus dem Jahr 1954 Gebrauch, um zahlreiche Menschen für bis zu sechs Monate in Administrativhaft zu nehmen, wenn der zuständige Gouverneur dies beantragt. Laut Aussagen von palästinensischen Menschenrechtsgruppen waren zahlreiche dieser Häftlinge aus politischen Gründen inhaftiert. Solche Festnahmen können auch ohne Anklageerhebung und rechtsstaatliche Verfahren durch-geführt werden. Ende November 2019 hatte die ICHR 195 solcher Fälle von Haft dokumentiert (AI 18.2.2020). Die Strafprozessordnung der PA sieht im Allgemeinen vor, dass der Generalstaats-anwalt der PA einen Durchsuchungsbefehl für den Zutritt und die Durchsuchung von Privat-eigentum ausstellen muss; jedoch dürfen die Justizbeamten der PA in Notfällen palästinensische Häuser ohne Durchsuchungsbefehl betreten. NGOs berichteten, dass es üblich sei, dass die PA Familienmitglieder wegen angeblicher Vergehen einer Person schikaniert (USDOS 11.3.2020). Physische Misshandlungen von Gefangenen durch PA-Behörden im Westjordanland wurden von Menschenrechtsorganisationen dokumentiert (FH 2020).

Rechtlich anerkannte religiöse Gruppen sind befugt, über Personenstandsfragen wie Ehe, Scheidung und Erbschaft zu entscheiden. Sie können geistliche Gerichte einrichten, um rechtsverbindliche Entscheidungen über den Personenstand und einige Vermögensfragen für Mitglieder der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu treffen (USDOS 21.6.2019).

Quellen:

- AI – Amnesty International (18.2.2020): Menschenrechte im Nahen Osten und in Nordafrika: 2019; Staat Palästina, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026071.html, Zugriff 7.5.2020

- FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Gaza Strip, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004334.html, Zugriff 14.5.2020

- FH – Freedom House (2020): Freedom in the World 2020, West Bank, https://freedomhouse.org/country/west-bank/freedom-world/2020, Zugriff 5.5.2020

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Länderinformationsportal (5.2020a): Palästinensische Gebiete, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/palaestinensische-gebiete/geschichte-staat/, Zugriff 11.5.2020

- USDOS – United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026368.html, Zugriff 5.5.2020

- USDOS – US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: Israel: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2011172.html, Zugriff 7.5.2020

Sicherheitsbehörden

Gemäß den Osloer Abkommen ist der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) kein konventionelles Militär erlaubt, sie unterhält jedoch Sicherheits- und Polizeikräfte. Das Sicherheits-personal der PA ist seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen im Jahr 2007 fast ausschließlich im Westjordanland tätig (CIA 16.3.2020). Der palästinensische Sicherheitsapparat besteht aus zahlreichen Geheimdiensten und Sicherheitskräften. Deren Zuständigkeiten innerhalb der PA sind bis heute unklar definiert, einige waren nie wirklich mit Kompetenzen ausgestattet, andere haben konkurrierende oder sich überschneidende Zuständigkeiten. Abgesehen davon gibt es bewaffnete Milizen, die nicht der PA untergeordnet sind. Die Situation ist sehr komplex und undurchsichtig (GS 28.7.2011).

Im Westjordanland operieren sechs Agenturen der PA-Sicherheitskräfte (USDOS 11.3.2020), darunter die Nationalen Sicherheitskräfte, die Präsidialgarde, die Zivilpolizei, der Zivilschutz, die Organisation für präventive Sicherheit, der Allgemeine Nachrichtendienst und der Militärische Nachrichtendienst (CIA 16.3.2020). Die palästinensische Zivilpolizei trägt die Hauptverantwortung für die zivile und kommunale Polizeiarbeit. Die Nationalen Sicherheitskräfte führen Sicherheitsoperationen durch, welche die Befugnisse der Zivilpolizei übersteigen. Der Militärische Nachrichtendienst befasst sich mit nachrichtendienstlichen und strafrechtlichen Angelegenheiten, an denen Mitarbeiter der PA-Sicherheitskräfte beteiligt sind. Der Allgemeine Nachrichtendienst ist für externe nachrichtendienstliche Erhebungen und Operationen zuständig. Die Organisation für präventive Sicherheit ist für die interne Aufklärungsarbeit und für Untersuchungen im Zusammenhang mit Fällen der inneren Sicherheit, einschließlich politischer Meinungs-verschiedenheiten, zuständig. Die Präsidialgarde schützt Einrichtungen und sorgt für den Schutz von Würdenträgern (USDOS 11.3.2020).

Für israelische Siedler in den besetzten Gebieten sind die PA-Sicherheitskräfte nicht zuständig (Global Security 28.7.2011). Im Westjordanland ist die palästinensische Polizei nur in den A-Gebieten für die Sicherheit zuständig, d.h. in 17, 2 Prozent des Gebietes, jedoch nur tagsüber. Zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens hat das israelische Militär dort das Sagen. Die sehr eingeschränkte Zuständigkeit der palästinensischen Sicherheitskräfte hat zur Folge, dass zahlreiche palästinensische Dörfer im B- und C-Gebiet selbst Nachtwachen organisieren, um sich vor Aktionen gewalttätiger israelischer Siedler zu schützen (GIZ 4.2020b). Die palästinensischen Sicherheitskräfte und die Polizei sind laut Artikel 84 der Verfassung an das Gesetz gebunden und haben die bürgerlichen Rechte und Freiheiten zu respektieren. Dies ist jedoch nicht immer der Fall (GIZ 4.2020b). Eine andere Quelle gibt an, dass die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) die effektive zivile Kontrolle über die PA-Sicherheitskräfte habe (USDOS 11.3.2020).

Die israelischen Behörden hielten ihre Präsenz in der Westbank durch israelische Sicherheitskräfte aufrecht, die aus der Israeli Defense Force (IDF), der Israeli Security Agency (ISA), der Israeli National Police (INP), und der Grenzpolizei bestanden. Israel behält die wirksame zivile Kontrolle über seine Sicherheitskräfte im gesamten Westjordanland und im Gazastreifen bei (USDOS 11.3.2020; vgl. FCO 30.6.2014).

Die Palästinensische Autonomiebehörde unterhält eine Sicherheitskoordination mit Israel, was einen Pfeiler des Osloer Friedensabkommens der 1990er Jahre darstellt. Dies trägt nicht nur dazu bei, Angriffe gegen Israel zu verhindern, sondern hilft der PA auch, ihre militanten islamischen Rivalen in Schach zu halten (NYT 8.7.2019). Als Reaktion auf den umstrittenen Nahost-Friedensplan der USA kündigte PA-Präsident Abbas Anfang Februar 2020 an, dass er die Sicherheitskooperation mit Israel abbrechen werde (The New Arab 19.2.2020). Im Mai 2020 wurde bekannt, dass die Sicherheitskooperation zwischen PA und Israel beendet wurde [Anm.: siehe dazu auch Abschnitt 2. Politische Lage] (DS 20.5.2020; vgl. DS 21.5.2020, NZZ 22.5.2020).

Quellen:

- CIA – Central Intelligence Agency (16.3.2020): Factbook, Palestine, Westbank, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/we.html, Zugriff 7.5.2020

- DS - Der Standard (21.5.2020): Debatte über Kritik an Westbank-Annexion sorgt auch in Wien für Zwist, https://www.derstandard.at/story/2000117622417/debatte-um-kritik-an-westbank-annexion-sorgt-auch-in-wien, Zugriff 22.5.2020

- DS - Der Standard (20.5.2020): Abbas erklärt Ende aller Vereinbarungen mit Israel und USA, https://www.derstandard.at/story/2000117596111/abbas-erklaert-ende-aller-vereinbarungen-mit-israel-und-usa, Zugriff 20.5.2020

- FCO - UK Foreign and Commonwealth Office (30. 6. 2014): Israel and the Occupied Palestinian Territories (OPTs) - Country of Concern: latest updates 30 June 2014, http://www.ecoi.net/local_link/285972/418065_de.html, Zugriff 14.11.2014

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Länderinformationsportal (4.2020a): Palästinensische Gebiete, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/palaestinensische-gebiete/geschichte-staat/, Zugriff 5.5.2020

- GS - Global Security (28.7.2011): Palestinian Security Sector, http://www.globalsecurity.org/intell/world/palestine/intro.htm, Zugriff 11.5.2020

- The New Arab (19.2.2020): Palestinian teenager shot dead by West Bank security forces during 'violent clashes', https://english.alaraby.co.uk/english/news/2020/2/19/palestinian-teenager-shot-dead-by-west-bank-security-forces, Zugriff 11.5.2020

- NYT – The New York Times (8.7.2019): West Bank Grows Calmer as Pocketbook Issues Take Priority Over Protests, https://www.nytimes.com/2019/07/08/world/middleeast/palestinian-west-bank-protests-economy.html, Zugriff 11.5.2020

- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (22.5.2020): Die Palästinenser beenden die Sicherheitskooperation mit Israel, https://www.nzz.ch/international/palaestinenser-beenden-die-sicherheitskooperation-mit-israel-ld.1557745?reduced=true, Zugriff 29.5.2020

- USDOS – United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: West Bank and Gaza, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026368.html, Zugriff 5.5.2020

Folter und unmenschliche Behandlung

Das Grundgesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verbietet Folter und die Ausübung von Gewalt gegen Gefangene. Folter und Misshandlungen kommen jedoch weiterhin vor (USDOS 11.3.2020), bzw. sind weit verbreitet (HRW 29.5.201

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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