TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/11 W248 2187542-1

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Veröffentlicht am 11.12.2020
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Entscheidungsdatum

11.12.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W248 2187542-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien vom 05.01.2018, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.10.2020 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX , geb. XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , geb. XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1        Verfahrensgang:

1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsbürger, stellte am 27.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, Landespolizeidirektion XXXX – Polizeiinspektion XXXX am 28.10.2015, gab der Beschwerdeführer an, aus dem Dorf XXXX in der Provinz Kabul zu stammen. Er sei ledig und habe keine Kinder. Er gab weiters an, den Namen XXXX zu führen, am XXXX geboren zu sein, afghanischer Staatsbürger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Moslem zu sein. Er habe zwei Schwester und einen Bruder, welcher jedoch bereits verstorben sei. Er habe elf Jahre lang eine Grundschule in Afghanistan besucht und die letzten fünf Jahre als Hilfsarbeiter in einem Garten gearbeitet. Den Entschluss, Afghanistan zu verlassen, habe der Beschwerdeführer sehr kurz vor der Ausreise, vor etwa eineinhalb Monaten, gefasst. Sein Onkel habe selbst die Schleppung organisiert und die Kosten bezahlt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass er von islamischen Geistlichen verfolgt worden sei, weil er an keinen islamischen Tätigkeiten teilgenommen habe. Aufgrund seiner Arbeit habe der Beschwerdeführer nicht zum Gebet erscheinen können. Die Geistlichen wären jedoch der Meinung gewesen, dass jeder, der nicht zum Gebet erscheinen würde, vom Islam abgefallen sei. Im Zuge einer Einladung in die Moschee sei es zu einem Streit zwischen dem Vater des Beschwerdeführers und dem Imam gekommen. Anschließend sei es zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen dem Imam und dem Bruder des Beschwerdeführers gekommen. Etwa eine Woche nach dem Streit seien die Geistlichen aus der Moschee in das Haus seiner Großmutter gekommen, wo sich die gesamte Familie zum Essen befunden habe, und hätten den Bruder erschossen. Aus Angst, ebenfalls erschossen zu werden, habe der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen.

3. Am 14.12.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einem Dolmetscher für die Sprache Dari statt.

Der Beschwerdeführer gab an, dass seine Muttersprache Dari sei und er ebenfalls Farsi, Englisch und Deutsch spreche. Sein Heimatdorf befinde sich im Distrikt XXXX . Er habe in Kabul etwa sechs bis sieben Jahre lang halbtags an einem Gemüsestand gearbeitet. Einen Teil des Gemüses und der Kräuter habe die Familie auf den familieneigenen Grundstücken angebaut. Die Kernfamilie des Beschwerdeführers sei mittlerweile in den Iran geflüchtet. Sein Onkel und eine Schwester würden noch in Afghanistan leben. Der Beschwerdeführer habe etwa zwölf Jahre lang die Schule besucht, aufgrund seiner Flucht habe er jedoch keinen Abschluss machen können.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass seine Familie liberal und nicht streng religiös sei. Seine Eltern hätten alle Kinder zur Schule geschickt, und seine Mutter würde keinen Schleier tragen. Sein Vater habe seine Kinder nie gezwungen zu beten oder zu fasten. In seinem Heimatdorf seien die meisten Männer Bartträger und streng gläubig. Im Islam sei es die Pflicht von Gläubigen, andere Personen auf die Nichteinhaltung der islamischen Bräuche aufmerksam zu machen, sodass der Beschwerdeführer gezwungen worden sei, einen Bart zu tragen, zu beten und die Moschee zu besuchen. Die anderen Dorfbewohner hätten den Beschwerdeführer als „Ungläubigen“ bezeichnet. Daraufhin habe der Mullah Personen in das Haus der Familie des Beschwerdeführers geschickt, um herauszufinden, aus welchen Gründen seine Familie nicht in die Moschee geht. Sein Vater sei daraufhin zum Mullah gegangen und habe ihm mitgeteilt, dass seine Kinder zur Schule gehen, arbeiten und einen Englischkurs besuchen würden und sie daher keine Zeit hätten, in die Moschee zu gehen. Weiters würde es den Mullah nichts angehen, was die Familie mache. Der Mullah habe daraufhin die gesamte Familie als „Ungläubige“ bezeichnet. Es sei zu einem Streit gekommen, wobei sein Vater und sein Bruder den Mullah angeschrien und der Mullah den Vater geschlagen habe. Die jüngeren Mullahs hätten den Beschwerdeführer und seinen Bruder geschlagen. Nach einer Woche sei die Familie beim Onkel mütterlicherseits, welcher gemeinsam mit der Großmutter wohne, eingeladen gewesen. Sein Bruder sei noch in der Arbeit gewesen, weshalb die Mutter des Beschwerdeführers im Haus der Familie auf den Bruder gewartet habe. Nachdem der Vater einen Anruf erhalten habe, habe er gemeinsam mit dem Onkel das Haus verlassen. Der Beschwerdeführer sei gemeinsam mit seinen Schwestern bei der Großmutter geblieben. Am nächsten Tag sei der Beschwerdeführer mit seinen Schwestern, dem Onkel und der Großmutter in das Haus der Familie gegangen, wo er die Leiche seines Bruders gesehen habe. Die Mutter habe dem Beschwerdeführer erzählt, dass drei bewaffnete Männer in das Haus gekommen seien und den Bruder getötet hätten. Diese Männer hätten die Mutter festgehalten, geschlagen und sie nach dem Verbleib des Beschwerdeführers befragt. Die gesamte Familie sei daraufhin nach Kabul geflüchtet. Der Beschwerdeführer habe eine Woche bei der Familie des Cousins seines Vaters verbracht. Sein Onkel habe einen Schlepper gefunden und seine Ausreise organisiert. Die Familie des Beschwerdeführers habe eine Weile auf einem kleinen Berg in einer kleinen Wohnung in Afghanistan gelebt. Der Onkel habe sich um die Grundstücke gekümmert und mit den Erträgen den Lebensunterhalt der Familie finanziert. Als der Onkel erfahren habe, dass die Dorfbewohner auf der Suche nach dem Beschwerdeführer und seiner Familie seien, sei die Familie in den Iran geflüchtet.

Der Beschwerdeführer brachte weiters vor, aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Tadschike mit Paschtunen Probleme gehabt zu haben.

Der Beschwerdeführer legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.

4. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer in seiner freien Erzählung hinsichtlich seines Fluchtvorbringens sowohl in faktische, als auch in zeitliche Widersprüche verstrickt habe. In der Erstbefragung habe er vorgebracht, dass die Familie eine Einladung in die Moschee bekommen habe und nicht, dass die Männer aus der Moschee zum Beschwerdeführer nach Hause gekommen seien. Weiters sei der Beschwerdeführer gemäß seinen Angaben aus der Erstbefragung der Einladung seiner Großmutter und nicht seines Onkels gefolgt. Er habe weiters ausgeführt, dass die Personen aus der Moschee plötzlich in das Haus gekommen wären und den Bruder erschossen hätten. Im Widerspruch dazu habe er in der Einvernahme vor dem BFA ausgeführt, dass der Bruder in alleiniger Anwesenheit der Mutter erschossen worden wäre. Der Beschwerdeführer habe die körperliche Auseinandersetzung in der Moschee höchst vage und unkonkret vorgebracht. Er habe nach seiner freien Erzählung steigernd angeführt, dass die Familie als Spione und Ungläubige beschimpft und mit dem Tod bedroht worden sei. Dass der Beschwerdeführer diese Todesdrohung nicht bereits in seiner freien Erzählung angeführt habe, spreche als Indiz für eine klare Steigerung des Fluchtvorbringens. Er habe nicht gleichbleibend angeben können, warum der Vater den Imam geschlagen habe. Es sei befremdlich und lebensfremd, dass die Familie nach besagtem Vorfall im Nachhinein nicht ausführlich darüber gesprochen habe bzw., dass sich der Beschwerdeführer bis jetzt nicht bei seiner Mutter erkundigt habe, wie sein Bruder konkret verstorben sei. Weiters sei nicht plausibel, dass er bei der bedeckten Leiche des Bruders lediglich sein blutverschmiertes Gesicht gesehen habe, zumal die Leichen nach islamischem Ritus gereinigt werden würden. Hinsichtlich der Verletzungen der Mutter und ihres Arztbesuchs habe sich der Beschwerdeführer erneut in Widersprüche verstrickt. Da die Schule denselben Namen wie die Moschee trage, könne davon ausgegangen werden, dass es sich um eine Schule handle, welche von der Moschee betrieben werde. Es sei daher nicht nachvollziehbar, dass manche Dorfbewohner gegen den Besuch dieser Schule gewesen seien. Das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführer sei daher nicht glaubwürdig. Er habe auch seine Großmutter bei der Aufforderung, seine Verwandten, Familienangehörigen und nahestehenden Personen zu nennen, nicht erwähnt.

Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer jedenfalls nach Afghanistan, in seine Heimatprovinz Kabul zurückkehren könne. Er habe familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan und könne mit Unterstützung seiner Familie rechnen.

Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 26.01.2018 zugestellt.

5. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 05.01.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der XXXX , amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.

6. Mit Schreiben vom 15.02.2018 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den XXXX , fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA und legte eine Vollmacht für die genannte Organisation vor.

Der Beschwerdeführer habe seine Heimat aus wohlbegründeter Furcht verlassen. Die afghanischen Sicherheitsbehörden seien nicht im Stande bzw. nicht gewillt, dem Beschwerdeführer den notwendigen Schutz zu bieten. Betreffend den Vorhalt der Behörde, dass sich der Beschwerdeführer in zeitliche Widersprüche verwickelt hätte, werde entgegnet, dass er klar und deutlich vorgebracht habe, dass er an einem Donnerstag bei seinem Onkel bzw. der Großmutter eingeladen gewesen sei und dort von Donnerstag auf Freitag übernachtet habe. Ein Widerspruch sei diesbezüglich nicht erkennbar. Da die Großmutter und der Onkel zusammenleben würden, sei es unbeachtlich, wer die Einladung konkret ausgesprochen habe. Der Beschwerdeführer habe jedenfalls gleichbleibende Angaben gemacht. Der vom BFA bestellte Dolmetscher habe die deutsche Sprache nicht gut genug beherrscht, sodass es aufgrund dessen oft zu sprachlichen Missverständnissen gekommen sei. Der Beschwerdeführer habe oft nicht gewusst, wie er auf die Frage hätte antworten sollen. Im Falle einer Rückkehr sei der Beschwerdeführer der Gefahr der Verfolgung durch den Imam und die Mullahs ausgesetzt. Diese Personen könnten ihn überall finden und töten. Er verwies weiters auf die schlechte allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere in Kabul. Betreffend die gute Integration des Beschwerdeführers wurde vorgebracht, dass er über zahlreiche soziale Kontakte verfüge und freiwillig bei der Caritas bei Vorbereitungen für Veranstaltungen helfe. Er wohne seit einem Jahr bei seiner Patenmutter.

7. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 28.02.2018 mit Schreiben vom 23.02.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Mit Schreiben vom 19.04.2018 übermittelte der Beschwerdeführer am 20.04.2018 eine Beschwerdeergänzung. Betreffend den Vorhalt der Behörde hinsichtlich der Widersprüche aus der Erstbefragung werde festhalten, dass sich die Erstbefragung gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen habe. Insbesondere habe sich der Beschwerdeführer nicht in Widersprüche verstrickt. Seine Großmutter sei zum Zeitpunkt der Befragung durch das BFA bereits verstorben gewesen, sodass der Beschwerdeführer sie daher nicht erwähnt habe. Im Zuge der Einvernahme durch das BFA sei es zu Missverständnissen mit dem Dolmetscher gekommen, zumal er Farsi gesprochen habe und die Muttersprache des Beschwerdeführer Dari sei. Überhaupt nicht nachvollziehbar sei der Vorhalt der Behörde, dass es völlig lebensfremd sei, dass die Familie nicht über den Vorfall gesprochen habe, zumal der Beschwerdeführer nie dergleichen behauptet habe. Auch betreffend die Verletzungen der Mutter habe er sich nicht in Widersprüche verstrickt, zumal er angegeben habe, dass die gesamte Familie zu dem Verwandten in Kabul gefahren sei. Von Kabul aus sei seine Mutter nach XXXX zum Arzt gefahren. Der Beschwerdeführer habe eine öffentliche Schule besucht. Aufgrund seiner Englischkenntnisse werde er im Falle einer Rückkehr von Taliban verdächtigt, als Spion mit den ausländischen Truppen zu kooperieren. Sein Onkel lebe im Heimatdorf und habe eine eigene Familie. Er könne den Beschwerdeführer nicht finanziell unterstützen. Den Aufenthaltsort seiner Schwester kenne der Beschwerdeführer nicht, zumal er zu ihr keinen Kontakt habe. Der Cousin des Vaters habe ebenfalls eine eigene Familie und könnte sich daher nicht um den Beschwerdeführer kümmern. Dass der Cousin die Familie für eine Woche aufgenommen habe, sei eine Ausnahme gewesen. Im Falle einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer über kein soziales Netzwerk verfügen. Er verwies weiters auf die allgemein schlechte Sicherheitslage in Afghanistan.

9. Am 18.05.2018 übermittelte der Beschwerdeführer zwei Empfehlungsschreiben sowie eine Bestätigung über freiwilliges Engagement.

10. Am 17.12.2018 übermittelte der Beschwerdeführer seinen Meldezettel sowie Deutschkursbestätigungen.

11. Am 02.05.2019 übermittelte der Beschwerdeführer eine AMS-Bescheidausfertigung vom 25.04.2019. Dem Beschwerdeführer wurde die Beschäftigungsbewilligung als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter für die Zeit vom 29.04.2019 bis 28.10.2019 erteilt.

12. Am 07.03.2019 wurde die gegenständliche Rechtssache aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses neu zugewiesen.

13. Am 25.09.2019 übermittelte der Beschwerdeführer seinen neuen Meldezettel.

14. Mit Schreiben vom 23.01.2020 übermittelte der Beschwerdeführer am 24.01.2020 die Vollmachtsbekanntgabe für RA XXXX . Am 14.02.2020 wurde durch eine Bevollmächtigte der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers Akteneinsicht genommen.

15. Am 05.10.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertretung und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde und die Möglichkeit hatte, diese umfassend darzulegen. Das BFA als belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung aus, dass es in den Befragungen Schwierigkeiten mit der Übersetzung gegeben habe, da die Dolmetscher sowohl in der Erstbefragung als auch in der Einvernahme vor dem BFA Farsi gesprochen hätten. Er schilderte, dass die Bewohner in seinem Heimatdorf sehr religiös und traditionell gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe sich nicht traditionell gekleidet und sei nicht in die Moschee gegangen. Die Dorfbewohner seien verpflichtet gewesen, sowohl für Unterkunft und Verpflegung als auch für sonstige Kosten des Maulawi, des islamischen Geistlichen, aufzukommen. Die Familie des Beschwerdeführers sei nicht in die Moschee gegangen und habe dem Geistlichen auch kein Geld gegeben. Aus diesem Grund sei der Maulawi gegen die Familie des Beschwerdeführers gewesen. Der Beschwerdeführer wiederholte daraufhin sein bisheriges Fluchtvorbringen. Im Falle einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer im ganzen Land verfolgt werden, da der Maulawi und die islamischen Geistlichen im gesamten Land gut vernetzt seien und ebenfalls enge Beziehungen zu den Taliban hätten. Er führte abermals explizit aus, nicht religiös zu sein und weder zu beten noch zu fasten.

Aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit habe der Beschwerdeführer keine Probleme gehabt, in seinem Heimatdorf hätten jedoch überwiegend Paschtunen gelebt, sodass Tadschiken im Dorf die Minderheit gewesen seien.

Der Beschwerdeführer legte ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor, insbesondere Bestätigungen über freiwilliges Engagement, Empfehlungsschreiben, das Zeugnis der Integrationsprüfung mit einem Sprachniveau von B1 sowie eine Studienbestätigung als außerordentlicher Student der Universität Wien. Diesbezüglich führte der Beschwerdeführer aus, Informatik studieren zu wollen und sich aktuell auf die Studienberechtigungsprüfung vorzubereiten.

In der mündlichen Verhandlung wurden zwei Zeuginnen einvernommen. Beide berichteten über die ihrer Ansicht nach außergewöhnliche Integration des Beschwerdeführers.

16. Mit Schreiben vom 12.10.2020 übermittelte der Beschwerdeführer am 19.10.2020 eine Stellungnahme. Er wiederholte sein Fluchtvorbringen und führte aus, dass ihm aufgrund seiner westlichen Lebensweise in Afghanistan Verfolgung drohe. Er habe sich zutiefst und mit Überzeugung in die österreichische Gesellschaft und Werteordnung integriert und wäre daher in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Eine christliche österreichische Familie sei seine Patenfamilie geworden, sodass ihm bei einer Rückkehr Konversion zum Christentum, Blasphemie und Apostasie unterstellt werden würden. Der Beschwerdeführer praktiziere seine islamische Religion nicht und habe sein Heimatdorf aufgrund religiöser Verfolgung verlassen müssen. Die Abkehr vom Islam werde nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, worauf die Todesstrafe stehe. Er sei ein aufgeschlossener, weltoffener und an den westlichen Werten orientierter Mensch. Der Beschwerdeführer könnte seine Lebensweise in Afghanistan nicht nur nicht ausleben, er wäre dadurch sogar einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2        Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht mit hinreichender Sicherheit fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der Beschwerdeergänzung der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Stellungnahme, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2018, letzte KI vom 21.07.2020, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, die EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis (Juni 2019), das Dossier der Staatendokumentation: Stammes- und Clanstruktur (2016), das ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, sowie die aktuellen COVID-19 Zahlen zu Afghanistan - OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 79 (01.10.2020), WHO Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, Data last updated: 2020/10/4, 3:38pm CEST, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1      Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und wurde als sunnitischer Moslem geboren. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , welches sich im Distrikt XXXX , in der afghanischen Provinz Kabul befindet. Dort lebte er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine zwölfjährige Schulbildung, jedoch ohne Abschluss, und über Arbeitserfahrung als Verkäufer an einem Gemüsestand.

Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist unbescholten.

2.2      Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers und zur Bedrohung bei einer Rückkehr:

Der Beschwerdeführer wuchs in einer für afghanische Verhältnisse liberalen, auf Bildung fokussierten Familie auf. Die traditionellen Pflichten, wie etwa regelmäßig in die Moschee zu gehen, Geld an die islamischen Geistlichen zu spenden sowie regelmäßig zu beten und zu fasten, erfüllte die gesamte Familie nicht.

Dass die männlichen Familienmitglieder nicht die Moschee besuchten fiel sowohl den Dorfbewohnern als auch den islamischen Geistlichen auf und wurde von diesen angesprochen. Diesbezüglich kam es zuerst zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Maulawi und dem Vater des Beschwerdeführers und anschließend zu Handgreiflichkeiten, wobei sein Vater vom Maulawi und der Beschwerdeführer und sein Bruder von den anderen Mullahs geschlagen wurden. Der ältere Bruder schlug daraufhin den Maulawi, welcher die Familie anschließend beschimpfte, als Ungläubige bezeichnete und bedrohte.

Etwa eine Woche später war die Familie beim Onkel und der Großmutter des Beschwerdeführers zum Abendessen eingeladen. Während der Beschwerdeführer, der Vater und die jüngere Schwester bereits beim Onkel waren, wartete die Mutter des Beschwerdeführers auf den Bruder des Beschwerdeführers, der noch nicht von der Arbeit zurückgekommen war. Der ältere Bruder wurde an diesem Abend von drei bewaffneten Männern, im Auftrag des Maulawis, in Anwesenheit seiner Mutter getötet. Diese Männer erkundigten sich ebenfalls nach dem Verbleib des Beschwerdeführers, sodass davon auszugehen ist, dass er konkret von dem Maulawi verfolgt wird.

Die gesamte Familie flüchtete daraufhin nach Kabul zu Verwandten. Der Beschwerdeführer verließ nach etwa einer Woche Afghanistan.

Die Familie des Beschwerdeführers ist mittlerweile in den Iran geflüchtet.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Maulawi ein Mitglied der Taliban ist.

Eine mögliche Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur Volksgruppe der Tadschiken kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan aus wohlbegründeter Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität und wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr aus religiösen Gründen verlassen.

Der Beschwerdeführer wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Apostasie, zumindest der unterstellten Apostasie, als sehr westlich orientierter Mann von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen, insbesondere durch islamische Gruppierungen oder fundamentalistische Einzelpersonen, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht. Der afghanische Staat ist jedenfalls nicht gewillt und in der Lage, den Beschwerdeführer vor etwaigen Verfolgungshandlungen zu schützen.

Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan Lebensgefahr oder ein Eingriff in die körperliche Integrität drohen würde.

Es kann ebenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass der Maulawi, als höherer islamsicher Geistlicher, welcher in der Bevölkerung ein sehr hohes Ansehen genießt, im gesamten Staatsgebiet gut vernetzt ist, sodass eine Verfolgung in ganz Afghanistan nicht ausgeschlossen werden kann.

Der Beschwerdeführer kann daher nicht nach Afghanistan zurückkehren.

2.3      Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, mit letzter Kurzinformation vom 21.07.2020 (LIB 13.11.2019),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) und

-        Dossier der Staatendokumentation zur Stammes- und Clanstruktur (2016)

-        ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020,

-        EASO Special Report 07.05.2020 – Asylum Trends and COVID-19ACCORD

-        Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020,

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, sowie

-        aktuelle COVID-19-Zahlen zu Afghanistan OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 79 (01.10.2020)

-        WHO Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, Data last updated: 2020/10/4, 3:38pm CEST

-        

2.3.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB 13.11.2019).

Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 02.09.2019).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019).

Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen, welches den Abzug der US-Truppen vorsieht. Die afghanische Regierung wurde daran jedoch nicht beteiligt. Ein beidseitiger Gefangenenaustausch gilt als Voraussetzung für direkte Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Über die Umsetzung gibt es aber Streit, speziell bei der Frage, ob die Regierung auch ranghohe Befehlshaber der Extremisten freilässt (Zeit-Online 11.04.2020).

Pressemeldungen zufolge hat es seit dem Friedensabkommen mit den USA (29.02.2020) über 4.500 Angriffe der Taliban gegeben, bei denen über 900 Soldaten oder Polizisten und 610 Taliban-Kämpfer getötet wurden. Dabei griffen die Taliban keine Städte oder Provinzzentren an, sondern fokussierten sich auf Dörfer in den Provinzen Herat, Kabul, Kandahar und Balkh. Nach Angaben des afghanischen Nationalen Sicherheitsrates wurden bei Angriffen oder Anschlägen der Taliban in der ersten Woche des Ramadans (24.04.2020 bis ca. 30.04.2020) mindestens 66 Zivilisten verletzt oder getötet. Medienberichten zufolge gab es auch in der vergangenen Woche Kämpfe und Anschläge in zahlreichen Provinzen. So wurden etwa am 29.04.20 bei einem Selbstmordanschlag in der Nähe eines Stützpunkts der afghanischen Spezialkräfte im Südwesten der Hauptstadt Kabul (Polizeidistrikt 7) mindestens drei Menschen getötet und 15 verletzt. Die NATO meldet ebenso wie die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, vgl. BN v. 27.04.2020), einen deutlichen Rückgang der zivilen Opfer im ersten Quartal 2020. Die NATO hat allerdings inzwischen die Veröffentlichung von Daten über Angriffe der Taliban eingestellt. Man wolle die derzeit laufenden politischen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban nicht belasten. Am 02.05.2020 entließ die Regierung 98 weitere gefangene Taliban und somit insgesamt 748 der geforderten 5.000 Personen. Die Taliban haben im Gegenzug 112 von den versprochenen 1.000 ihrer Gefangenen freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 04.05.2020).

Aktuell liegen weiterhin Berichte aus vielen Provinzen über Kampfhandlungen und Anschläge, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen, vor. Nach Informationen der New York Times seien im Juli 2020 bisher mindestens 137 Sicherheitskräfte und 51 Zivilisten getötet worden. Beispielhaft seien folgende Ereignisse genannt: Bei einem Feuergefecht zwischen afghanischen und pakistanischen Soldaten wurden am 15./16.07.2020 in der östlichen Provinz Kunar (Distrikt Sarkano) mindestens 20 Zivilisten verletzt oder getötet. Nach afghanischer Darstellung hätten pakistanische Streitkräfte versucht, einen Checkpoint auf afghanischem Gebiet zu errichten. Auch in der Provinz Nangarhar sollen pakistanische Kräfte Checkpoints vor der Grenze zu Pakistan auf afghanischem Gebiet errichtet haben. Während des Besuchs von Präsident Ghani in Ghazni City (Südosten) wurden mehrere Raketen auf die Stadt abgefeuert, wobei vier Zivilisten verletzt wurden. Ein Vertreter des Provinzrats von Ghazni erklärte, dass sechs der neun Distrikte der Provinz belagert würden. Am 19.07.20 wurden in den Provinzen Zabul und Paktika zwei Polizeichefs von Distrikten bei Anschlägen getötet und mehrere Polizisten verletzt.

Die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) hat in den letzten neun Monaten 17 Angriffe auf religiöse Einrichtungen dokumentiert, bei denen 170 Menschen getötet und 272 verletzt wurden. Hervorzuheben seien Angriffe auf zwei Moscheen in Kabul, auf Sikh Tempel in Kabul und Jalalabad, sowie Übergriffe auf Geistliche in Takhar, Parwan, Laghman, Paktia und Helmand. Einen Imam im Dorf Kohna Masjid (Distrikt Dahana-e-Ghori, Provinz Baghlan) sollen die Taliban gefoltert und getötet haben, weil er eine Beerdigungszeremonie für einen lokalen Polizeikommandanten abgehalten haben soll.

Die USA haben mit dem im Friedensabkommen mit den Taliban vereinbarten Truppenabzug begonnen und Soldaten aus den Provinzen Helmand, Uruzgan, Paktika und Laghman zurückgezogen. Gleichzeitig besteht die US-Regierung auf der Erfüllung weiterer Vereinbarungen, wie dem Abschluss der Freilassung von Gefangenen, der Reduzierung der Gewalt sowie der Aufnahme von innerafghanischen Gesprächen. Der Gefangenenaustausch verläuft schleppend. Nach Angaben der afghanischen Regierung seien bisher 4.400 der versprochenen 5.000 gefangenen Taliban freigelassen worden. Hinsichtlich der übrigen 600 Gefangenen verweigert die Regierung die Freilassung, da sie wegen schwerer Verbrechen inhaftiert seien, die Taliban sollten eine neue Liste vorlegen. Die Taliban haben inzwischen 600 von 1.000 afghanischen Sicherheitskräften freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 20.07.2020).

2.3.2   Sicherheitslage im Zeitraum 10.12.2019 bis Ende Februar 2020:

Die Sicherheitslage bleibt volatil. Zwischen 08.11.2019 und 06.02.2020 wurden von UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet (ähnlich wie in derselben Periode des vorherigen Jahres). Die meisten Vorfälle fanden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, welche gemeinsam insgesamt 68% der Vorfälle ausmachten. Die Regionen mit den meisten Vorfällen waren Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh. Die Kampfhandlungen verringerten sich zu Jahresende 2019 und Jahresbeginn 2020, infolge der saisonalen Trends in den Wintermonaten. Am 22.02.2020 konnte infolge der Gespräche der USA mit den Taliban eine nationale Reduktion der Gewalt verzeichnet werden.

Die etablierten Trends bleiben jedoch bestehen; mit 2.811 bewaffneten Zusammenstößen, welche 57% aller Vorfälle ausmachen, gab es im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres eine Verringerung um 4%. Die Verwendung von improvisierten Sprengkörpern bleibt die zweithöchste Art von Vorfällen, mit einer Steigerung von 21%, im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres, während sich Selbstmord-Attentaten um 25% verringert haben. Die 330 Luftangriffe des afghanischen Militärs erreichte eine 18%ige Verringerung, verglichen mit derselben Periode im Jahr 2019. In den Provinzen Helmand, Kandahar und Farah wurden 44% der Luftangriffe durchgeführt.

Am 31.12.2019 wurde berichtet, dass die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Darzab in der Provinz Jawzjan, aufgrund des Abzuges der Security Forces erlangten. Vorübergehend erlangten die Taliban Kontrolle über den Distrikt Arghandab in der Provinz Zabul, während die Security Forces den Distrikt Guzargahi Nur in der Provinz Baghlan, welcher sich seit September 2019 unter Taliban Kontrolle befand, zurückeroberten (Bericht des UNO-Generalsekretärs zu politischen, humanitären, menschenrechtlichen und sicherheitsrelevanten Entwicklungen vom 10.12.2019 bis Ende Februar 2020).

2.3.3   Sicherheitslage im Jahr 2019:

Berichtete Konfliktvorfälle nach Provinzen:

Provinz

Anzahl Vorfälle

Anzahl Vorfälle mit Todesopfern

Anzahl Todesopfer

Badakhshan

200

95

798

Badghis

325

200

1863

Baghlan

395

184

1465

Balkh

615

269

1821

Bamyan

17

1

2

Daykundi

31

15

189

Farah

426

220

1562

Faryab

539

342

2601

Ghazni

1285

743

4484

Ghor

172

95

782

Helmand

1523

582

3030

Herat

456

229

1146

Jawzjan

189

101

705

Kabul

301

85

501

Kandahar

1157

435

3270

Kapisa

216

74

334

Khost

309

53

194

Kunar

294

129

757

Kunduz

493

281

2073

Laghman

269

83

384

Logar

415

169

985

Nangarhar

734

443

2736

Nimroz

119

27

114

Nuristan

54

16

119

Paktika

301

136

745

Paktia

592

133

741

Panjshir

6

0

0

Parwan

183

30

147

Samangan

76

41

289

Sar-e-Pul

125

71

404

Takhar

262

181

1404

Uruzgan

594

387

2872

Wardak

552

194

1207

Zabul

690

282

1956

(ACCORD-Kurzübersicht über Konfliktvorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project 29.06.2020).

Der afghanischen Regierung ist es weiterhin gelungen, die Kontrolle über die Hauptstadt Kabul, die größeren Bevölkerungszentren, die meisten wichtigen Straßen, über Provinzzentren und die Mehrheit der Distrikte aufrecht zu erhalten. Die afghanischen Sicherheitskräfte verfügen jedoch nicht über genügend Kräfte, um den Taliban-Offensiven, die in über der Hälfte der 34 Provinzen stattfinden, standzuhalten (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe 12.09.2019).

Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit, das Kampfniveau deutlich zurückging und sowohl regierungsfreundliche Kräfte als auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten. Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren. Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08.2018 – 31.10.2018) verstärkt (LIB 13.11.2019).

Weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente erzielten zuletzt signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet. In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten. So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan.

Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 – 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert. Für den Berichtszeitraum 08.02.2019 – 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist. Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 – 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018. Im Gegensatz dazu, registrierte die NGO International NGO Safety Organisation für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (LIB 13.11.2019).

Rund 39% der afghanischen Distrikte standen Anfang 2019 unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen, und 37% wurden von den Taliban kontrolliert. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat kontrollierte rund 4% der Distrikte. Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (LIB 13.11.2019).

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01.2019 - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (LIB 13.11.2019).

2.3.4   Ethnische Minderheiten:

Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB 13.11.2019).

In Afghanistan sind 40 - 42% Paschtunen, 27 - 30% Tadschiken, 9 - 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB 13.11.2019).

2.3.4.1 Tadschiken

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchsch

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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