TE Vfgh Erkenntnis 1995/6/29 B620/95, B621/95

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Veröffentlicht am 29.06.1995
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

EMRK Art8 Abs2
AufenthaltsG §6 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Abweisung von Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltsberechtigungen für eine jugoslawische Familie mit langjährigem Aufenthalt im Inland und im Inland geborenen, österreichische höhere Schulen besuchenden Kindern; verfassungswidrige Annahme der Notwendigkeit der Antragstellung vom Ausland aus aufgrund der bereits abgelaufenen Sichtvermerke; analoge Vorgangsweise zur Fallgruppe der Verlängerungsanträge verfassungsrechtlich geboten

Spruch

Die Beschwerdeführerinnen sind durch den jeweils angefochtenen Bescheid in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern, zu Handen ihres Rechtsvertreters, die mit je 18.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Beschwerdeführerin zu B621/95, eine Staatsangehörige von Bosnien-Herzegowina, lebt seit 1987 in Österreich. Sie ist seit September 1991 mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet, dem Vater ihrer 1988 in Wien geborenen und seither hier wohnhaften Tochter (Beschwerdeführerin zu B620/95).

2. Mit Bescheiden vom 30. Mai bzw. 17. März 1994 gab der Landeshauptmann von Wien den Anträgen beider Beschwerdeführerinnen auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung keine Folge. Die gegen diese Bescheide erhobenen Berufungen wurden mit zwei Bescheiden des Bundesministers für Inneres unter Bezugnahme auf §13 iVm §6 Abs2 des Aufenthaltsgesetzes - AufG, BGBl. 466/1992 - abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, daß die Frist zur Stellung eines Verlängerungsantrages versäumt worden sei und daher ein Erstantrag vom Ausland zu stellen gewesen wäre, weshalb die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ausgeschlossen und auf das Vorbringen der Beschwerdeführerinnen - auch im Zusammenhang mit ihren persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen sei.

3. Gegen diese beiden Berufungsbescheide richten sich die vorliegenden, auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerden, mit denen insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des jeweils angefochtenen Bescheides begehrt wird.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:

1. Die angefochtenen, die Aufenthaltsbewilligung nach dem AufG versagenden Bescheide greifen in das den Beschwerdeführerinnen, die sich seit nunmehr acht bzw. sieben Jahren in Österreich aufhalten, mit einem Österreicher verheiratet sind bzw. einen Österreicher zum Vater haben, durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein. Ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere eine dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 16. Juni 1995, B 1611-1614/94, mit näherer Begründung dargelegt hat, ist es im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung des durch §6 Abs2 AufG geschaffenen Regelungssystems geboten, Fälle, in denen seit langer Zeit in Österreich aufhältige Fremde die Frist, innerhalb der ein Antrag iS des §13 AufG zu stellen gewesen wäre, nur relativ geringfügig versäumt haben, unter den zweiten Satz des §6 Abs2 AufG, wonach Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung auch vom Inland ausgestellt werden können, zu subsumieren.

3. Die belangte Behörde hat dadurch, daß sie in diesem Fall die Bestimmung des §6 Abs2 erster Satz AufG angewendet und die Versagung der Aufenthaltsbewilligung, ohne auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerinnen einzugehen, mit der Begründung der verspäteten Antragstellung abgewiesen hat, §6 Abs2 einen verfassungswidrigen, weil gegen Art8 EMRK verstoßenden Inhalt unterstellt.

Die angefochtenen Bescheide waren daher schon aus diesem Grunde aufzuheben.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von 3.000 S enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:B620.1995

Dokumentnummer

JFT_10049371_95B00620_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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