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41 Innere AngelegenheitenNorm
EMRK Art8 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Abweisung von Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltsberechtigungen für eine jugoslawische Familie mit langjährigem Aufenthalt im Inland und im Inland geborenen, österreichische höhere Schulen besuchenden Kindern; verfassungswidrige Annahme der Notwendigkeit der Antragstellung vom Ausland aus aufgrund der bereits abgelaufenen Sichtvermerke; analoge Vorgangsweise zur Fallgruppe der Verlängerungsanträge verfassungsrechtlich gebotenSpruch
Die Beschwerdeführerinnen sind durch den jeweils angefochtenen Bescheid in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführerinnen, zu Handen ihres Rechtsvertreters, die mit 18.000,-- S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Beide Beschwerdeführerinnen sind Kinder der Staatsangehörigen von Bosnien-Herzegowina N und R S. Ihr Vater lebt seit 1970 in Österreich und hat hier eine Installateurlehre absolviert. Die Mutter kam 1986 nach Österreich. Beide Beschwerdeführerinnen sind in Österreich geboren und leben seither hier. Die Beschwerdeführerinnen verfügten seit Geburt über gültige Sichtvermerke; sie waren im Reisepaß der Mutter eingetragen. Die Gültigkeit des Sichtvermerkes endete am 20. April 1994. Die Mutter beantragte vor Ablauf des Sichtvermerkes die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung und erhielt eine solche bis zum 8. März 1996. Den beiden Beschwerdeführerinnen wurde hingegen die Aufenthaltsbewilligung vom Landeshauptmann von Wien verweigert.
Die gegen dessen Bescheide erhobenen Berufungen wurden mit im wesentlichen gleichlautenden Begründungen des Bundesministers für Inneres unter Bezugnahme auf §13 iVm §6 Abs2 des Aufenthaltsgesetzes - AufG, BGBl. 466/1992 - abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerinnen, welche die Frist zur Stellung eines Verlängerungsantrages versäumt hätten, hätten einen Erstantrag vom Ausland aus stellen müssen, weshalb die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ausgeschlossen und auf das Vorbringen der Beschwerdeführerinnen - auch im Zusammenhang mit ihren persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen sei.
2. Gegen diese Bescheide richtet sich die vorliegende - auf Art144 Abs1 B-VG gestützte - Beschwerde, mit der insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide begehrt wird.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Die angefochtenen, Aufenthaltsbewilligungen nach dem AufG versagenden Bescheide greifen in das den Beschwerdeführerinnen, die sich seit ihrer Geburt in Österreich aufhalten, durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein.
Ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).
2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 16.6.1995, B 1611-1614/94, mit näherer Begründung dargelegt hat, ist es im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung des durch §6 Abs2 AufG geschaffenen Regelungssystems geboten, Fälle, in denen seit langer Zeit in Österreich aufhältige Fremde die Frist, innerhalb der ein Antrag iS des §13 AufG zu stellen gewesen wäre, nur relativ geringfügig versäumt haben, unter den zweiten Satz des §6 Abs2 AufG, wonach Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung auch vom Inland aus gestellt werden können, zu subsumieren.
3. Die belangte Behörde hat dadurch, daß sie im Beschwerdefall unberücksichtigt ließ, daß der Vater der Beschwerdeführerinnen bereits seit 25 Jahren und ihre Mutter seit knapp 10 Jahren in Österreich leben, hier beschäftigt und sozial integriert sind, die Bestimmung des §6 Abs2 erster Satz AufG angewendet und die Versagung der Aufenthaltsbewilligungen, ohne auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerinnen einzugehen, mit der Begründung der verspäteten Antragstellung abgewiesen hat, §6 Abs2 einen verfassungswidrigen, weil gegen Art8 EMRK verstoßenden Inhalt unterstellt.
Die angefochtenen Bescheide waren aus diesem Grund aufzuheben.
III. Die Kostenentscheidung
gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von 3.000,-- S enthalten.
Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gefällt werden.
Schlagworte
Aufenthaltsrecht, Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1995:B1278.1995Dokumentnummer
JFT_10049371_95B01278_00