TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/1 W222 2236643-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.12.2020
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Entscheidungsdatum

01.12.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch


W222 2236643-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Obregon als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Indien, vertreten durch den Verein Legal Focus, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.10.2020, Zl. XXXX, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF und §§ 52, 55 FPG idgF als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 25.11.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand die Erstbefragung durch einen Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Zu seiner Person gab der Beschwerdeführer an, dass er der Volksgruppe der Scheduled Caste und der Glaubensrichtung der Sikh angehöre. Er sei ledig, habe 12 Jahre die Grundschule und drei Jahre ein College besucht. Zuletzt habe er als Tempelsänger gearbeitet. Seine Eltern und seine Geschwister würden nach wie vor im Heimatland leben. Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an: „Ich bin ein Aktivist für Khalistan. Ich habe an 2-3 Demos teilgenommen. Die Polizei hat meinen Namen registriert und sie suchen nach mir. Deshalb habe ich meine Heimat verlassen. Ich habe keine weiteren Gründe für eine Asylantragstellung.“

Mit Aktenvermerk vom 04.12.2019 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl das Verfahren gem. § 24 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 AsylG ein, da der Aufenthaltsort des Beschwerdeführers wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht – trotz Belehrung über etwaige negative Konsequenzen – weder bekannt noch sonst leicht feststellbar gewesen sei und eine Entscheidung ohne weitere Einvernahme nicht habe erfolgen können. Der Beschwerdeführer habe die Unterkunft der Betreuungseinrichtung ohne Angabe einer weiteren Anschrift verlassen. Es wurde ein Festnahmeauftrag gem. § 34 Abs. 4 BFA-VG erlassen.

Am 08.12.2019 wurde der Beschwerdeführer im Zuge des Streifendienstes einer Personenkontrolle durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes unterzogen. Aufgrund des erlassenen Festnahmeauftrages wurde er nach Rücksprache mit dem Bundesamt ins Polizeianhaltezentrum Hernalser Gürtel verbracht. Am selben Tag legte der Beschwerdeführer eine Vollmacht des Vereins Legal Focus vor.

Bei der niederschriftlichen Einvernahme am 17.12.2019 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab der Beschwerdeführer Folgendes an (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„F: Wie ist die Verständigung mit dem Dolmetscher?

A: Gut.

F: Haben Sie gegen eine der anwesenden Personen wegen einer möglichen Befangenheit oder aus anderen Gründen Einwände?

A: Nein.

F: Fühlen Sie sich psychisch und physisch in der Lage, die Befragung zu absolvieren?

A: Ja.

F: Haben Sie Beweismittel oder identitätsbezeugende Dokumente, die Sie vorlegen können und welche Sie bisher noch nicht vorgelegt haben?

A: Nein, ich habe nichts. Nur einen Meldezettel. Als Beweismittel kann ich die Videos herzeigen.

F: Welche Videos?

A: Ich habe für meine Religion, Sikhs gepredigt. Das wurde verboten.

F: Haben Sie einen Vertreter beziehungsweise einen Zustellbevollmächtigten in Ihrem Asylverfahren?

A: Ja, habe ich.

Wurde geladen, erschien aber nicht zur EV.

A: Ja, ich weiß. Er (der Anwalt) hat mir gesagt, dass er sich nicht wohl fühlen würde.

F: Haben Sie im Bereich der EU, in Norwegen oder in Island Verwandte, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bzw. eine besonders enge Beziehung besteht?

A: Nein.

F: Haben sie in Österreich aufhältige Eltern oder Kinder (Blutverwandtschaft oder durch Adoption begründet).

A: Nein.

F: Haben Sie einen Reisepass und wo, falls Sie einen haben, befindet sich dieser?

A: Bis Russland hatte ich den RP. Dieser wurde mir dann vom Schlepper abgenommen.

F: Sind Sie legal oder illegal aus Ihrem Heimatland ausgereist?

A: Ich habe mein Heimatland legal verlassen.

F: Haben Sie für ein Land ein Visum erhalten?

A: Ich hatte einmal eines für Malaysien. Für diese Reise hatte ich ein Visum für Russland.

F: Was bezahlten Sie für den Schlepper?

A: Bis Russland habe ich Rubin 100.000,- bezahlt, von dort bis Österreich dann € 6.000,-.

F: Woher hatten Sie so viel Geld?

A: Wir haben das Grundstück verkauft.

F: Wer von Ihrer Familie lebt noch im Heimatland?

A: Meine Eltern, ein Bruder und eine Schwester.

F: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie?

A: Ja, ich habe telefonisch Kontakt zu ihnen.

F: Sind Sie im Besitz über Dokumente, welche Ihre Identität beweisen können? Könnten Sie diese besorgen?

A: Es ist schwer zu beschaffen.

F: Warum?

A: Ich werde mit meinen Eltern sprechen. Wenn sie das schicken können, kann ich das zeigen.

F: Sie werden aufgefordert, sich zu bemühen, identitätsbezogene Dokumente zu beschaffen und unverzüglich der Behörde vorzulegen. Eine Versendung mit DHL ist weltweit möglich!

A: Ja, ich habe verstanden.

F: Haben Sie jemals Probleme mit den Behörden, der Polizei oder dem Militär Ihres Heimatlandes gehabt?

A: Ja. Nachgefragt mit der Polizei, weil ich religiöse Predigten abgehalten habe.

F: Fühlen Sie sich gegenüber anderen Mitglieder Ihrer Volksgruppe (Parteienangehöriger, Religionsgruppe) benachteiligt?

A: Ich bin Sikh. Deswegen habe ich auch Probleme.

F: Warum haben Sie Ihr Heimatland verlassen und suchen in Österreich um Asyl an?

A: Ich habe aktiv Predigten gehalten und war auch bei der Khalistanbewegung dabei. Personen, welche bei dieser Bewegung teilgenommen haben, wurden ohne Grund von der Polizei zuhause verhaftet und mitgenommen. Ich habe daher Angst vor der Polizei. Die Leute, welche mit mir gepredigt haben, da wurden einige von der Polizei bzw. der Behörde mitgenommen. Sie sind nie wieder zurückgekehrt. Ich habe Angst, dass mir auch was passieren könnte.

F: Wurden Sie bereits einmal verhaftet?

A: Einer meiner Gruppe wurde von der Polizei verhaftet und gefoltert. Er hat mir mitgeteilt, dass ich als nächster dran wäre. Meine Eltern haben dann entschieden, dass ich als nächster dran wäre.

F: Wie heißt diese Person, welche verhaftet und gefoltert wurde?

A: Mit dieser Person hatte ich keinen direkten Kontakt. Diese Person hat meine Videos gesehen und gemeint, dass ich als nächster dran wäre.

F: Wann haben die Khalistan Kundgebungen stattgefunden?

A: Angefangen hat es im Jahr 1984.

F: Erzählen Sie mir nicht, was 1984 war! Sie sollen mir sagen, wann Sie an den Kundgebungen teilgenommen haben.

A: Seit drei oder vier Jahren bin ich in dieser Gruppe aktiv.

F: Nochmals, wann haben Sie persönlich an solchen Kundgebungen teilgenommen?

A: Ich habe ein Alltagsleben geführt und über meine Religion gelernt. Vor ca. drei oder vier Jahren habe ich angefangen zu predigen und bin seither aktiv in dieser Bewegung. Ich habe nichts gegen andere Religionen. Ich habe einfach friedlich meine Religion gepredigt.

F: Haben Sie sonst Probleme in Ihrem Heimatland?

A: Ich habe meine Religion. Die Regierung wollte aber nicht, dass ich über den Sikhismus informiere. Es geht alles wegen der Wahlen. Die Regierung wollte Stimmen haben. Wir sind der Meinung, wenn wir nicht in Frieden leben können, dann wollen wir einen eigenen Staat.

F: Welche Probleme erwarten Sie im Falle Ihrer Rückkehr in Ihre Heimat?

A: 2020 gibt es ein Referendum für die Khalistan. Mein Name befindet sich im Referendum. Wenn die Regierung erfährt, dass mein Name auf der Liste ist, werde ich bei einer Rückkehr verhaftet. Daher kann ich nicht zurück, ich habe Angst zurückzukehren.

F: Wollen Sie sonst noch irgendwelche Angaben machen?

A: Ich habe keine finanziellen Probleme zuhause. Ich möchte nur die Freiheit für meine Religion, andere Leute darüber zu informieren. Meine Freiheit haben, dass ich über meine Religion predigen darf.

F: Haben Sie den Dolmetscher verstanden, konnten Sie der Einvernahme folgen und sich konzentrieren?

A: Ja.

F: Konnten Sie meinen Fragen folgen?

A: Ja. […]“

Mit Aktenvermerk vom 14.02.2020 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl das Verfahren erneut gem. § 24 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 AsylG ein, da der Aufenthaltsort des Beschwerdeführers wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht – trotz Belehrung über etwaige negative Konsequenzen – weder bekannt noch sonst leicht feststellbar gewesen sei und eine Entscheidung ohne weitere Einvernahme nicht habe erfolgen können. Laut durchgeführter ZMR-Auskunft sei die Abmeldung von der bisherigen Meldeanschrift erfolgt und bestehe bislang keine aufrechte Meldung im Bundesgebiet. Ebenso wurde ein Festnahmeauftrag gem. § 34 Abs. 4 BFA-VG erlassen.

Am 23.09.2020 wurde der Beschwerdeführer im Rahmen einer Schwerpunktstreife einer sicherheitspolizeilichen und fremdenrechtlichen Kontrolle unterzogen. Aufgrund des erlassenen Festnahmeauftrages wurde er nach Rücksprache mit dem Bundesamt festgenommen und ins Polizeianhaltezentrum Hernalser Gürtel verbracht.

Am 24.09.2020 wurde der Beschwerdeführer durch das Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er Folgendes an:

[…]

LA: Wie ist die Verständigung mit der Dolmetscherin?

VP: Ich verstehe die Dolmetscherin gut.

LA: Welche Sprachen sprechen Sie?

VP: Meine Muttersprache ist Punjabi, Hindi und ganz wenig Englisch.

LA: Werden Sie im Verfahren von jemanden vertreten oder besteht für jemanden eine Zustellvollmacht?

VP: Derzeit nicht.

[...]

LA: Sie werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Sie im Fall von Verständigungsschwierigkeiten jederzeit rückfragen können. Ich möchte sicher sein können, dass alles, was Sie gesagt haben, auch so gemeint wurde. Bei Bedarf machen wir eine Pause, an dieser Stelle nur den Wunsch äußern.

VP: Danke, ich habe das verstanden.

LA: Gibt es Gründe, die gegen eine Befragung am heutigen Tage sprechen?

VP: Nein.

LA: Liegen Befangenheitsgründe oder sonstigen Einwände gegen eine der anwesenden Personen vor?

VP: Nein.

LA: Fühlen Sie sich psychisch und physisch in der Lage, die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten?

VP: Ja.

LA: Haben Sie im Verfahren bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht, wurden Ihnen die Erstbefragung vom 25.11.2019 und die niederschriftliche Einvernahme (EAST Ost) vom 17.12.2019 jeweils rückübersetzt und korrekt protokolliert?

VP: Ja.

LA: Bitte stellen Sie sich vor, nennen Sie nun Ihren vollständigen Namen, Ihr Geburtsdatum sowie Ihren Geburtsort.

VP: XXXX, geb. XXXX, in Indien, XXXX .

LA: Wo haben sie in Indien zuletzt gewohnt?

VP: Meine letzte Wohnadresse war in XXXX .

LA. Bei Ihrer vorhergehenden Einvernahme haben Sie gesagt, Sie haben in XXXX, XXXX , Punjab, Indien, gewohnt.

VP: In XXXX habe ich mich ca. 4 Monate wegen der Probleme aufgehalten.

LA: Wie geht es Ihnen gesundheitlich, nehmen Sie Medikamente, sind Sie in ärztlicher Behandlung oder haben Sie Beschwerden?

VP: Nein. Ich bin gesund und nehme keine Medikamente, keine ärztliche Behandlung.

LA: Verfügen Sie über allfällige Dokumente, die Ihre Identität beweisen, Beweismittel, etc. die Sie in Ihrem Verfahren bis jetzt noch nicht vorgelegt haben?

VP: Nein, habe ich nicht.

LA: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?

VP: Ich bin indischer Staatsangehöriger.

LA: Welche Religionszugehörigkeit haben Sie?

VP: Ich bin Sikh.

LA: Welcher Kaste gehören Sie an?

VP: Majbhi Sikh.

LA: Wo waren Sie seit Ihrer Einvernahme am 17.12.2019 in Traiskirchen aufhältig?

VP: Ich war in der Nähe vom Westbahnhof.

LA: Haben Sie Österreich seit Ihrer Asylantragstellung am 25.11.2019 jemals wieder verlassen?

VP: Nein.

LA: Haben Sie in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt?

VP: Nein. Von Indien aus habe ich ein Visum für Deutschland beantragt, es wurde abgewiesen.

LA: Haben Sie sich in Ihrer Heimat religiös oder politisch betätigt?

VP: Ja, ich war religiös tätig. Ich habe religiöse Lieder gesungen, es gibt sogar YouTube-Videos von mir. 

LA: Sind Sie gläubiger Sikh?

VP: Ja.

LA: Sind Sie eine prominente Persönlichkeit, oder haben Sie einen sonstigen Bekanntheitsgrad in Indien erlangt?

VP: Weil ich religiöse Lieder gesungen und über die Religion gepredigt habe, kannten mich viele Leute.

LA: Hatten Sie jemals, egal wo, Kontakt zu radikalen oder extremistischen Gruppierungen?

VP: Nein.

LA: Haben Sie Schulen besucht?

VP: 12 Jahre Grundschule mit Maturaabschluss und 2 Jahre ein College mit Fachrichtung Musik und Punjabi.

LA: Haben Sie bereits gearbeitet oder Arbeitserfahrung gesammelt?

VP: Ich habe im Tempel religiösen Gesang gesungen.

LA: Haben Sie außer den genannten Tätigkeiten sonstige Arbeiten verrichtet?

VP: Ich habe auch ein Restaurant gehabt. Befragt gebe ich an, dass mein Vater nach meiner Ausreise das Restaurant verkauft hat.

LA: Wie lautet Ihr Familienstand?

VP: Ich bin ledig.

LA: Haben Sie Kinder?

VP: Nein. Ich bin ledig.

LA: Haben Sie Sorgepflichten?

VP: Nein.

LA: Bitte nennen Sie den Namen und Geburtsdatum sowie Geburtsort Ihres Vaters, der Mutter sowie Geschwister.

VP:

Vater: XXXX , ca. 48 Jahre; lebt in XXXX , er ist Pensionist, zuvor war er in der indischen Armee, er hat auch eine Zeit lang im Tempel gepredigt.

Mutter: XXXX , ca. 47 Jahre; gemeinsam mit meinem Vater

Bruder: XXXX , ca. 22 Jahre; XXXX , dzt. Ist er beruflich in Kuwait aufhältig

Schwester: XXXX , ca. 24 Jahre; Sie ist Hausfrau.

LA: Haben Sie Verwandte in Indien?

VP: Ja, Onkel und Tanten.

LA: Haben Sie in irgendeiner Form Kontakt nach Indien zu Ihrer Familie?

VP: Ich rufe Sie gelegentlich an.

LA: Wie geht es Ihrer Familie?

VP: Ihr geht’s gut.

LA: Wie würden Sie das Verhältnis zu Ihrer Familie beschreiben?

VP: Gut.

LA: Haben Sie noch weitere Angehörige oder Bekannte hier in Österreich, EU bzw. Europa?

VP: Nein.

LA: Wie finanzieren Sie in Österreich Ihren Lebensunterhalt?

VP: Ich arbeite ab und zu als Zeitungszusteller.

LA: Wann und wie erfolgte die Einreise nach Österreich?

VP: Es war Ende Dezember 2019, das genaue Datum weiß ich nicht (Anm.: Asylantragstellung 25.11.2019).

LA. Wo befindet sich Ihr Reisepass?

VP: Der Schlepper hat meinen Reisepass bei sich behalten. Befragt gebe ich an, dass es in Russland war.

LA. Wann sind Sie aus Indien ausgereist?

VP: Ich bin im Juli 2019 ausgereist.

LA: Haben Sie im Herkunftsland Strafrechtsdelikte begangen?

VP: Nein.

LA: Haben Sie in Ihrem Heimatland Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Einrichtung?

VP: Weil ich auch wegen meiner Religion gebetet habe, hatte ich öfters Probleme mit der Polizei.

LA: Ist gegen Sie in Ihrer Heimat ein Gerichtsverfahren anhängig?

VP: Nein.

LA: Gibt es einen Haftbefehl gegen Sie in Indien?

VP: Nein.

FLUCHTGRUND

LA: Können Sie mir sagen, warum Sie Ihre Heimat verließen und in Österreich einen Asylantrag stellen? Nennen Sie Ihre konkreten und Ihre individuellen Fluchtgründe dafür? Sie haben nun die Möglichkeit, Ihre Fluchtgründe in einer freien Erzählung darzulegen. Sie werden aufgefordert, die Fluchtgründe, chronologisch am besten mit Daten, Fakten und Details wiederzugeben.

VP: Ich habe in meinem Land über meine Religion gepredigt. Ich akzeptiere und respektiere alle Religionen. Ich möchte, dass wir alle friedlich zusammenleben. Laut unserer Religion werden alle Religionen gleichgestellt. Derzeit werden Moslems, Sikh und Christen in Indien unterdrückt. Sie bekommen keine Möglichkeit Ihre Meinung zu äußern. Es gibt Vereine, die nur Sikh-Religionen unterstützen. Aber das war nicht mein Zweck. Es wurde mehrmals wiederholt, dass alle Religionen gleich sind. Auf Grund meiner Tätigkeit als Prediger hatte ich Probleme mit der Polizei und anderen Predigern.

Es wurde mir auch vorgeworfen, dass ich mit dem religiösen Verein „ XXXX “ zusammenarbeite. Dieser Verein gilt in Indien als extremistischer Verein.

Mit dem Verein namens XXXX hatte ich gravierende Probleme. Dieser Verein verleugnet unsere Religion und unser religiöses Buch (ähnl. Bibel). Niemand hat es zugelassen, dass ich über meine Religion predige. Die Vorsitzenden von diesem Verein wollten mich sogar umbringen. Aus diesem Grund habe ich Indien verlassen.

LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

VP: Der Verein XXXX wird von der Regierung unterstützt.

LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

VP: Diese Mitglieder des XXXX Vereins gehören ebenfalls zur Sikh-Religion, jedoch glauben sie nicht an unsere Gurus und an das heilige Buch. In der Sikh-Religion gibt es 10 Gurus und das heilige Buch wird als letzter Guru betrachtet. Die XXXX haben eine eigene Regel wie sie den letzten Guru bestimmen. Die Bestimmung eines eigenen Gurus widerspricht der Religion. Ich wurde immer wieder schikaniert und durfte nicht predigen, das waren meine einzigen Probleme.

LA: Von wem wurden Sie wie schikaniert?

VP: Ich wurde vom Prediger der XXXX namens XXXX schikaniert. Befragt gebe ich an, dass Sie mich von der Bühne runtergezogen haben, ich durfte nicht weiterreden.

Die XXXX werden von der Regierung der Bhartiya Janta Party und von Modi unterstützt. Die Regierung unterstützt auch den extremistischen Verein Shiu Sena. Die Regierung will Sikh, Moslem und Christen unterdrücken. Sie wollen, dass es im Land nur den Hinduismus gibt. Im Jahr 1984 wurden viele Sikhs entführt und man hat nicht einmal ihre Leichen gefunden.

LA: Wir können nicht auf die Geschichte Indiens zurückgehen, wir müssen bei Ihren aktuellen Fluchtgründen bleiben.

VP: Ich will nicht, dass sich dieser Vorfall wiederholt.

LA. Wir haben diese Vorfälle in unseren Länderinformationen enthalten.

LA. Wo war der Vorfall, (von der Bühne zerren) und wann hat er stattgefunden?

VP: Das passierte 3-4 Mal.

Nochmals befragt: Wo hat das stattgefunden?

VP: In der Stadt Hoshiarpur und Indore.

Nochmals befragt: Wann hat das stattgefunden?

VP: Vor ca. 3 Jahren in der Stadt Indore und vor ca. 2 Jahren in der Stadt Hoshiarpur und ein paar Mal wurde ich gar nicht auf die Bühne gelassen.

LA: Wie kann ich mir das vorstellen, wo wollten Sie predigen?

VP: Ich habe hauptsächlich in zwei Tempeln gepredigt, in meinem Heimatdorf XXXX und im Tempel XXXX .

LA. Wie viele Leute waren bei Ihren Predigten anwesend?

VP: Ca. 40-50 Personen und wenn ich außerhalb des Tempels gepredigt habe, kamen mehrere hundert Leute. Meine Videos können Sie im Internet anschauen.

LA. Was ist die Khalistan-Bewegung (in der vorgehenden Einvernahme erwähnt)?

VP: Ich bin überhaupt nicht dafür, es wird mir immer wieder vorgeworfen, dass ich für diese Bewegung arbeite.

LA: Für was steht diese Bewegung?

VP: Diese ist gegen die indische Regierung, weil die Menschen Ihre Rechte nicht bekommen. Die Sikhs wollen nicht nur für sich, dass sie in Khalistan leben können, sondern auch die anderen Religionen (Die Sikhs wollen eine eigene Provinz Khalistan)

LA. Ist diese Bewegung der Religion der Sikhs zugeordnet?

VP: Ja, weil die Sikhs werden von der Regierung unterdrückt und haben keine Rechte.

LA: Wenn Sie diese Probleme nicht hätten, wären Sie in Indien geblieben?

VP: Ja.

LA: Haben Sie somit alle Gründe, die Sie veranlasst haben, Ihre Heimat zu verlassen, vollständig und ausführlich wiedergegeben?

VP: Ja.

LA: Verein XXXX , warum ist er extremistisch? Was ist das Ziel dieses Vereins?

VP: Der Zweck ist, dass alle ihre Rechte bekommen und ihre Religion frei ausüben können. Sie predigen wie es in der Sikh-Religion vorgesehen. Dieser Verein wird von der Regierung als extremistisch eingestuft.

LA. Erzählen Sie mir bitte vom Prediger XXXX ?

VP: Er ist ein Sikh wegen dem Turban, aber predigt falsch über die Sikh Geschichte und die Sikh Religion. Er ist verheiratet und hat Kinder. Es gibt auf YouTube viele Videos von ihm.

LA: Sie haben Probleme in Indien, wie kann Ihre Familie ohne Probleme in Indien leben?

VP: Meine Familie sind zwar Sikhs, aber die predigen nicht.

LA: Aber, wenn Sie so verfolgt werden, wie Sie angeben, ist dann nicht auch ihre Familie in Gefahr?

VP: Meine Familie sind zwar Sikhs, aber die predigen nicht. Nur ich war den Anderen ein Dorn im Auge.

LA: Wie haben Sie Ihren Aufenthalt in Russland bestritten?

VP: Ich hatte Geld.

LA: Wie gestaltet sich Ihr Privatleben im Bundesgebiet, was machen Sie in Ihrer Freizeit?

VP: Ich studiere die Sikh-Religion.

LA: Wie machen Sie das?

VP: Über das Internet.

LA: Ist das ein offizielles Studium?

VP: Es ist nur mein offizielles Interesse. Ich lebe seit 9 Monaten in Österreich und wir wollen, dass alle Religionen friedlich miteinander leben.

LA: Wie sieht Ihr Freundeskreis in Österreich aus?

VP: Ich habe Moslem und Sikh-Freunde in Österreich.

LA: Welche integrativen Schritte haben Sie bereits gesetzt?

VP: Bis jetzt nicht, aber ich möchte.

LA: Gehen Sie in Österreich einer Vereins- oder Organisationstätigkeit nach?

VP: Nein.

LA. In Österreich gibt es ca. 10.000 Sikhs. Sind Sie nicht bei dieser Organisation.

VP: Nein.

LA: Welche Ziele haben Sie, wenn Sie in Österreich bleiben könnten?

VP: Ich möchte den Deutschkurs besuchen und werde dann über meine Religion mehr einlesen und möchte hier friedlich wie andere Leben.

LA. Können Sie mir die 5 Charaktere (Anm: auch 5 Ks)) der Sikhs nennen?

VP: Kirpan – Dolch

Kanga – Kamm

Kashairya – lange Unterhose

Kes- Haare

Kadha- Armreifen

LA: Wann wurde die Religion der Sikhs gegründet?

VP: Der erste Guru Nanak Singh wurde 1469 geboren und im Jahr 1699 wurde die Religion gegründet.

LA: An welchem Tag wird der Gründungstag gefeiert?

VP: Das ist der 13. April.

LA: Welche Informationen verfügen Sie zu Österreich?

VP: In Österreich leben viele Religionen und sie streiten nicht untereinander.

LA: Die Bundesflagge?

VP: Rot-weiß-rot

LA: Bezüglich Ihres Fluchtgrundes möchten Sie noch etwas sagen, wonach ich nicht konkret gefragt habe?

VP: Nein, ich habe alles gesagt.

LA: Möchten Sie die Länderfeststellung zu Ihrem Herkunftsstaat Indien vom 13.11.2019 mit Einarbeitungen vom 30.03.2020, letzte Information vom 22.07.2020 zur Kenntnis gebracht haben? Sie haben die Möglichkeit im Zuge des Parteiengehörs eine Stellungnahme abzugeben.

VP. Derzeit nicht.

LA: Ausdrücklich wird festgehalten, dass Sie während dieser Vernehmung zeitlich und örtlich orientiert waren, einen völlig normalen Eindruck machen, auf die Fragen klar und spontan antworten. Es ergaben sich während dieser Vernehmung keinerlei Anzeichen, dass Sie psychisch beeinträchtigt wären. Möchten Sie dazu etwas anmerken?

VP: Das stimmt, mir geht es gut.

LA: Wie haben Sie rückblickend betrachtet den anwesenden Dolmetscher verstanden, gab es Verständigungsprobleme?

VP: Alles verstanden.

LA: Wünschen Sie eine Ausfertigung dieser Niederschrift?

VP: Ja.

LA: Sie werden im Anschluss aus dem PAZ entlassen.

Anmerkung: Die gesamte Niederschrift wird wortwörtlich rückübersetzt. Im Zuge dieser Rückübersetzung besteht die Möglichkeit Korrekturen, Ergänzungen oder Richtigstellungen vorzunehmen, Einwendungen anzubringen oder gegebenenfalls rückzufragen. Mit seiner Unterschrift bestätigt der ASt., dass die Angaben vollständig, verständlich und richtig wiedergegeben wurden. Der ASt. bestätigt auch, dass die Befragung in einer respektvollen und angenehmen Atmosphäre stattfand.

Bei der Rückübersetzung wurde durch den AW (unterstrichen) ergänzt:

Zu Frage:

LA: Wo waren Sie seit Ihrer Einvernahme am 17.12.2019 in Traiskirchen aufhältig?

VP: Ich war In der Nähe vom Westbahnhof. Jetzt wohne ich in der XXXX .

LA: Warum sind Sie in der XXXX nicht behördlich gemeldet?

VP: Ich habe eine Adresse in der XXXX . Ich werde mich demnächst in der XXXX anmelden.“

Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.10.2020 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Indien zulässig ist (Spruchpunkt IV. und V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.)

Begründend führte das Bundesamt hinsichtlich der konkreten Gründe für das Verlassen des Herkunftslandes unter anderem aus: „In der niederschriftlichen Erstbefragung am 25.11.2019 führten Sie in unglaubwürdiger Weise an, dass Sie ein Aktivist für Khalistan seien, an zwei bis drei Demonstrationen teilgenommen hätten, die Polizei Ihren Namen aufgeschrieben hätte und Sie deswegen von der Polizei gesucht werden würden. In der niederschriftlichen Einvernahme vom 24.09.2020 hierzu befragt, führten sie jedoch glaubhaft an, dass kein Haftbefehl gegen Sie vorliegen würde. In den weiteren Einvernahmen bringen Sie in unglaubwürdiger Weise vor, dass Sie, weil Sie im Tempel die Religion der Sikh gepredigt haben, religiöse Lieder gesungen hätten und an zwei bis drei Demonstrationen für die sikhistische Religion teilgenommen hätten, von der Regierung verfolgt seien. Sie seien auch zwei bis dreimal bei Ihren Predigten von der Bühne gezerrt worden seien. Detaillierte Angaben machten Sie trotz Aufforderung nicht. In der Einvernahme vom 17.12.2019 führten Sie unter anderem an, dass Sie auch bei der Khalistanbewegung aktiv dabei waren und geben in der Einvernahme vom 24.09.2020 völlig widersprüchlich an, dass Sie nicht für die Khalistanbewegung sind und dass Ihnen nur vorgeworfen werden würde, dass Sie für diese Bewegung arbeiten. Es sei eine Person aus der Khalistanbewegung von der Polizei verhaftet und gefoltert worden und diese Person hätte gesagt, dass Sie auf Grund der Videos, die es auf YouTube über Sie bei den Predigten gibt, als nächstes dran seien. Zur Person, die Sie gewarnt hätte, konnten Sie keine Angaben machen. Sie konnten nicht einmal den Namen der Person nennen. Auch dies ist ein Zeichen dafür, dass dieser Vorfall nie so stattgefunden hat und es sich bei Ihren Vorbringen um ein Gedankenkonstrukt handelt und diese abstrakten Angaben nicht geeignet sind, Ihre Glaubwürdigkeit zu stärken. Trotz Aufforderung, detaillierte Angaben zu Ihrer Verfolgung zu machen, blieben Sie in Ihrem Fluchtvorbringen vage und unkonkret und wichen in Ihren Ausführungen auf allgemein bekannte Tatsachen zu Indien und der Religion der Sikhs aus. All diese vagen Angaben und Widersprüchlichkeiten sind nicht dazu geeignet, Ihrem Fluchtvorbringen Glauben zu schenken.“

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Indien und wurde in XXXX/Indien geboren. Am 25.11.2019 hat der Beschwerdeführer im Bundesgebiet den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Er gehört der Religionsgemeinschaft der Sikh an und ist ledig. Er verfügt über eine zwölfjährige Schulbildung und hat zwei Jahre ein College absolviert. Der Beschwerdeführer spricht neben Punjabi auch etwas Hindi und Englisch. In Indien leben nach wie vor seine Eltern und Geschwister sowie Onkel und Tanten. Im Bundesgebiet verfügt der Beschwerdeführer über keinerlei Familienangehörige, er lebt auch nicht in einer Lebensgemeinschaft. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer die deutsche Sprache beherrscht, einer regelmäßigen, legalen Beschäftigung nachgeht, sich sozial engagiert oder hier Freunde gefunden hat. Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer sein Herkunftsland aus den von ihm genannten Gründen verlassen hat.

Zur allgemeinen politischen und menschenrechtlichen Situation in Indien wird Folgendes festgestellt:

1. Politische Lage

Letzte Änderung: 30.03.2020

Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA Factbook 28.2.2020; vgl. AA 19.7.2019). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 11.3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).

Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 19.7.2019). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 19.7.2019). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 11.2019a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt. Indien hat eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 2.2020a).

Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.3.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Bundesstaatsebene (AA 19.7.2019).

Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.3.2020). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 11.2019a).

Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 19.7.2019).

Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJPSpitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindunationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindunationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 11.2019a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindunationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).

Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).

Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 12.2019). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 11.2019a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 12.2019).

Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert. Die Beziehungen des Landes zur EU sind vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht von besonderer Bedeutung. Die EU ist der größte Handels- und Investitionspartner Indiens. Der Warenhandel in beide Richtungen hat sich faktisch stetig ausgeweitet (GIZ 11.2019a).

2. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.7.2020

Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 11.2019a). Terroristische Anschläge in den vergangenen Jahren (Dezember 2010 in Varanasi, Juli 2011 in Mumbai, September 2011 in New Delhi und Agra, April 2013 in Bangalore, Mai 2014 in Chennai und Dezember 2014 in Bangalore) und insbesondere die Anschläge in Mumbai im November 2008 haben die Regierung unter Druck gesetzt. Von den Anschlägen der letzten Jahre wurden nur wenige restlos aufgeklärt und die als Reaktion auf diese Vorfälle angekündigten Reformvorhaben zur Verbesserung der indischen Sicherheitsarchitektur wurden nicht konsequent umgesetzt (AA 24.4.2015). Aber auch im Rest des Landes gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 12.2020).

Die Spannungen im Nordosten des Landes gehen genauso weiter wie die Auseinandersetzung mit den Naxaliten (maoistische Untergrundkämpfer, Anm.) (GIZ 11.2019a), die das staatliche Gewaltmonopol gebietsweise infrage stellen (AA 19.7.2019).

Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir, die nordöstlichen Regionen und der maoistische Gürtel. In Jharkhand und Bihar setzten sich die Angriffe von maoistischen Rebellen auf Sicherheitskräfte und Infrastruktur fort. In Punjab kam es bis zuletzt durch gewaltbereite Regierungsgegner immer wieder zu Morden und Bombenanschlägen. Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie. Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 8.2019).

Erhebungen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an. Angaben zu Folge haben Rebellen illegale Steuern erhoben, Lebensmittel und Unterkünfte beschlagnahmt und sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen beteiligt. Zehntausende von Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 4.3.2020).

Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terrorismus- relevanter Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. Bis zum 5.3.2020 wurden 81 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 17.3.2020).

Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 19.7.2019).

Indien und Pakistan Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 12.2019; vgl. BBC 23.1.2018). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen indischen und pakistanischen Streitkräften entlang der sogenannten „Line of Control (LoC)“ haben sich in letzter Zeit verschärft und Opfer auf militärischer- wie auch auf ziviler Seite gefordert. Seit Anfang 2020 wurden im von Indien verwalteten Kaschmir 14 Personen durch Artilleriebeschuss durch pakistanische Streitkräfte über die Grenz- und Kontrolllinie hinweg getötet und fünf Personen verletzt (FIDH 23.6.2020; vgl. KO 25.6.2020).

Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 12.2019). Es kommt immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 12.2019). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14.2.2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019).

Indien und China Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten (FAZ 27.2.2020). Zusammenstöße entlang der „Line of Actual Control (LAC)“, der De-facto-Grenze zwischen der von Indien verwalteten Region des Ladakh Union Territory und der von China verwalteten Region Aksai Chin forderten am 15.6.2020 in den ersten Vorfällen seit 45 Jahren, nachdem die Spannungen im Mai zu eskalieren begannen, mindestens 20 Tote auf indischer Seite und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf chinesischer Seite (FIDH 23.6.2020; vgl. BBC 3.7.2020, BAMF 8.6.2020). Viele indische Experten sehen in der Entscheidung der Modi-Regierung vom August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufzulösen, einen Auslöser für die gegenwärtige Krise. Die chinesischen Gebietsübertretungen können somit als Reaktion auf die indische Politik in Kaschmir in den letzten Monaten gesehen werden (SWP 7.2020). Keine der beiden Seiten hat ein Interesse daran, die Meinungsverschiedenheiten in offenen Streit umschlagen zu lassen (FAZ 27.2.2020, vgl. SWP 7.2020), dennoch verstärken beide Seiten ihre militärische Präsenz in der Region. Weitere Eskalationen drohen auch durch Gebietsverletzungen an anderen Stellen der mehr als 3.400 Kilometer langen Grenze (SWP 7.2020). Sowohl Indien als auch China haben Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 12.2019).

Der amerikanisch-chinesische Handelskrieg hat die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen. Dennoch ist Delhi besorgt, dass chinesische Waren den heimischen Markt überschwemmen und lokale Anbieter verdrängen. Das ist auch der Grund, warum Indien noch einmal nachverhandeln will, wenn es um das „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (RCEP) Abkommen geht, das gemeinsam mit den meisten asiatischen Ländern größte Freihandelsabkommen der Welt, zu schaffen. Indien fühlt sich von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020). Bestimmender Faktor des indischen Verhältnisses zu China ist das immer wieder auch in Rivalität mündende Neben- und Miteinander zweier alter Kulturen, die heute die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sind. Das bilaterale Verhältnis ist von einem signifikanten Ungleichgewicht zu Gunsten Chinas gekennzeichnet (BICC 12.2019).

Indien und Sri Lanka Die beiden Staaten pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis, das durch den mittlerweile beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka zwischen der tamilischen Minderheit und singhalesischen Mehrheit stark beeinflusst wurde. Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 11.2019a). Darüber hinaus bestehen kleinere Konflikte zwischen Indien und Bangladesch (BICC 12.2019). […]

2.2. Regionale Problemzone Punjab

Letzte Änderung: 30.03.2020

Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Mio. Sikhs 16 Mio. im Punjab (MoHA o.D.).

Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 8.2019).

Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibt Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die militante Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Militante der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert, BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der militanten Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 8.2019). Im Punjab haben die Behörden besondere Befugnisse ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 11.3.2020; vgl. BBC 20.10.2015). Menschenrechtsberichten zufolge kommt es im Punjab regelmäßig zu Fällen von Menschenrechtsverletzungen, insbesondere durch Sicherheitsbehörden (extralegale Tötungen, willkürliche Festnahmen, Folter in Polizeigewahrsam, Todesfolge von Folter etc.) (ÖB 8.2019). Die Staatliche Menschenrechtskommission im Punjab hat in einer Reihe von schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte interveniert. In vielen Fällen wurde die Behörde zu Kompensationszahlungen verpflichtet. Die Menschenrechtskommission erhält täglich Beschwerden über Menschenrechtsverletzung und ist in ihrer Kapazität überfordert. Oft sind niedrigkastige oder kastenlose Opfer der polizeilichen Willkür (ÖB 8.2019).

Neben den angeführten Formen der Gewalt, stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab, Uttar Pradesh und Haryana weiterhin ein Problem dar (USDOS 11.3.2020).

Die Zugehörigkeit zur Sikh-Religion ist kein Kriterium für polizeiliche Willkürakte. Die Sikhs, 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, stellen dort einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 8.2019).

Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2017 wurden 8 Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es 3 Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt 2 Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 15.3.2020).

In Indien ist die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit rechtlich garantiert und praktisch von den Behörden auch respektiert; in manchen Grenzgebieten sind allerdings Sonderaufenthaltsgenehmigungen notwendig. Sikhs aus dem Punjab haben die Möglichkeit sich in anderen Landesteilen niederzulassen, Sikh-Gemeinden gibt es im ganzen Land verstreut. Sikhs können ihre Religion in allen Landesteilen ohne Einschränkung ausüben. Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen, wie Babbar Khalsa International, müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (ÖB 8.2019). […]

3. Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 30.03.2020

In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 19.7.2019). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 19.7.2019).

Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 4.3.2020). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 8.2019).

Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums vom September 2018 hat ergeben, dass von insgesamt 1.079 Planstellen an den 24 Obergerichten des Landes 42714 Stellen nicht besetzt waren (USDOS 11.3.2020). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 18.9.2019). Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung, vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 18.9.2018).

Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 4.3.2020). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei mit der Todesstrafe bedrohten Delikten, soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 19.7.2019).

In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 19.7.2019).

Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem Jahr ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 19.7.2019).

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden. Ein im Mai 2016 von der renommierten National Law University Delhi veröffentlichter empirischer Bericht zur Situation der Todesstrafe in Indien zeichnet ein düsteres Bild des indischen Strafjustizsystems. So haben bspw. 80 Prozent aller Todeskandidaten angegeben, in Haft gefoltert worden zu sein. Nach glaubwürdigen, vertraulichen Schätzungen des Internationales Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) kommt es weiterhin zu systematischer Folter in den Verhörzentren in Jammu und Kaschmir (AA 19.7.2019).

Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 11.3.2020). Gerichte sind verpflichtet Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe alle

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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