TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/7 W253 2183648-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.12.2020
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Entscheidungsdatum

07.12.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W253 2183648-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.12.2017, Zl. 1087853502 – 151384012, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.06.2019 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigtem in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 07.12.2021 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 18.09.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er stamme aus der iranischen Stadt XXXX und sei Analphabet. Sein familiäres Netzwerk bestehe aus seiner Mutter, drei Schwestern, drei Nichten und zwei Neffen. Nach seiner Berufserfahrung gefragt, führte er aus, dass er Arbeiter in einer Steinfabrik gewesen sei.

Er sei im Iran geboren worden und habe seitdem dort gelebt. In Afghanistan habe er noch nie gelebt. Er sei mit seiner Schwester und deren Kindern nach Österreich gereist und wolle bei seiner Familie bleiben.

Befragt zu seinem Fluchtgrund, gab der Beschwerdeführer an, dass man ihn in den Krieg nach Syrien geschickt habe. Er sei dort für zwei Monate gewesen und habe Angst, dass er wieder nach Syrien müsse.

3. Mit Schreiben vom 14.06.2017 wurde an die Staatsanwaltschaft XXXX sowie der Bezirkshauptmannschaft XXXX ein Abschlussbericht der Landespolizeidirektion XXXX übermittelt, wonach der Beschwerdeführer wegen sexueller Belästigung und öffentliche geschlechtliche Handlungen verdächtigt werde.

4. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 09.11.2017 führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, dass er im Iran geboren worden sei und ein Jahr in der Landwirtschaft sowie zwei Jahre vor seiner Ausreise aus dem Iran als Arbeiter in einem Steinbruch gearbeitet habe. Er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er sei ledig und sein familiäres Netzwerk im Iran bestehe aus seiner Mutter und seiner Schwester. Zudem habe er einen Onkel mütterlicherseits und drei Tanten mütterlicherseits, welche allesamt im Iran leben würden. Sein Vater sei nach Afghanistan gegangen und nicht wieder zurückgekehrt. Zu diesem Zeitpunkt sei er 12 oder 13 Jahre alt gewesen. Sein Onkel väterlicherseits sei getötet worden. Zu seiner Familie im Iran habe er ein- bis zweimal im Monat Kontakt.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass er nicht genau wisse warum seine Eltern Afghanistan verlassen hätten. Sein Vater habe nie darüber gesprochen.

Den Iran habe er verlassen, da er von der Polizei erwischt worden sei und man ihm seine Aufenthaltskarte weggenommen habe. Er sei ca. einen Monat in Teheran ausgebildet und anschließend nach Syrien geschickt worden. In Syrien habe er zwei Monate aktiv im Krieg mitgekämpft. Er sei dort ein einfacher Soldat gewesen. Er habe dort täglich die Waffe gezogen, jedoch nur in die Luft geschossen. Im Zuge des Einsatzes sei er angeschossen worden. Anschließend sei er zurück in den Iran geflogen. Seine Schwester habe seine Mutter kontaktiert und sie darum gebeten, dass er nicht mehr nach Syrien zurückkehren solle. Nach zwei Wochen habe er dann den Iran gemeinsam mit seiner Schwester verlassen.

In Afghanistan habe er niemanden. Er habe mitbekommen, dass die Menschen in Europa sehr menschlich seien. Er habe damit gerechnet, dass er von Deutschland oder Österreich nicht in den Krieg nach Syrien geschickt werde.

Zu seinen Bindungen in Österreich befragt, gab er an, dass er mit Ausnahme der Familie seiner Schwester, im Bundesgebiet niemanden habe. Er habe einen Deutschkurs (Niveau A1) bereits abgeschlossen und beginne demnächst mit dem Niveau A2. Zudem habe er für die Gemeinde und im Kindergarten ehrenamtlich gearbeitet. Er wolle in Österreich eine Lehrstelle bekommen und anschließend als Elektrotechniker arbeiten. Er habe bereits viele österreichische Freunde.

5. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid des BFA vom 29.12.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen, da er eine Verfolgung nicht glaubhaft machen habe können. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV). Im Bescheid wurde weiters festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und es wurde dem Beschwerdeführer eine Frist zur freiwilligen Ausreise in der Dauer von zwei Wochen gewährt (Spruchpunkt VI.).

Der Begründung des gegenständlichen Bescheides des BFA ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass die belangte Behörde keine Verfolgung des Beschwerdeführers durch staatliche Organe oder Privatpersonen in Afghanistan feststellen habe können. Der Beschwerdeführer habe zu keiner Zeit eine tatsächliche, personenbezogene und asylrelevante Verfolgung vorgebracht. Sein ganzes Vorbringen beinhalte Vorkommnisse im Iran, die jedoch nicht prüfungsrelevant seien. Da keinem anderen seiner Familienmitglieder der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden sei, komme auch eine Zuerkennung aufgrund des vorliegenden Familienverfahrens nicht in Betracht.

Hinsichtlich einer Rückkehr habe die belangte Behörde festgestellt, dass eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Kabul oder Herat für ihn zumutbar sei. Zudem bestehe für ihn als arbeitsfähigen und gesunden Mann kein Zweifel sich auch in Kabul oder Herat selbst versorgen zu können, zumal er auch über Berufserfahrung verfüge. Es sei daher davon auszugehen, dass er im Falle einer Rückkehr in keine die Existenz bedrohende Notlage gelangen würde.

Zudem stellen seine bisherigen Integrationsbemühungen keine dermaßen außergewöhnliche Bindung an Österreich dar, welche eine Rückkehr unmöglich erscheinen lassen. Zudem sprechen seine kurze Aufenthaltsdauer sowie seine mangelnde Selbsterhaltungsfähigkeit gegen eine verfestigte Eingliederung.

Es liege beim Beschwerdeführer zwar ein schützenswertes Familienleben iSd Art. 8 EMRK in Österreich vor, doch seien seine Familienmitglieder im selben Umfang wie er von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen.

Der nunmehr angefochtene Bescheid wurde am 09.01.2018 zugestellt.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 15.01.2018 fristgerecht Beschwerde, wo er die Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtige Feststellungen sowie eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend machte. Dabei führte er im Wesentlichen aus, dass entgegen den Ausführungen der belangten Behörde sehr wohl eine wohlbegründete Furcht iSd Genfer Flüchtlingskonvention vorliege, welche letztlich auch fluchtauslösend gewesen sei. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde sei inhaltlich nicht überzeugend. Im Gegensatz zu den ausführlichen und anschaulichen Erklärungen des Beschwerdeführers, die auch aus den Länderberichten bestätigt seien, seien die Vorwürfe des BFA gänzlich unverständlich. Die Bewertung der Glaubwürdigkeit der Fluchtgründe des Beschwerdeführers sei ebenso falsch wie die Bewertung der Gefährdung, der der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr ausgesetzt sei. Das Vorbringen des Beschwerdeführers entspreche der Wahrheit, sei glaubwürdig und gründlich substantiiert. Die Fluchtgründe bestünden in der Verfolgung aus politischen/ethnischen Gründen bzw. wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan müsse der Beschwerdeführer zudem aufgrund seiner „westlichen“ Lebensausrichtung eine Verfolgung befürchten. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei für ihn nicht zumutbar, da dieser über keinerlei familiäre oder soziale Bindungen in Afghanistan verfüge. Zudem sei die Sicherheitslage in Afghanistan ausgesprochen schlecht.

Außerdem hätte sich der Beschwerdeführer bereits in sehr beachtlicher Weise in Österreich eingelebt und die deutsche Sprache erlernt. Er sei unbescholten, arbeitsfähig und arbeitswillig und sei daher keine Belastung für die Gebietskörperschaft.

7. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 19.01.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Mit Schreiben vom 21.03.2018 übermittelte der Beschwerdeführer eine vom XXXX -31.12.2018 gültige und vom Arbeitsmarktservice ausgestellte Beschäftigungsmitteilung.

9. Mit Urkundenvorlage vom 23.04.2018 übermittelte der Beschwerdeführer mehrere Integrationsunterlagen (unter anderem Referenzschreiben, Dankesschreiben sowie Teilnahmebestätigungen).

10. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 24.07.2018 wurde der Beschwerdeführer gemäß § 218 Abs. 1 Z 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Wochen rechtskräftig verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Der dagegen erhobenen Berufung wurde nicht Folge gegeben.

11. Mit E-Mail des Integrationskreises XXXX vom 18.09.2018 wurde eine Bestätigung über die Teilnahme des Beschwerdeführers an einem Werte- und Orientierungskurs des XXXX vorgelegt.

12. In einer Stellungnahme vom 13.05.2019 brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass dem LIB zu entnehmen sei, dass die Sicherheitslage in Afghanistan eine tiefgreifende Verschlechterung erfahren habe. Die Sicherheits- und Wirtschaftslage sei katastrophal. Die aktuellen Berichte würden zudem klarstellen, dass Kabul nicht mehr als innerstaatliche Fluchtalternative in Frage komme. Aus dem Sachverhalt sei klar zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer über keine relevanten Netzwerke in Afghanistan verfüge. Da der Beschwerdeführer noch ein junger Mann sei, unterliege er einem höheren Risiko. Den Berichten zufolge lasse die Situation von jungen Menschen in Afghanistan kein menschenwürdiges Leben zu. Zudem sei der Beschwerdeführer aus der Sicht der afghanischen Bevölkerung als verwestlicht angesehen. Des weiteren seien die von der belangten Behörde zur Entscheidung herangezogene Länderfeststellungen über die Provinzen Balkh und Herat veraltet. Nach den UNHCR Richtlinien sei die Landwirtschaft in den Provinzen Balkh und Herat am Zusammenbrechen. Zudem könne die Provinz Balkh nach den Berichten der UNAMA nicht mehr als ruhige Provinz angesehen werden. Die Möglichkeit in Herat eine Erwerbsmöglichkeit zu finden sei nicht gegeben. Sowohl Herat, als auch Balkh seien von einer mangelhaften Nahrungsmittelversorgung getroffen. Insgesamt sei daher festzuhalten, dass der Beschwerdeführer mit den gegebenen Gefährdungsfaktoren schon anhand der veralteten Berichten nicht nach Afghanistan zurückgeführt werden dürfe. Eine Rückkehr in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat komme nicht mehr in Frage. Ein Überleben des Beschwerdeführers könne in der aktuellen Situation nicht sichergestellt werden. Bei dem Beschwerdeführer bestehe im Falle einer Rückkehr intensiv und realistisch die Gefahr, dass er in eine aussichtlose Lage geraten würde.

Hinsichtlich der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sei festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer in Österreich gut integriert habe, die deutsche Sprache erlernt habe und sich soziale Kontakte entwickelt hätten.

13. Mit Schreiben des Integrationskreises XXXX vom 28.05.2019 langte ein Konvolut an Empfehlungsschreiben, Arbeitsbestätigungen, Schulbesuchsbestätigungen sowie Fotos beim Bundesverwaltungsgericht ein.

14. Am 03.06.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Im Rahmen dieser Verhandlung gab der Beschwerdeführer zusammengefasst - mitunter in deutscher Sprache - an, dass er im Iran geboren und afghanischer Staatsbürger sei. Sein richtiges Geburtsdatum kenne er nicht. Er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Im Iran habe er keine Ausbildung bekommen. In Afghanistan sei er noch nie gewesen. Er wisse nur, dass seine Familie aus Ghazni stamme.

Auf die Frage, was er bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchten würde, führte er aus, dass er Angst hätte, wie sein Vater getötet zu werden. Dieser sei nach Afghanistan gegangen und sei von seinen Feinden getötet worden bzw. nicht mehr zurückgekehrt. Über die Feinde seines Vaters wisse er nicht viel. Er wisse nur, dass die Feinde seines Vater Paschtunen seien.

Zudem habe er in Afghanistan niemanden, zu dem er gehen könne. Er würde in Afghanistan in eine ausweglose Situation geraten. In Afghanistan habe er keine Verwandte.

Den Iran habe er verlassen, weil ihn die iranischen Behörden nach Syrien schicken hätten wollen. Dies hätten die Behörden bereits einmal gemacht. Nachdem er aus Syrien zurückgekehrt sei, habe er gewusst, dass er nicht mehr im Iran bleiben könne. Im Iran würden seine Mutter und seine Schwester leben. Mit beiden stehe er noch in Kontakt. Beide würden zurzeit in der Landwirtschaft arbeiten.

Zu seinem Leben in Österreich befragt, gab er an, dass er mit Ausnahme seiner Schwester, keine Verwandten in Österreich habe. Er wohne in XXXX gemeinsam mit seiner Schwester und deren Familie. Er besuche derzeit einen Deutschkurs (Niveau B1), spiele Fußball und treffe sich mit Freunden. Er habe neun Monate als Saisonarbeiter bei der Firma XXXX gearbeitet. In der Zukunft wolle er eine Lehre machen.

15. Mit Urkundenvorlage vom 19.12.2019 übermittelte der Beschwerdeführer mehrere Lohn-/Gehaltszetteln sowie eine Beschäftigungsbewilligung.

16. Mit Parteiengehör vom 15.10.2020 wurden dem Beschwerdeführer aktuelle Länderinformationen übermittelt. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert allfällige Neuerungen, die seit der letzten Verhandlung eingetreten sind, dem Gericht bekannt zu geben.

17. In einer Stellungnahme vom 28.10.2020 brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass die Coronavirus-Epidemie in Afghanistan außer Kontrolle sei, demgemäß würde der Beschwerdeführer im Falle einer Abschiebung in eine existentielle Notlage geraten. Es komme in Afghanistan regelmäßig zu furchtbaren Terroranschlägen, die aktualisierten Berichte würden die weiterhin katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage sowie die mangelnde Effizienz und Durchschlagskraft der Zentralbehörden aufzeichnen. Die UNHCR-Richtlinien würden aufzeigen, dass eine Rückkehr nach Kabul nur in Ausnahmefällen zulässig sei. Für den Fall einer Abschiebung bestehe die reale Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung aufgrund der weiterhin schlechten Situation in Afghanistan, insbesondere in seiner Heimatgegend und wegen seiner Entwurzelung. Darüber hinaus müsse auch berücksichtigt werden, dass sich die Situation in Herat verschlechtert habe. Der Beschwerdeführer habe in Österreich große Anstrengungen zu seiner Integration unternommen, die deutsche Sprache erlernt und soziale Kontakte entwickelt. In Verbindung mit der Stellungnahme wurden eine Arbeitsbestätigung, mehrere Kursbestätigungen, ein ÖSD Zertifikat A2, ein Lebenslauf, ein Foto sowie Quittungen für die Teilnahme an Modulen der Volkshochschule XXXX vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 18.09.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid des BFA wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV). Im Bescheid wurde weiters festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und es wurde dem Beschwerdeführer eine Frist zur freiwilligen Ausreise in der Dauer von zwei Wochen gewährt (Spruchpunkt VI.). Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, woraufhin vor dem Bundesverwaltungsgericht am 03.06.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt wurde, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.

1.2. Zum Beschwerdeführer:

Der volljährige Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist zum dort angegeben Datum geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Farsi. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt XXXX , im Iran, geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern auf. Der Beschwerdeführer besuchte keine Schule, arbeitete jedoch für ein Jahr in der Landwirtschaft sowie für zwei Jahre in einem Steinbruch als Arbeiter.

Die Mutter, eine Schwester, ein Onkel mütterlicherseits und drei Tanten mütterlicherseits des Beschwerdeführers leben weiterhin im Iran. Die Mutter und die Schwester arbeiten in der Landwirtschaft. Es besteht Kontakt zu den Familienmitgliedern. Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Die Familie des Beschwerdeführers stammt aus der Provinz Ghazni.

Die Schwester des Beschwerdeführers sowie deren Ehemann und deren vier minderjährige Kinder waren Beschwerdeführer in den Verfahren zu XXXX . Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 03.06.2019 (Zl. XXXX ) kommt der Schwester und dem Schwager des Beschwerdeführers sowie deren minderjährigen Kindern der Status der Asylberechtigten zu.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert.

Der Beschwerdeführer ist gesund.

Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache zumindest auf A2 Niveau und besuchte Deutschkurse bis zum B1 Niveau. Er durchlief Module der Volkshochschule XXXX und nahm an den Bildungsangeboten von XXXX und des Vereins XXXX teil. Von XXXX bis XXXX war er als Saisonarbeiter für die XXXX in der Landwirtschaft und von XXXX bis XXXX für die XXXX als Lagerarbeiter tätig.

Der Beschwerdeführer war für die Gemeinde XXXX , den Musikverein XXXX sowie die örtliche Pfarre ehrenamtlich tätig. Zudem besuchte er einen Werte- und Orientierungskurs des XXXX .

Der Beschwerdeführer hat freundschaftliche Kontakte in Österreich und ist gut in ein soziales Umfeld integriert. In seiner Freizeit spielt er Fußball.

Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Schwester, deren Ehemann und Kindern in einem gemeinsamen Haushalt.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX zu XXXX vom 24.07.2018, rechtskräftig am 09.11.2018, gemäß § 218 Abs. 1 Z1 StGB (sexuelle Belästigung) zu einer Freiheitstrafe in der Dauer von drei Wochen rechtskräftig verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Der dagegen erhobenen Berufung wurde zu XXXX nicht Folge gegeben.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer verließ den Iran aufgrund von Schwierigkeiten mit der iranischen Polizei, sowie aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort lebende Afghanen.

Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan von Mitgliedern einer paschtunischen Gruppierung oder von anderen Personen verfolgt oder von diesen bedroht. Der Vorfall, wonach der Vater von Mitgliedern einer paschtunischen Gruppierung in Afghanistan getötet worden sei, hat nicht stattgefunden.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder von paschtunischen Gruppierungen oder durch andere Personen.

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land sowie der Tatsache, dass er im Iran geboren wurde und aufwuchs, weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz Ghazni aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Dem Beschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in Afghanistan nicht zur Verfügung.

Dem Beschwerdeführer ist eine Rückkehr und Ansiedlung in Afghanistans aufgrund seiner individuellen Umstände in Zusammenschau mit den COVID-19 Pandemie bedingten wirtschaftlichen Situation und den damit für Rückkehrer verbundenen Einschränkungen in den Städten Kabul und Herat aktuell nicht zumutbar.

Der Beschwerdeführer wurde im Iran geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise nach Europa, er war noch nie in Afghanistan aufhältig und verfügt in Afghanistan über kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung er sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Er hat insbesondere auch in den Städten Kabul und Herat keine unterstützungswilligen Verwandten.

Im Falle einer Rückkehr wird der Beschwerdeführer zu Beginn nur Gelegenheits- oder Hilfsarbeiten annehmen können. Durch die COVID-19 bedingten Lockdowns in den Städten Kabul und Herat ist es gerade für Gelegenheitsarbeiter besonders schwierig, Arbeit und Unterkunft zu finden.

Aufgrund der oben dargelegten individuellen Umstände kann nicht davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan insbesondere bei einer Ansiedlung in den Städten Kabul oder Herat Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der Beschwerdeführer vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, mit Stand 21.07.2020 (LIB),

- UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

1.5.1.  Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.5.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.5.2.  Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.3.  Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.5.4.  Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 16.2).

1.5.5.  Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

1.5.6.  Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.7.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19 bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.8.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).

Islamischer Staat (IS/DaesH) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 2).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).

1.5.9.  Provinzen und Städte

1.5.9.1.  Herkunftsprovinz Ghazni

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken. Ghazni hat 1.338.597 Einwohner (LIB, Kapitel 2.10).

Ghazni gehört zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben. In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen, Luftangriffen und Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften. Im Jahr 2019 gab es 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) in der Provinz Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordattentate, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Kämpfen am Boden (LIB, Kapitel 2.10).

In der Provinz Ghazni reicht eine „bloße Präsenz“ in dem Gebiet nicht aus, um ein reales Risiko für ernsthafte Schäden gemäß Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie festzustellen. Es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, und dementsprechend ist ein geringeres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.5.9.2. Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 2.1).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).

Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Schätzungen zufolge haben 32% der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul ein oder zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.9.3. Herat Stadt

Herat-Stadt ist die Provinzhauptstadt der Provinz Herat. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 2.13).

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten auszuüben. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 20).

In der Stadt Herat gab bzw. gibt es aufgrund der Corona Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Herat).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die größten und

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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