TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/4 W242 2234676-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.12.2020
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Entscheidungsdatum

04.12.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W242 2234676-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HEUMAYR als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Armenien, vertreten durch Mag. Michael Weiss, Wien 2., Schweidlgasse 38/1, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)       I. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis VII. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und werden die Spruchpunkte II. bis VII. des angefochtenen Bescheids ersatzlos behoben.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und wird aufgrund des Antrags vom XXXX 2020 die Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter um zwei weitere Jahre gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 verlängert.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Dem Beschwerdeführer, einem zum Antragzeitpunkt volljährigen armenischen Staatsangehörigen, wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2015, Zl. XXXX , der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine bis XXXX 2016 befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, die zuletzt mit Bescheid vom XXXX 2018 bis zum XXXX 2020 verlängert wurde.

Am XXXX 2020 stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung.

Aufgrund dieses Antrages wurde er am 30.07.2020 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ihm Rahmen der Prüfung des Verlängerungsantrages vom XXXX 2020 niederschriftlich einvernommen.

Dabei gab er zusammengefasst an, dass er an Prostatitis leiden würde und alle drei Monate zur Kontrolle müsse. Im Bundesgebiet würde sein Sohn leben, wobei dieser jedoch eine eigene Wohnung hätte. Er sei armenischer Staatsangehöriger und hätte in seiner Heimat nur mehr eine 68jährige Schwester, die an den Nieren operiert worden und bettlägerig sei.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsbewilligung abgewiesen (Spruchpunkt I.) und der ihm zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 aberkannt (Spruchpunkt II.). Die mit Bescheid vom XXXX 2018, Zl. 1067172808-15061285, erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter wurde entzogen (Spruchpunkt III.) und ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt IV.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt V.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt VI.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen des Familienverfahrens von seiner Frau abgeleitet erhalten hätte. Die Gattin des Beschwerdeführers sei am XXXX .2015 verstorben. Dem Beschwerdeführer sei chirurgisch die Prostata entfernt worden, wobei sein Gesundheitszustand stabil sei und kein Rückkehrhindernis vorliegen würde. Die weiterführende Therapie in Form von Bestrahlungen sei in Armenien kostenfrei verfügbar und kostenlos zugänglich. Armenien sei ein sicherer Staat und der Beschwerdeführer nicht politisch aktiv. Er habe in Armenien eine Schwester, welche ihn anfangs unterstützen könne.

Am 24.08.2020 erhob der Beschwerdeführer die gegenständliche Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen schwer kranken Mann handeln würde, der auf medizinische Behandlung und die Unterstützung seines Sohnes angewiesen sei. Aufgrund seines Gesundheitszustandes und seines hohen Alters habe er in Armenien nicht mehr die Möglichkeit sich eine Lebensgrundlage zu verschaffen. Aufgrund seiner langjährigen Abwesenheit aus Armenien hätte er keinen Zugang zum Gesundheitssystem und würde er auch zur Covid-Risikogruppe gehören.

Aus der eingeholten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 28.09.2020 ergibt sich, dass eine Strahlenproktitis in Armenien behandelbar sei, der Patient aber alle Kosten für die Behandlung selbst tragen müsse. Unterstützungsmechanismen durch staatliche Stellen oder gemeinnützige Organisationen bestünden nicht.

Das Ergebnis der gerichtlichen Erhebungen wurde den Parteien zur Kenntnis gebracht und ihnen die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt.

Am 08.10.2020 brachte der Beschwerdeführer eine schriftliche Stellungnahme ein, wobei er im Kern ausführte, dass er in Armenien nicht mehr in der Lage wäre Fuß zu fassen und ihm ein soziales Netzwerk fehlen würde.

Am 21.10.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffetnliche mündliche Verhandlung statt, welche jedoch vertagt werden musste. Am 02.12.2020 wurde die am 21.10.2020 vertagte Verhandlung fortgesetzt und der Beschwerdeführer in Anwesenheit seines Vertreters und eines Dolmetschers für die armenische Sprache einvernommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX XXXX und ist am XXXX geboren. Er ist armenische Staatsangehöriger. Seine Identität steht fest.

In Armenien verfügt der Beschwerdeführer über keine relevanten familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte mehr. Seine achtundsechzigjährige Schwester wurde an den Nieren operiert und ist bettlägerig.

Zum (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2015, Zl. XXXX , wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine bis XXXX 2016 befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Diese Entscheidung erwuchs in Rechtskraft. Die Zuerkennung erfolgte im Rahmen des Familienverfahrens und wurde vom Status der Ehefrau des Beschwerdeführers abgeleitet.

Die dem Beschwerdeführer erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung wurde zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2018 bis zum XXXX 2020 verlängert. Am XXXX 2020 stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Verlängerungsantrag.

Der Beschwerdeführer ist seit dem XXXX 2015 durchgehend im Bundesgebiet gemeldet, ist strafrechtlich unbescholten und bezieht Grundversorgung. Er hat an Deutschkursen sowie an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen, wobei er jedoch nur geringste Kenntnisse der deutschen Sprache hat.

Der Beschwerdeführer ist verwitwet. Seine Gattin ist am XXXX 2015 in Österreich verstorben.

Dem Beschwerdeführer wurde am 19.04.2019 chirurgisch die Prostata entfernt. Er leidet an einer höhergradigen Aortenklappensklerose mit hämodynamisch gering- bis mittelgradig wirksamer Aortenstenose und an einer Strahlenproktitis.

Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Unter Berücksichtigung der Sicherheits- und Versorgungslage in Armenien, haben sich die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten durch Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2015, Zl. XXXX , bzw. seit der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2018, wesentlich und nachhaltig zum Nachteil des Beschwerdeführers verändert.

Zur maßgeblichen Situation in Armenien:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (auszugsweise) wiedergegeben:

„Länderspezifische Anmerkungen

Sofern nicht anders angegeben, schließen die Themenbereiche des LIB Armenien die Situation in der separatistischen Entität Bergkarabach (Republik Arzach / Nagorny Karabach), die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, nicht ein.

1        COVID-19

Informationen zur COVID-19-Situation in Armenien werden hauptsächlich in diesem Kapitel ihren Eingang finden. Vereinzelte Informationen finden sich jedoch auch in den nachfolgenden Kapiteln.

Aufgrund der derzeitigen Situation in Armenien (siehe dazu auch die KI vom 28.9.2020 betreffend Berg-Karabach) können daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt aktuelle seriöse Informationen zur COVID-19-Situation nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Websites der WHO: https://ww w.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der John Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboardZi ndex.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Reisewarnung (Sicherheitsstufe 6) aufgrund der gegenwärtigen militärischen Kampfhandlungen um die Region Berg-Karabach und der Verhängung des Kriegsrechts. Zur Eindämmung des Coronavirus (COVID-19) wurde bis vorerst 11.01.2021 ein landesweites „Quarantäne-Regime" erlassen. Weiterhin gelten die Maskenpflicht in allen öffentlichen Räumen und „Social Distancing" sowie Hygieneregeln für die Geschäftswelt (BmeiA 9.11.2020).

Am 16. März 2020 rief die Regierung Armeniens den Ausnahmezustand aus, der fünf Mal verlängert wurde und am 11.September 2020 durch die Nationale Quarantäne ersetzt wurde, die nun bis 11.1.2021 gilt.

Armenien ist das am stärksten von COVID-19 betroffene Land im Südkaukasus. Trotz der Notsituation funktionieren fast alle Sektoren der armenischen Wirtschaft wieder, nachdem Unternehmen Anfang Mai wiedereröffnen durften, um den wirtschaftlichen Zusammenbruch abzuwehren.

Das Einreiseverbot in die Republik Armenien für nicht-armenische Staatsbürger vom 17.3.2020 wurde am 12.8.2020 aufgehoben, sofern der Grenzübertritt nicht auf dem Landweg erfolgt.

Der Grenzübertritt auf dem Landweg ist nur für folgende Personen gestattet:

•        Armenische Staatsangehörige und ihre Familienangehörigen;

•        Nicht-armenische Staatsangehörige mit einem legalen Aufenthaltstitel in Armenien

•        Personen diplomatischer Vertretungen, konsularischer Einrichtungen, internationaler Organisationen und ihre Familienangehörige;

•        Personen, die zu Beerdigungen und Gedenkfeiern kommen, wenn sie nahe Verwandte des Verstorbenen sind (Eltern, Ehepartner, Kinder, Geschwister)

•        Fahrer des internationalen Güterverkehrs, Güterzüge

•        Andere Sonderfälle mit spezieller Sondergenehmigung des Kommandanten, Vize-Pemier- ministers Tigran Avinyan

Die Einreise nach Armenien ist mit einem negativen PCR-Testergebnis aus Österreich, das max. 72 Stunden vor der Einreise gemacht wurde, gestattet. Das Testergebnis soll auf Englisch bzw. Russisch oder Armenisch ausgestellt werden. Alle Einreisenden, die ohne ein dokumentiertes PCR-Testergebnis einreisen, müssen sich auf eigene Kosten einem PCR-Test im Labor am Flughafen unterziehen und sich dort unter Quarantäne stellen bis das Ergebnis bekannt wird. Die Ergebnisse dieser PCR-Tests werden im ARMED-System registriert und der getesteten Person innerhalb von 48 Stunden zur Verfügung gestellt.

Die internationalen regulären Flugverbindungen nach/von Jerewan sind derzeit eingeschränkt. Air France aus Paris und Austrian Airlines aus Wien fliegen Armenien jeweils drei Mal pro Woche an. Da sich die Flugpläne jedoch jederzeit ändern können, ist ständige Überprüfung der aktuellen Situation auf der Homepage von Austrian Airlines notwendig.

Am 19.3.2020 haben die armenischen Behörden ein vorübergehendes Ausfuhr-Verbot für bestimmte medizinische Waren erlassen, um die Versorgung des Landes sicherzustellen und eine weitere Ausbreitung des Coronavirus in Armenien einzudämmen. Das betrifft Güter wie medizinische Schutzausrüstung, Beatmungsgeräte, COVID-19-Test Kits, Atemschutzmasken, medizinische Masken, Desinfektionsmittel auf Alkoholbasis und andere Artikel.

Anfang Mai 2020 wurden die Ausgangsbeschränkungen und Reisebeschränkungen innerhalb Armeniens aufgehoben.

Cafes und Restaurants dürfen seit 4.5.2020 im Freien den Betrieb wiederaufnehmen.

Stufenweise ist seit 18. Mai 2020 auch der Indoor-Betrieb in Lokalen sowie in allen Geschäften und Einkaufszentren unter Auflagen erlaubt. Ebenfalls wurde am 18. Mai 2020 der öffentliche Verkehr wiederaufgenommen. Alle Gewerbe- und Industriebetriebe dürfen unter den vorgegebenen Hygiene-und Sicherheitsmaßnahmen wieder öffnen.

Seit Anfang Juni gilt in Armenien eine allgemeine Masken-Pflicht für alle Personen und Kinder ab 6 Jahren an öffentlichen Orten inklusive öffentliche Verkehrsmitteln sowie Taxis.

Alle Schulen und Universitäten sind seit 15. September 2020 unter bestimmten Auflagen und Vorsichtsmaßnahmen wiedereröffnet. Einige Kurse je nach Universität bzw. Hochschule werden jedoch weiterhin online angeboten.

Kindergärten sind seit 18. Mai 2020 wieder geöffnet.

Das Versammlungsverbot wurde beschränkt aufgehoben. Erlaubt sind nun öffentliche und private Versammlungen bei Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5 Metern und mit obligatorischen Gesichtsmasken in einem Kreis von max. 60 Personen (WKO 5.11.2020).

Quellen:

BMeiA- Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (9.11.2020): Armenien, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/armenien/, Zugriff 9.11.2020

WKO - Wirtschaftskammer Österreich (5.11.2020): Coronavirus: Situation in Armenien, https: //www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-armenien.html , Zugriff 9.11.2020

2        Politische Lage

Armenien (arm.: Hayastan) umfasst knapp 29.800 km2 und hatte im ersten Quartal 2019 eine Einwohnerzahl von 2,96 Millionen, was einen Rückgang von 0,3% zum Vergleichszeitraum des Vorjahres ausmachte (ArmStat 7.5.2019). Davon sind laut der Volkszählung von 2011 98,1% ethnische Armenier. Den Rest bilden kleinere Ethnien wie Jesiden und Russen (CIA 14.2.2019).

Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 findet in Armenien ein umfangreicher Reformprozess auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene hin zu einem demokratisch und marktwirtschaftlich strukturierten Staat statt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen am 9.12.2018 konnten nach übereinstimmender Meinung aller Wahlbeobachter als frei und fair bezeichnet werden. Die im Dezember 2015 per Referendum gebilligte Verfassungsreform zielt auf den Umbau von einer semi-präsidialen in eine parlamentarische Demokratie ab. Die Änderungen betreffen u.a. eine Ausweitung des Grundrechtekatalogs sowie die weitere Stärkung des Parlaments (auch der Opposition). Das Amt des Staatspräsidenten wurde im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben reduziert, gleichzeitig die Rolle des Premierministers und des Parlaments gestärkt (AA 27.4.2020). Der Premierminister und der Präsident werden vom Parlament gewählt. Der Premierminister ist der Regierungsvorsitzende, während der Präsident vorwiegend zeremonielle Funktionen ausübt (USDOS 11.3.2020).

Oppositionsführer Nikol Paschinjan wurde im Mai 2018 vom Parlament zum Premierminister gewählt, nachdem er wochenlange Massenproteste gegen die Regierungspartei angeführt und damit die politische Landschaft des Landes verändert hatte. Er hatte Druck auf die regierende Republikanische Partei durch eine beispiellose Kampagne des zivilen Ungehorsams ausgeübt, was zum schockartigen Rücktritt Serzh Sargsyans führte, der kurz zuvor das verfassungsmäßig gestärkte Amt des Premierministers übernommen hatte, nachdem er zehn Jahre lang als Präsident gedient hatte (BBC 20.12.2018; vgl. AA 27.4.2020). Bei den als „Samtene Revolution" bezeichneten Demonstrationen im April/Mai 2018 verhielten sich die Sicherheitskräfte zurückhaltend. Auch die Demonstranten waren bedacht, keinerlei Anlass zum Eingreifen der Sicherheitskräfte zu bieten (AA 27.4.2020).

Am 9.12.2018 fanden vorgezogene Parlamentswahlen statt, welche unter Achtung der Grundfreiheiten ein breites öffentliches Vertrauen genossen. Die offene politische Debatte, auch in den Medien, trug zu einem lebhaften Wahlkampf bei. Das generelle Fehlen von Verstößen gegen die Wahlordnung, einschließlich des Kaufs von Stimmen und des Drucks auf die Wähler, ermöglichte einen unverfälschten Wettbewerb (OSCE/ODIHR 10.12.2018). Die Allianz des amtierenden Premierministers Nikol Paschinjan unter dem Namen „Mein Schritt" erzielte einen Erdrutschsieg und erreichte 70,4% der Stimmen. Die ehemalige mit absoluter Mehrheit regierende Republikanische Partei (HHK) erreichte nur 4,7% und verpasste die 5-Prozent-Marke, um in die 101-Sitze umfassende Nationalversammlung einzuziehen. Die Partei „Blühendes Armenien" (BHK) des Geschäftsmannes Gagik Tsarukyan gewann 8,3%. An dritter Stelle lag die liberale, pro-westliche Partei „Leuchtendes Armenien" unter Führung Edmon Maruyian, des einstigen Verbündeten von Paschinjan, mit 6,4% (RFE/RL 10.12.2018; vgl. ARMENPRESS 10.12.2018).

Zu den primären Zielen der Regierung unter Premierminister Paschinjan gehören die Bekämpfung der Korruption und Wirtschaftsreformen (RFL/RL 14.1.2019; vgl. FH 4.3.2020) sowie die Schaffung einer unabhängigen Justiz (168hours 20.7.2018; vgl. FH 4.3.2020). Seit Paschinjans Machtübernahme hat sich das innenpolitische Klima deutlich verbessert und dessen Regierung geht bestehende Menschenrechts-Defizite weitaus engagierter als die Vorgängerregierungen an, auch wenn immer noch Defizite bei der konsequenten Umsetzung der Gesetze bestehen (AA 27.4.2020).

3        Sicherheitslage

Im Krieg um Berg-Karabach war unter Vermittlung Putins eine Waffenruhe zwischen Aserbaidschan undArmenien zustande gekommen. Kernpunkt der Vereinbarung ist die Entsendung von russischen Friedenssoldaten. Zudem gibt es territoriale Zugeständnisse. Bereits am Tag darauf landeten die ersten von insgesamt rund 2.000 russischen Soldaten in der Region (DerStandard 11.11.2020).

In einer gemeinsamen Erklärung haben sich Russlands Präsident Wladimir Putin, sein aserbaidschanischer Amtskollege Ilham Alijew und der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan auf eine neue Grenzziehung und die Stationierung eines russischen Militärkontingents zur Sicherung des neuen Status quo im Konflikt um Berg-Karabach geeinigt. Aserbaidschan verleibt sich wieder rund die Hälfte des abtrünnigen Gebiets ein, darunter die zweitgrößte Stadt Schu- scha, die strategisch von immenser Bedeutung ist. Paschinjan wurde zur Zielscheibe nationalistischen Hasses (DerStandard 10.11.2020). Tausende Menschen demonstrierten in Jerewan gegen die Waffenruhe. Sie beschimpften Paschinian als „Verräter" und forderten seinen Rücktritt. Hunderte der Demonstranten stürmten den Regierungssitz und das Parlamentsgebäude (Krone 10.11.2020). Die Polizei ging mit Gewalt gegen Demonstranten vor. Es gab dutzende Festnahmen, auch weil Kundgebungen wegen des geltenden Kriegsrechts und wegen der Coronavirus-Pandemie nicht erlaubt sind. Unter den Festgenommenen waren auch mehrere Parlamentsabgeordnete (DerStandard 11.11.2020 vgl. ZeitOnline 11.11.2020).

Die Türkei und Russland richten ein Zentrum zur Überwachung der Waffenruhe zwischen Aserbaidschan und Armenien ein. Laut dem türkischen Präsident Tayyip Erdogan soll das Zentrum „auf von der Besatzung befreitem aserbaidschanischem Gebiet" entstehen. Eine entsprechende Vereinbarung sei unterschrieben worden. Die Türkei werde sich laut Erdogan zusammen mit Russland an Friedenskräften beteiligen, um die Umsetzung der Waffenruhe zu beobachten. Dagegen stellte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erneut klar, dass das Zentrum zum Monitoring der Waffenruhe auf aserbaidschanischem Gebiet angesiedelt werde und nicht in Gebieten in Berg- Karabach, die zuvor von Aserbaidschan erobert worden waren. Er wies abermals zurück, dass auch die Türkei Friedenstruppen entsendet, da eine gemeinsame Mission nicht gesprochen wurde (DerStandard 11.11.2020).

4.1      Regionale Problemzone: Berg-Karabach (Nagorny Karabach)

Die sogenannte Republik Berg-Karabach (’RBK’, russ.: Nagorny Karabach; in Armenien auch Arzach genannt) wird von keinem Staat völkerrechtlich anerkannt. Die aserbaidschanische Regierung besitzt faktisch keine Kontrolle über das Gebiet. Auch Armenien erkennt die ’Republik Berg-Karabach’ offiziell nicht an, praktisch sind beide aber wirtschaftlich und rechtlich stark verflochten. Die Bewohner von Berg-Karabach erhalten neben ihrem RBK-Pass auch armenische Pässe (AA 27.4.2020). Armenien finanziert 55% des Budgets der Republik Arzach (ChH 4.6.2020).

Laut Angaben der Republik Arzach, umfasst das Gebiet mehr als 12.000 km2, wobei hiervon 1.041 km2 unter aserbaidschanischer Okkupation stünden. Die Bevölkerung belief sich 2013 auf rund 147.000 Einwohner, wovon 95% Armenier sind, nebst Russen, Ukrainern, Griechen, Georgiern und Aseri (NKR o.D.).

Die Republik Arzach kontrolliert das in Aserbaidschan früher als Autonome Region Berg-Karabach verwaltete Gebiet sowie weitere sieben Provinzen Aserbaidschans in den Grenzgebieten zu Armenien und Iran und in der Region umAgdam. Der Kreis Shahumyan nördlich der früheren Autonomen Region ist unter aserbaidschanischer Kontrolle, wird aber ebenfalls von der ’RBK’ beansprucht, da es sich nach deren Logik um ’von Aserbaidschan besetztes Gebiet’ mit ehemals armenischer Bevölkerungsmehrheit handelt. Insgesamt befindet sich etwa 13% des Staatsgebiets von Aserbaidschan unter armenischer Kontrolle, d.h. der sog. Republik Berg-Karabach (AA 27.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Nach der Verfassung ist der Präsident sowohl Staats- als auch Regierungschef und hat die volle Autorität, Kabinettsmitglieder zu ernennen und zu entlassen. Im September 2017 wurde das Amt des Premierministers abgeschafft (FH 4.3.2020k).

Am 31.3.2020 fanden in Berg-Karabach - international nicht anerkannte - Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt (HBS 2.4.2020). Die Partei des Freien Vaterlandes von Harutjunyan gewann bei den Parlamentswahlen mehr als 40% der Stimmen und wird 16 der 33 Sitze kontrollieren, während die größte Oppositionskraft, die Partei der Vereinigten Heimat von Samvel Babajan, neun Sitze erhielt (CW 16.4.2020).

Bei der Wahl zum Präsidenten wurde ein zweiter Wahlgang notwendig, der am 14.4.2020, trotz des wegen COVID-19 zwei Tage zuvor ausgerufenen Notstandes, durchgeführt wurde. Die Notstandsregel verbietet öffentliche Versammlungen, beschränkt die Verkehrsanbindung innerhalb von Karabach und untersagt Bürgern Armeniens und anderer Länder die Einreise in die Region (CW 16.4.2020). Arayik Harutjunyan gewann mit mehr als 87% der abgegebenen Stimmen. Harutjunyan war 2017 bis 2018 Außenminister und 2007-2017 Premierminister der Republik Arzach (PA 15.4.2020) und verfehlte bereits im ersten Wahlgang am 31.3.2020 die notwendige Mehrheit nur um wenige hundert Stimmen (Armenpress 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020).

Armenische Wahlbeobachter berichten von weitverbreiteten Verletzungen des Wahlgeheimnisses (EN 1.4.2020). Kritisiert wurde weiters, dass wegen COVID-19 kein Wahlkampf geführt werden konnte wie in „normalen" Zeiten - und zudem der Urnengang selbst das Risiko einer weiteren Ausbreitung des Virus deutlich erhöht habe (HBS 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020). Der im zweiten Wahlgang unterlegene Präsidentschaftskandidat Masis Mailjan forderte die Wähler auf, wegen der Pandemie nicht an den Wahlen teilzunehmen und weigerte sich auch, an Fernsehdebatten teilzunehmen (CW 16.4.2020).

Die Republik Arzach wurde bis zu den Wahlen von Verbündeten der 2018 von Paschinjan gestürzten armenischen Regierung regiert. Die Führer des ehemaligen armenischen Regimes, darunter die ehemaligen Präsidenten Serzh Sargsyan und Robert Kocharyan, unternahmen einige vage Anstrengungen, um über Berg-Karabach als letzte Bastion die Macht in Armenien wiederzugewinnen. Ihr favorisierter Kandidat, Vitaliy Balasanyan, versäumte bei den Präsidentenwahlen am 31.3.2020 den Einzug in den zweiten Wahlgang (EN 1.4.2020).

Die Justiz ist in der Praxis nicht unabhängig und die Gerichte werden von der Exekutive sowie von mächtigen politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Gruppen beeinflusst. Die Verfassung garantiert grundlegende Verfahrensrechte, aber Polizei und Gerichte halten diese in der Praxis nicht immer ein. Die Regierung kontrolliert viele der Medien. Im Jahr 2019 wurden Veränderungen durch die politische Öffnung in Armenien im Jahr 2018 mitbewirkt. Politische Kritiker der Führung, denen zuvor selbst kurze Auftritte verboten waren, wurden zu regelmäßigen Gästen in Sendungen zu aktuellen Themen. Darüber hinaus werden nun regelmäßig Debatten organisiert, um wichtige Themen des lokalen öffentlichen Lebens anzusprechen. Oppositionspolitiker haben auch gute Verbindungen zu unabhängigen Medien in Armenien, wodurch deren Ansichten auch in Berg-Karabach vermittelt werden. Dennoch praktizieren viele Journalisten

Selbstzensur, insbesondere bei Themen im Zusammenhang mit dem Friedensprozess. Die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit, lässt aber Einschränkungen im Namen der Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und anderer staatlicher Interessen zu. In der Verfassung ist die Armenische Apostolische Kirche als 'nationale Kirche’ des armenischen Volkes verankert. Die Religionsfreiheit anderer Gruppen wird in der Praxis eingeschränkt. Proteste sind in der Praxis relativ selten. Die Behörden blockieren Versammlungen und Demonstrationen, wenn sie diese als Bedrohung der öffentlichen Ordnung wahrnehmen (FH 4.3.2020).

Es gibt keine Erkenntnisse, wonach Personen bei Bekanntwerden einer (auch) aserbaidschanischen Herkunft mit staatlichen Übergriffen zu rechnen hätten. In Berg-Karabach gelten den armenischen Regelungen vergleichbare Vorschriften zur kostenlosen medizinischen Behandlung. Im Sozialwesen gibt es 'behördlich’ Unterstützung. Die wirtschaftliche Situation in Berg- Karabach ist nach allgemeiner Einschätzung besser als in Armenien (AA 27.4.2020).

4        Rechtsschutz / Justizwesen

Die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter ist inArt. 162 und 164 der Verfassung verankert. Die Verfassung von 2015 hat die bisher weitreichenden Kompetenzen des Staatspräsidenten bei der Ernennung von Richtern reduziert. Das Vertrauen in das Justizsystem ist allerdings weiterhin schwach, da die Mehrzahl der Richter ihre Ämter unter der Vorgängerregierung erlangt hat. Die im Oktober 2019 verabschiedete Reform zur Justizstrategie zielt auf einen personellen Wechsel im Justizapparat ab. Verfahrensgrundrechte, wie rechtliches Gehör, faires Gerichtsverfahren und Rechtshilfe werden laut Verfassung gewährt. In Bezug auf den Zugang zur Justiz gab es in den letzten Jahren bereits Fortschritte, die Zahl der Pflichtverteidiger wurde erhöht und kostenlose Rechtshilfe kommt einer breiteren Bevölkerung zugute. Die Einflussnahme durch Machthaber auf laufende Verfahren war in der Vergangenheit in politisch heiklen Fällen verbreitet. Die derzeitige Regierung unter Premierminister Paschinjan hat sich von solchen Praktiken distanziert (AA 27.4.2020).

Zwar muss von Gesetzes wegen Angeklagten ein Rechtsbeistand gewährt werden, doch führt der Mangel an Pflichtverteidigern außerhalb Jerewans dazu, dass dieses Recht den Betroffenen verwehrt wird (USDOS 11.3.2020). Richter stehen unter systemischem politischem Druck und Justizbehörden werden durch Korruption untergraben. Berichten zufolge fühlen sich die Richter unter Druck gesetzt, mit Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, um Angeklagte zu verurteilen. Der Anteil an Freisprüchen ist extrem niedrig (FH 4.3.2020). Allerdings entließen viele Richter nach der 'Samtenen Revolution’ im Frühjahr 2018 etliche Verdächtige in politisch sensiblen Fällen aus der Untersuchungshaft, was die Ansicht von Menschenrechtsgruppen bestätigte, dass vor den Ereignissen im April/Mai 2018 gerichtliche Entscheidungen politisch konnotiert waren, diese Verdächtigen in Haft zu halten, statt gegen Kaution freizulassen (USDOS 11.3.2020).

Trotz gegenteiliger Gesetzesbestimmungen zeigt die Gerichtsbarkeit keine umfassende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verwaltungsgerichte sind hingegen verglichen zu den anderen Gerichten unabhängiger. Sie leiden allerdings unter Personalmangel. Nach dem Regierungswechsel im Mai 2018 setzte sich das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Richter fort und einige Menschenrechtsanwälte erklärten, es gebe keine rechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz. NGOs berichten, dass Richter die Behauptungen der Angeklagten, ihre Aussage sei durch körperliche Übergriffe erzwungen worden, routinemäßig ignorieren. Die Korruption unter Richtern ist weiterhin ein Problem. Die am 10. Oktober 2019 verabschiedete Strategie für die Justiz- und Rechtsreform 2019-2023 zielt darauf ab, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz und das Justizsystem zu stärken und die Unabhängigkeit der Justiz zu fördern (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung und die Gesetze sehen das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess vor, aber die Justiz setzt dieses Recht nicht durch. Ebenso sieht das Gesetz die Unschuldsvermutung vor, Verdächtigen wird dieses Recht jedoch in der Regel nicht zugesprochen. Das Gesetz verlangt, dass die meisten Prozesse öffentlich sind, erlaubt aber Ausnahmen, auch im Interesse der ’Moral’, der nationalen Sicherheit und des 'Schutzes des Privatlebens der Teilnehmer’. Gemäß dem Gesetz können Angeklagte Zeugen konfrontieren, Beweise präsentieren und den Behördenakt vor einem Prozess einsehen. Allerdings haben Angeklagte und ihre Anwälte kaum Möglichkeiten, die Aussagen von Behördenzeugen oder der Polizei anzufechten. Die Gerichte neigen währenddessen dazu, routinemäßig Beweismaterial zur Strafverfolgung anzunehmen. Zusätzlich verbietet das Gesetz Polizeibeamten, in ihrer offiziellen Funktion auszusagen, es sei denn, sie waren Zeugen oder Opfer (USDOS 11.3.2020).

5        Allgemeine Menschenrechtslage

Die Verfassung enthält einen ausführlichen Grundrechtsteil modernen Zuschnitts, der auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte miteinschließt. Durch Verfassungsänderungen im Jahr 2015 wurde der Grundrechtekatalog noch einmal erheblich ausgebaut. Ein Teil der Grundrechte können im Ausnahmezustand oder im Kriegsrecht zeitweise ausgesetzt oder mit Restriktionen belegt werden. Gemäß Verfassung ist der Kern der Bestimmungen über Grundrechte und -freiheiten unantastbar. Extralegale Tötungen, Fälle von Verschwindenlassen, unmenschliche, erniedrigende oder extrem unverhältnismäßige Strafen, übermäßig lang andauernde Haft ohne Anklage oder Urteil bzw. Verurteilungen wegen konstruierter oder vorgeschobener Straftaten sind nicht bekannt (AA 27.4.2020).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsverletzungen gehören: Folter; willkürliche Inhaftierung, wenn auch mit weniger Berichten; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Gewalt oder die Androhung von Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender oder intersexuelle Personen (LGBTI) und der Einsatz von erzwungener oder obligatorischer Kinderarbeit (USDOS 11.3.2020, vgl. HRW 14.1.2020). Die Regierung unternimmt Schritte zur Untersuchung und Ahndung von Missbrauch gegen aktuelle und ehemalige Beamte und Sicherheitskräfte (USDOS 11.3.2020).

Die Regierung Armeniens erfüllt die Mindeststandards für die Beseitigung des Menschenhandels nicht vollständig, unternimmt aber erhebliche Anstrengungen, um dies zu erreichen. Sie nahm Gesetzesänderungen und Verordnungen zur Stärkung der Gesundheits- und Arbeitsaufsichtsbehörde vor und führte Schulungen für Strafverfolgungsbeamte durch. Die Behörden erhöhten die Zahl der Ermittlungen und Strafverfolgungen, und die Kommission zur Identifizierung von Opfern funktionierte weiterhin gut. Die Regierung hat seit 2014 keine Verurteilung wegen Zwangsarbeit mehr erhalten. Es fehlt an proaktiven Identifizierungsbemühungen, wie z.B. Standardindikatoren zur Überprüfung gefährdeter Bevölkerungsgruppen. Die Opfer von Menschenhandel sahen sich, wie die Opfer anderer Verbrechen, mit einem eingeschränkten Zugang zur Justiz konfrontiert, u.a. aufgrund fehlender opferorientierter Verfahren und formeller Maßnahmen zum Schutz der Opfer und Zeugen (USDOS 25.6.2020).

6        Meinungs- und Pressefreiheit

Die Verfassung schützt die Freiheit der Meinung, Information, Medien und anderer Informationsmittel (AA 27.4.2020, vgl. USDOS 11.3.2020). Seitdem politischen Übergang 2018 ist das Medienumfeld freier geworden und einige Sender begannen, sich von der früheren Praxis der Selbstzensur zu lösen. Es gibt jedoch Berichte, dass einige Sender es vermeiden, die Behörden zu kritisieren, um nicht „konterrevolutionär" zu erscheinen (USDOS 11.3.2020). Journalisten zeichneten neun Monate nach dem politischen Machtwechsel ein gemischtes Bild. Während die Regierung nicht mehr versucht, die Berichterstattung direkt zu orchestrieren, erweisen sich die neuen Behörden als dünnhäutig gegenüber Kritik. Premierminister Paschinjan selbst hat wiederholt öffentliche Angriffe auf Journalisten gestartet, von denen viele in den Medien sagen, dass sie ein Klima der Einschüchterung gegen kritische Berichterstattung geschaffen haben (Eurasianet 6.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Viele traditionelle und Online-Medien lassen weiterhin eine objektive Berichterstattung vermissen. Einzelpersonen können die Regierung ohne Angst vor Verhaftung kritisieren (USDOS 11.3.2020).

Dem Rundfunk und auflagenstarken Printmedien fehlt es in der Regel an politischer Meinungsvielfalt und objektiver Berichterstattung. Privatpersonen oder private Gruppen, von denen die meisten Verbindungen zur alten Regierung haben, besitzen die meisten Rundfunkmedien und Zeitungen, was in der Regel die politische Ausrichtung und die finanziellen Interessen ihrer Eigentümer widerspiegelt. Nach Ansicht einiger Medienkritiker präsentierte das öffentlich-rechtliche Fernsehen weiterhin Nachrichten aus einer regierungsfreundlichen Perspektive und hat nach dem Regierungswechsel die Sichtweise gewechselt (USDOS 11.3.2020).

Unabhängige und investigative Medien arbeiten in Armenien relativ frei. Ihre Produkte sind im Allgemeinen online zu finden. Kleine unabhängige Stellen berichteten ausführlich über die

Proteste im Jahr 2018 und stellten das Narrativ der staatlichen Rundfunkanstalten und anderer Medien des Establishments in Frage. Im Vergleich dazu sind die meisten Print- und Rundfunkanstalten mit politischen oder größeren kommerziellen Interessen verbunden (FH 4.3.2020).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie hat die Regierung restriktiv auf die Verbreitung von Falschnachrichten zum Coronavirus reagiert, indem sie Journalisten und Medien untersagte, bestimmte Nachrichten zu verbreiten. Diese Maßnahme traf auch unabhängige, kritische Medien und Journalisten, die unter anderem über die desolate Situation in Krankenhäusern berichten wollten (HBS 2.4.2020 vgl. FH 14.10.2020).

Die Internetfreiheit in Armenien hat sich seit der Samtenen Revolution verbessert. Die Nutzer stoßen in der Regel weder auf Einschränkungen von Online-Inhalten, noch werden sie für ihre Online-Aktivitäten rechtlich oder außergesetzlich bestraft. In den ersten Tagen der Reaktion der Regierung auf den Ausbruch von COVID-19 gingen die Beamten jedoch dazu über, Online-Nachrichtenagenturen und einzelne Nutzer sozialer Medien zu zensieren (vgl. HBS 2.4.2020). Darüber hinaus begann die Regierung damit, Metadaten von den Mobilgeräten der Benutzer zum Zweck der Kontaktverfolgung zu sammeln, was die Befürworter des Datenschutzes alarmiert hat (FH 14.10.2020).

In den ersten neun Monaten des Jahres 2019 wurden drei physische Angriffe auf Journalisten gemeldet (USDOS 11.3.2020). Im Jahr 2019 wurden insgesamt vier Vorfälle von körperlicher Gewalt gegen Reporter und Kameramänner registriert, 134Vorfälle von Druck auf Medien und deren Mitarbeiter und 108 Vorfälle von Verletzungen des Rechts auf Erhalt und Verbreitung von Informationen (HCA 25.2.2020).

7        Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

Die Verfassung und das Gesetz sehen die Freiheit der friedlichen Versammlung vor und nach der 'Samtenen Revolution’ im Frühjahr 2018 respektierte die neue Regierung diese Rechte im Allgemeinen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 27.4.2020). Der Schutz und die Zugänglichkeit des Rechts auf Versammlungsfreiheit haben sich durch die politischen Veränderungen der im April 2018 abgehaltenen Versammlungen erheblich verbessert (HCA 1.2019). Die 194 im Jahr 2019 durchgeführten Versammlungen in Jerewan waren ihrer Natur nach extrem divers, jedoch wurde die Versammlungsfreiheit durch Polizeiinterventionen öfters gestört (HCR 25.2.2020).

Versammlungen können ohne vorherige Genehmigung, aber nach Benachrichtigung der Behörden abgehalten werden. In einigen Fällen die Benachrichtigung nicht erforderlich ist, wenn spontane und dringende Versammlungen abgehalten werden, oder wenn die Teilnehmerzahlen 100 Personen nicht überschreiten. Darüber hinaus sieht dieses Gesetz vor, dass die Polizei unabhängig von der Art der Versammlung verpflichtet ist, für Sicherheit zu sorgen und Demonstrationen zu ermöglichen, solange sie friedlich sind. Einige problematische Gesetzesbestimmungen schränken die Versammlungsfreiheit jedoch ein. So erlaubt das Gesetz beispielsweise nicht, dass sich Menschen vor dem Eingang bestimmter öffentlicher Gebäude versammeln (OHCHR 16.11.2018).

Die Vereinigungsfreiheit hat Verfassungsrang. Die Gesetzgebung entspricht im Wesentlichen internationalen Standards, weist aber in der Umsetzung Defizite auf (AA27.4.2020, vgl. OHCHR 16.11.2018). Das Gesetz schützt das Recht der Arbeitnehmer auf Gründung und Beitritt zu unabhängigen Gewerkschaften, Streiks und Tarifverhandlungen. Diese Schutzvorkehrungen werden jedoch mangelhaft durchgesetzt und die Arbeitgeber sind im Allgemeinen in der Lage, die Gewerkschaftstätigkeit in der Praxis zu blockieren (FH 4.3.2020).

Das Gesetz schränkt die Registrierung oder Tätigkeit von politischen Parteien nicht ein. Die politische Dominanz und Kontrolle der Republikanische Partei (HHK) über die administrativen Ressourcen hat in der Vergangenheit verhindert, dass die gleichen Wettbewerbsbedingungen für die konkurrierenden Parteien des Landes galten. Die Protestbewegung von 2018, die Sargsyan, den Ministerpräsidenten der bis dahin regierenden HHK, aus dem Amt zwang, gab den Oppositionsgruppen deutlich mehr Freiheit vor den Wahlen im Dezember 2018. Die Parlamentswahlen im Dezember veränderten die politische Landschaft, ließen die HHK ohne parlamentarische Vertretung und ebneten den Weg für das Oppositionsbündnis „Mein Schritt“ zur Macht.

20       Bewegungsfreiheit

Die gesetzlich garantierte Bewegungsfreiheit im Land, Auslandsreisen, Emigration und Repatriierung werden generell respektiert (USDOS 11.3.2020, vgl. FH 4.3.2020).

Aufgrund des zentralistischen Staatsaufbaus und der geringen territorialen Ausdehnung gibt es kaum Ausweichmöglichkeiten gegenüber zentralen Behörden. Bei Problemen mit lokalen Behörden oder mit Dritten kann jedoch ein Umzug Abhilfe schaffen (AA 27.4.2020).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie hat Armenien die Einreise von Personen untersagt, die weder Staatsbürger Armeniens noch Familienangehörige eines Staatsbürgers oder rechtmäßige Bewohner Armeniens sind. Reisende, denen die Einreise nach Armenien gestattet ist, müssen sich 14 Tage lang in Selbstquarantäne begeben. Georgien und Armenien haben bilateral ihre Landgrenze bis auf weiteres geschlossen. Staatsbürger Armeniens oder Georgiens dürfen in ihre jeweiligen Länder zurückkehren. Ebenso ist die Grenze zwischen dem Iran und Armenien für die meisten Reisenden geschlossen (USEMB 23.4.2020; vgl. Gov.am o.D.). Eine landesweite Ausgangssperre wurde am 16.3.2020 ausgerufen, alle Personen mussten Deklarationsformulare und Ausweise stets bei sich tragen (Garda 31.3.2020; vgl. USEMB 23.4.2020). Verstöße gegen die Quarantänebestimmungen und Ausgangsbeschränkungen waren gesetzlich strafbar (USEMB 23.4.2020; vgl. Gov.am o.D.). Die Bestimmungen wurden jedoch häufig nicht eingehalten und nicht durchgesetzt (ChH 4.6.2020; vgl. TASS 4.6.2020). Bis Anfang Mai 2020 wurden die meisten Beschränkungen wieder aufgehoben (RFE/RL 2.6.2020; vgl. EN 3.6.2020, TASS 4.6.2020).

21       IDPs und Flüchtlinge

Mit Stand Februar 2019 wurden rund 14.700 Flüchtlinge aus Syrien, 1.390 aus Aserbaidschan und 1.100 aus dem Irak gezählt, in Summe rund 18.000 (UNHCR 2.2019). Seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien kamen über 20.000 Flüchtlinge nach Armenien (99% armenisch-stämmige Christen), davon wurde der Löwenanteil aufgrund des gegenüber Immigranten armenischer Abstammung liberalen armenischen Staatsangehörigkeitsrechts mittlerweile eingebürgert. In kleinerem Maße treffen noch immer Flüchtlinge aus Syrien in Armenien ein. Die Integration ist aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage schwierig, auch wenn gerade die Flüchtlinge aus Syrien gut ausgebildet sind und oft unternehmerische Erfahrung sowie ein gutes Integrationspotential haben (AA 27.4.2020).

Die Nationalversammlung hat den Aktionsplan der neuen Regierung gebilligt, der erstmals wesentliche Verweise auf Flüchtlinge und Migration enthält. Unzureichende Aufnahmekapazitäten, die Bestrafung von Asylbewerbern wegen illegaler Einreise und nationale Sicherheitserwägungen können einen wirksamen Flüchtlingsschutz behindern, obgleich Armenien Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention ist (UNHCR 2.2019).

Die Behörden bieten den im Land verbliebenen ethnischen Armeniern aus Syrien die Wahl zwischen verschiedenen Schutzoptionen, darunter eine beschleunigte Einbürgerung, eine Aufenthaltserlaubnis oder den Flüchtlingsstatus. Durch die schnelle Einbürgerung erhalten Vertriebene aus Syrien das gleiche Recht auf Gesundheitsversorgung und die meisten anderen Sozialdienste wie andere Bürger (USDOS 11.3.2020).

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) leistet humanitäre Hilfe in Form von Bargeld und anderer Unterstützung für einige der am stärksten gefährdeten Personen. Die Unterstützung umfasst Berufsausbildung, Mikrokredite, Instrumente zur Einkommenserzielung, Ausbildung im lokalen Marketing sowie Beratung und Coaching. Während der COVID-19-Pandemie wird auch psychosoziale Unterstützung und Beratung angeboten. Darüber hinaus setzt sich das UNHCR auch für die sozialen und wirtschaftlichen Rechte von Syrern und anderen Vertriebenen ein und fördert ihre gleichberechtigte Einbeziehung in staatliche Programme und Entwicklungsprogramme mit Einheimischen (UNHCR 3.6.2020).

Laut dem Internal Displacement Monitoring Center lebten mit Stand Dezember 2018 etwa 8.400 Binnenvertriebene der geschätzten 65.000 Haushalte, die [im Zuge des Bergkarabach-Konfliktes] 1988-94 evakuiert wurden, noch in der Vertreibung. Einige der Binnenvertriebenen und ehemaligen Flüchtlinge des Landes haben keine angemessene Unterkunft und nur begrenzte wirtschaftliche Möglichkeiten (USDOS 11.3.2020).

22       Grundversorgung und Wirtschaft

Über ein Viertel der armenischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, d.h. es stehen weniger als 75 Euro pro Monat zur Verfügung. Die registrierte Arbeitslosenquote liegt bei 20%. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen ist weder in Ausbildung noch in der Beschäftigung. Die Schattenwirtschaft macht über 30% des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Wirtschaft wird nach wie vor von den sogenannten „Oligarchen“ dominiert, Geschäftsleuten, die in bestimmten Wirtschaftszweigen Monopole gegründet und in der Vergangenheit erheblichen Einfluss auf die Politik ausgeübt haben (FriEnt 23.4.2019).

Das Durchschnittseinkommen betrug im ersten Quartal 2019 rund AMD 174.000 [ca. EUR 323] (ArmStat 2019), während die monatliche Durchschnittspension 2017 AMD 40.634 [ca. EUR 74] ausmachte. Das Mindesteinkommen beträgt AMD 55.000 [EUR 100], die Mindestpension AMD 16.000 [EUR 29] (ArmStat 2018). Trotz relativ günstiger Wachstumsraten ist es nicht gelungen, den Lebensstandard für breite Bevölkerungsteile spürbar zu erhöhen. Wegen der Corona-Krise 2020 ist er nun massiv bedroht (SWP 5.2020).

Der UNDP Human Development Index, ein Messwert zur Beurteilung der Humanentwicklung und der Ungleichheit, ergab 2017 für Armenien einen Wert von 0.757 [Statistischer Bestwert ist 1] (im Vergleich der HDI von Österreich beträgt 0.908). Damit belegte Armenien, dessen Wert sich seit 1990 kontinuierlich verbesserte, Platz 83 von 189 Staaten (UNDP 15.7.2018).

Rohstoffgewinnung und deren Verarbeitung dominieren die armenische Industrie. Auch der Landwirtschaftssektor spielt eine wichtige Rolle, vor allem in Exporten des Landes (WKO 5.202023.7.2018). Nach den politischen Veränderungen im Jahr 2018 ging es mit der armenischen Wirtschaft steil bergauf. Sie wuchs schnell und überholte die ihrer Nachbarländer: Das Wachstum im Jahr 2019 betrug laut Weltbank 7,6% (Euronews 20.4.2020; vgl. WKO 5.2020).

Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ist die Produktion in einigen Sektoren um 90% gesunken. Der Bau- und Tourismussektor haben am meisten gelitten, da sie mit anderen Wirtschaftssektoren zusammenhängen (Euronews 20.4.2020). In der Branche Tourismus und Gastgewerbe kann die Zahl der Arbeitslosen bis zu 200.000 erreichen (Sputnik 17.4.2020). Die Unfähigkeit, die Pandemie umgehend einzudämmen, verzögert auch die Bewältigung der wirtschaftlichen Auswirkungen, und das kann sich das Land bei einem Rückgang des BIP von voraussichtlich 3,5% im Jahr 2020 kaum leisten. Die Pandemie wird auch zu einem Rückgang der Überweisungen aus Russland führen, und der wirtschaftliche Abschwung über die Region hinaus wirkt sich auf die Finanzierung, einschließlich des Tourismus, durch die armenische Diaspora aus (ChH 4.6.2020).

22.1 Sozialbeihilfen

Sozialwesen

Das Sozialsystem in Armenien ist wie folgt aufgebaut:

•        Staatliches Sozialhilfeprogramm, z.B. Unterstützung von Familien, einmalige Geburtenzuschüsse, sowie Kindergeld bis zum Alter von zwei Jahren

•        Sozialhilfeprogramme für Personen mit Behinderung, Veteranen, Kinder, insbesondere medizinische und soziale Rehabilitationshilfe, Altersheime, Waisenhäuser, Internate

•        staatliches Sozialversicherungsprogramm: Alters- und Behindertenrente, sowie Zuschüsse bei vorübergehender Behinderung und Schwangerschaft.

•        Privilegien für Personen, die im Jahr 1999 signifikante Notlagen durchlebten, vor allem für Veteranen des Zweiten Weltkriegs

Alle armenischen Staatsbürger sind berechtigt, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen.

Anmeldeverfahren: RückkehrerInnen können in einem der 51 Büros des staatlichen Sozialversicherungsservice (10 in Jerewan und 41 in den anderen Regionen) Sozialhilfe beantragen oder online ein Formular einreichen: http://www.ssss.am/arm/e-reception/send-application/ (IOM 2019).

Pensionssystem

Das Renteneintrittsalter in Armenien liegt bei 63 Jahren. Eine Sozialrente wird ab 65 Jahre gewährt. Bei beschwerlicher oder gefährlicher Arbeit kann das Eintrittsalter niedriger liegen. Das staatliche Rentenversicherungssystem, basierend auf einer gesetzlichen Sozialversicherung, ist in folgende Elemente gegliedert:

•        Altersrente

•        Verlängerte Dienstrente

•        Behindertenrente

•        Rente für Familien, die den primären Einkommensträger verloren haben

Personen ab einem Alter von 63 Jahren, die mindestens zehn Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren (der Nachweis muss vom Antragsteller gebracht werden), haben Anspruch auf Rente. Rückkehrende müssen gemäß den gesetzlichen Vorgaben empfangsberechtigt sein, um eine Rente beziehen zu können, über einen angemeldeten Wohnsitz in Armenien verfügen und in einem der 51 Rentenbüros den Antrag stellen, idealerweise in ihrem jeweiligen Bezirk (IOM 2019).

Der Pensionsanspruch gilt ab einem Alter von 63 mit mindestens 25 Jahren abgeschlossener Beschäftigung; ab einem Alter von 59 mit mindestens 25 Jahren Beschäftigung, wobei mindestens 20 Jahre erschwerte oder gefährlicher Arbeit vor dem 1. Januar 2014 oder mindestens 10 Jahre derartiger Arbeit nach dem 1. Januar 2014 verrichtet wurde; oder ab einem Alter von 55 mit mindestens 25 Jahren Beschäftigung, einschließlich mindestens 15 Jahre in Schwerst- oder gefährlicher Arbeit vor dem 1. Januar 2014 bzw. mindestens 7,5 Jahre in einer solchen nach dem 1. Januar 2014. Eine verringerte Pension steht nach mindestens zehnjähriger Anstellung, jedoch erst ab 65 zu. Bei Invalidität im Rahmen der Sozialversicherung sind zwischen zwei und zehn Jahre Anstellung Grundvoraussetzung, abhängig vom Alter des Versicherten beim Auftreten der Invalidität. Die Invaliditätspension hängt vom Grade der Invalidität ab. Unterhalb der erforderlichen Zeiten für eine Invaliditätspension besteht die Möglichkeit einer Sozialrente für Invalide in Form einer Sozialhilfe. Zur Pensionsberechnung werden die Studienjahre, die Wehrdienstzeit, die Zeit der Kinderbetreuung und die Arbeitslosenzeiten herangezogen. Die Alterspension im Rahmen der Sozialversicherung beträgt 100% der Basispension von AMD 16.000 monatlich zuzüglich eines variablen Bonus. Die Bonuspension macht AMD 500 monatlich für jedes Kalenderjahr ab dem elften Beschäftigungsjahr multipliziert mit einem personenspezifischen Koeffizienten, basierend auf der Länge der Dienstzeit (USSSA 3.2019).

Schutzbedürftige Personen

Das Ministerium für Arbeit und Soziales (MLSA) implementiert Programme zur Unterstützung von schutzbedürftigen Personen: Behinderte, ältere Personen, RentnerInnen, Waisen, Opfer von Menschenhandel, Frauen und Kinder. Der Zugang zu diesen Leistungen erfolgt über die 51 Büros des staatlichen Sozialversicherungsservice (IOM 2019).

Arbeitslosenunterstützung

2015 wurde die Arbeitslosenunterstützung zugunsten einer Einstellungsförderung eingestellt. Zu dieser Förderung gehört auch die monetäre Unterstützung für Personen die am regulären Arbeitsmarkt nicht wettbewerbsfähig sind. Das Arbeitsgesetz von 2004 sieht ein Abfertigungssystem seitens der Arbeitgeber vor. Bei Betriebsauflösung oder Stellenabbau beträgt die Abfertigung ein durchschnittliches Monatssalär, bei anderen Gründen hängt die Entschädigung von der Dienstzeit ab, jedoch maximal 44 Tage im Falle von 15 Anstellungsjahren (USSSA 3.2019).

Programme zur Jobsuche werden durch die staatliche Arbeitsagentur des Ministeriums für Arbeit und Soziales umgesetzt. So wird versucht, die Erwerbstätigkeit zu erhöhen und Arbeitssuchenden Hilfe anzubieten. Bildungs- und Ausbildungsprogramme werden ebenfalls angeboten. Rückkehrende können ohne Einschränkungen von staatlichen Beschäftigungsprogrammen profitieren (IOM 2019).

Mutterschaftsgeld

Obwohl der Geburtsvorgang eines Babys technisch gesehen nach dem Gesetz kostenlos ist, fallen jedoch im Laufe von neun Monaten und vor allem in den Tagen nach der Geburt viele weitere Kosten an. Dies betrifft im Allgemeinen auch die Krankenhausgebühren. In den ersten sieben Lebensjahren eines Kindes sind alle Arztbesuche und Impfungen kostenlos. Dazu gehören auch Allergietests und ähnliche Untersuchungen, die für das Kind notwendig sind. Medikamentenkosten sind das Einzige, wofür die Eltern [fallweise] aufkommen müssen. Bestimmte Medikamente, wie Vitamin D bei Wintergeburten, werden von den Kliniken ebenfalls kostenlos zur Verfügung gestellt. In einigen Krankenhäusern werden sogar kostenlos Windeln oder Cremes ausgeben, sobald das Baby geboren ist. Die Geburt ist in Armenien offiziell kostenlos, die meisten Krankenhäuser verlangen jedoch inoffiziell Geldleistungen für die Anwesenheit des Arztes (Repat Armenia 26.6.2018).

Derzeit bestehen in Armenien drei Arten von Beihilfen in Verbindung mit Kindesgeburten. Einerseits die einmalige Mutterschaftsbeihilfe von AMD 50.000. Darüber hinaus gibt es eine monatliche Zahlung von ca. AMD 18.000 im Monat an alle erwerbstätigen Elternteile, die ein Kind (bis zum 2. Lebensjahr) versorgen und sich in einem teilweise bezahlten Mutterschaftsurlaub befinden. Für das dritte und vierte Kind stehen je AMD 1 Million zu und zusätzlich AMD 500.000, eingezahlt auf ein Spezialkonto für das Kind, von dem vor dem 18. Lebensjahr nur für bestimmte Zwecke, wie etwa für Schulgebühren Geld abgehoben werden darf. Ab dem fünften Kind wird der einmalige Geldbetrag bis auf AMD 1,5 Millionen erhöht plus einer halben Million auf dem Spezialkonto. Außerdem haben Mütter, auch selbständig erwerbstätige, das Recht auf einen Mutterschutzurlaub von 70 Tagen vor und 70 Tagen nach der Geburt. Dieser Zeitraum wird bei schwierigen Geburten auf 155 oder Mehrlingsgeburten auf 180 Tage ausgedehnt. In diesem Zeitraum wird das Gehalt zu 100% weiterbezahlt. Es können bis zu drei Jahre unbezahlte Karenz in Anspruch genommen werden, ohne das es zum Verlust des Arbeitsplatzes kommt (Repat Armenia 26.6.2018; vgl. USSSA 3.2019).

Im Zusammenhang der COVID-19-Pandemie vergibt das Ministerium für Arbeit und Soziales folgende Hilfspakete für Betroffene: Stundungen von Steuern und Gebühren; Zuschüsse zu Versorgungsleistungen, Mieten, Gehälter und zinslose Darlehen für Kleinunternehmer, Arbeitslosenhilfe für entlassene Arbeitnehmer und Geldleistungen für werdende Mütter und pro Kind für informelle Arbeiter, die in Armeniens großer ’Schattenwirtschaft’ beschäftigt sind. Praktisch alle diese Hilfspakete sind online zugänglich und erfordern einen Personalausweis und ein gültiges Bankkonto (AW 15.4.2020; vgl. Armenpress 30.3.2020: Gentilini et al 12.6.2020: 42-46).

23       Medizinische Versorgung

Die medizinische Grundversorgung ist flächendeckend gewährleistet (AA 27.4.2020). Das Gesundheitssystem besteht aus einer staatlich garantierten und kostenlosen Absicherung sowie einer individuellen und freiwilligen Krankenversicherung (IOM 2019). Die primäre medizinische Versorgung wird in der Regel entweder durch regionale Polikliniken oder ländliche Behandlungszentren erbracht. Die sekundäre medizinische Versorgung wird von regionalen Krankenhäusern und einigen der größeren Polikliniken mit speziellen ambulanten Diensten übernommen, während die tertiäre medizinische Versorgung größtenteils den staatlichen Krankenhäusern und einzelnen Spezialeinrichtungen in Jerewan vorbehalten ist. Die primäre medizinische Versorgung ist wie früher grundsätzlich kostenfrei (AA 27.4.2020, vgl. MedCOI 2.2018). Im Jahr 2019 kündigte das Gesundheitsministerium aus Kostengründen die Schließung einiger lokaler Krankenhäuser an (News.am 14.1.2020).

Armeniens Gesundheitssystem ist durch den Staat stark unterfinanziert; weniger als 1,6% des BIP werden für Gesundheitsausgaben aufgewendet (einer der niedrigsten Werte weltweit) und mehr als 50% aller Gesundheitsausgaben entfallen auf Direktzahlungen von Patienten (einer der höchsten Werte weltweit). Dies führt zu erheblichen Problemen beim Zugang, der Steuerung und der Qualität der Versorgung (EVN 22.3.2020). Die COVID-19-Pandemie im ersten Halbjahr 2020 hat das Gesundheitssystem noch weiter unter Druck gesetzt (ChH 4.6.2020) Das Gesundheitssystem leidet nicht unter einem Ärztemangel. Es besteht jedoch ein ernstes Missverhältnis zwischen ländlichen Gebieten und der Hauptstadt: Eriwan weist im Vergleich zum Rest des Landes eine übermäßige Konzentration von Ärzten auf. Im internationalen Vergleich gibt es in Armenien eine große Zahl von Fachärzten im Vergleich zu Allgemeinmedizinern (EVN 22.3.2020).

Um Zugang zu kostenlosen medizinischen Primärleistungen zu erhalten, muss eine Person armenischer Staatsbürger sein und in einer der Polikliniken oder primären Gesundheitseinrichtungen (Primary Healthcare - PHC) in der Nähe ihres Wohnortes registriert sein. In diesen Polikliniken oder PHC-Einrichtungen sind alle allgemeinen und wichtigsten spezialisierten medizinischen Dienstleistungen völlig kostenlos (einschließlich Impfungen und routinemäßiger labortechnischer Untersuchungen). Die folgenden Dienstleistungen stehen in

den Polikliniken kostenlos zur Verfügung:

•        allgemeines Gesundheitswesen: Allgemeinmediziner, Hausarzt, Bezirkstherapeut, Kinderarzt

•        spezialisierte medizinische Dienste: Neurologen, Endokrinologen, Onkologen, Kardiologen, Chirurgen, Phthysiatern, Hals-Nasen-Ohren-Heilern (HNO), Gynäkologen, Dermatologen, Chirurgen/Traumatologen, Augenärzten, Infektions-/Immunologen, Stomatologen; und in mehreren Polikliniken Rheumatologen, Urologen

•        Laboruntersuchungen: Blutkörperchenzahl, biochemische Routineuntersuchungen

•        medizinisch-technische Untersuchungen: Ultraschall, EKG, Röntgen, Spirometrie, Fundoskopie

•        Impfungen und Hausbesuche durch einen Hausarzt: bei akuten Erkrankungen - Infektionen der oberen Atemwege, Temperatur, Schmerzsyndrom; bei onkologischen Patienten durch Onkologen (MedCOI 2.2018; vgl. MedCOI 12.11.2019).

Kostenlose medizinische Versorgung gilt nur noch eingeschränkt für die sekundäre und die tertiäre Ebene. Das Fehlen einer staatlichen Krankenversicherung erschwert den Zugang zur medizinischen Versorgung insoweit, als für einen großen Teil der Bevölkerung die Finanzierung der kostenpflichtigen ärztlichen Behandlung extrem schwierig geworden ist. Viele Menschen sind nicht in der Lage, die Gesundheitsdienste aus eigener Tasche zu bezahlen. Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung übersteigt die finanzie

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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