TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/11 L526 2165405-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.12.2020
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Entscheidungsdatum

11.12.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


1) L526 2165397-1/28E

2) L526 2165405-1/26E

3) L526 2165403-1/21E

4) L526 2165394-1/21E

5) L526 2165401-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. über die Beschwerde des XXXX (BF1), geb. XXXX , der XXXX , (BF2), geb. XXXX , des XXXX (BF3), geb. XXXX , des XXXX (BF4), geb. XXXX , der XXXX (BF5), geb. XXXX , BF3 bis BF5 vertreten durch die Mutter, XXXX (BF2), alle Staatsangehörigkeit Irak, alle vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48, 1170 Wien gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. 1) XXXX , 2) XXXX , 3) XXXX , 4) XXXX und 5) XXXX nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz „BF“ oder gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch als „BF1“ bis „BF5“ genannt) stellten im Gefolge ihrer schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 22.05.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung am 23.05.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Niederösterreich gaben die BF an, die im Spruch genannten Namen zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Sie seien Angehörige der arabischen Volksgruppe und Moslems der sunnitischen Glaubensrichtung. BF1 und BF2 seien verheiratet und bei BF3-BF5 handle es sich um ihre gemeinsamen Kinder.

Sie brachten vor, in Bagdad gewohnt zu haben und von dort aus am 01.10.2015 legal unter Verwendung ihrer irakischen Reisepässe mit dem Flugzeug nach Istanbul ausgereist zu sein. Von dort aus seien sie mit einem Schlauchbot auf die griechische Insel Mytilini gefahren und von dort über Athen und verschiedene europäische Länder wie Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich gelangt. Ihre Reisepässe seien auf dem Weg verloren gegangen. BF1 sei Beamter im Innenministerium und BF2 Hausfrau gewesen.

Zu den Gründen für die Ausreise befragt, führten BF1 und BF2 an, dass sie und ihre Familie aufgrund ihrer sunnitischen Glaubensrichtung von schiitischen Milizen bedroht worden seien, in Gefahr gewesen wären und daher beschlossen hätten zu fliehen. BF1 führte zusätzlich aus, dass seine zwei anderen Töchter im Irak von ihrer Mutter und seiner ersten Frau entführt worden seien und er daher nicht wisse, wo sie sich befänden. BF2 erklärte, dass ihre Kinder, BF3 bis BF5, keine eigenen Fluchtgründe hätten und sich auf dieselben Gründe stützen würden, wie ihre Eltern.

BF1 beantragte am 13.04.2016 die Umschreibung seines irakischen Führerscheins bei der BH Waidhofen an der Thaya.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurden die BF am 19.06.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, der nunmehr belangten Behörde (im Weiteren auch kurz „bB“ genannt) im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.

BF1 gab zu den Gründen für die Ausreise zusammengefasst Folgendes an: Er sei in Bagdad geboren worden, habe dort maturiert und ein technologisches Institut besucht, bevor er danach den Militärdienst absolvierte. 2008 sei er schließlich Beamter geworden und habe im Märtyrer-Institut gearbeitet, wo er zuerst in der Rechtsabteilung, dann in der Abteilung für Bürgerangelegenheiten und schließlich ab 2014 im Büro des Vizepräsidenten im Monitoring beschäftigt gewesen sei.

Er habe mit seiner ersten Frau noch zwei Töchter, die diese jedoch im Jahr 2009 entführt habe, weil sie nicht gottesfürchtig gewesen sei. Er kenne deren Aufenthalt nicht, vermute jedoch, dass sie im Kurdengebiet seien. Nach der Entführung habe er eine Anzeige bei der Polizei gemacht und ein Abwesenheitsurteil erwirkt. Weiters habe er noch zwei Brüder und eine Schwester im Irak, die in Bagdad leben und mit denen er in Kontakt stehe. Er sei gesund und nehme keine Medikamente. Die Tasche, in der sich auch die Reisepässe befunden hätten, habe der Schlepper über das Boot geworfen, da sie kurz vor dem Kentern gestanden seien. In der Tasche sei auch das Gold seiner Ehefrau gewesen. Er sei gesund, in Österreich nicht berufstätig und lebe von der Grundversorgung.

Befragt, weshalb genau sie den Irak verlassen hätten, gab BF1 an, dass er am 13.09.2015 einen Anruf von einem Hinterbliebenen eines Gefallenen bekommen habe, der ihm von einem Korruptionsfall berichtete. Man habe von ihm die Zahlung von 5 Millionen irakische Dinar verlangt, um seinen Fall überhaupt zu behandeln. Einen Namen habe ihm der Anrufer jedoch nicht nennen wollen, da er Angst gehabt habe, deswegen umgebracht zu werden. Da er bereits seit März 2014 im Monitoring tätig gewesen sei, habe er seinem Chef davon berichtet und die Anweisung erhalten, sich darum zu kümmern. BF1 habe daher der entsprechenden Direktion einen Besuch abgestattet und 10 Tage dort ermittelt, bis er über einen dort vorsprechenden Bürger einen Namen erhalten habe. Auf dem Weg zurück zu seinem Vorgesetzten habe er einen Anruf erhalten und ihm sei gesagt worden, dass er beobachtet worden sei und wenn er jemanden von der Person erzähle, würde er getötet werden. Der Anrufer sei von der Asa’ib Ahl al-Haq Miliz gewesen und habe der Anrufer auch gesagt, dass BF1 Sunnit sei und nachschnüffeln würde. Daraufhin sei BF1 sehr ängstlich gewesen und habe an dem Tag niemanden etwas berichtet. Auf dem Heimweg sei er dann von einem weißen Landcrouser mit verdunkelten Scheiben verfolgt worden. Trotz seiner Angst habe er am nächsten Tag, dem 24.09.2015, seinem Chef von der korrupten Person erzählt und ihn um zwei Monate Urlaub gebeten. Als er an dem Tag von der Arbeit nachhause gefahren sei, sei er erneut verfolgt worden und eine Person habe aus einem neben ihm fahrenden Fahrzeug auf ihn geschossen. Nur aufgrund einer schnellen Bremsung sei er nicht erwischt worden. Als er danach zuhause angekommen und seiner Frau alles berichtet habe, sei sie ohnmächtig geworden. Aus Angst, getötet zu werden, habe er dann alle Sachen gepackt und sie seien zum Bruder des BF1 gegangen. Sein Nachbar hätte am nächsten Tag berichtet, dass zweimal drei Personen zu dem Haus der BF gekommen seien, nachgesehen und auch geklopft hätten. Am Sonntag habe schließlich der Bruder des BF1 Flüge gebucht, der BF habe sein Auto verkauft und am 01.10.2015 seien sie schließlich ausgereist.

BF1 legte bei der bB einen Beamten-Dienstausweis, Abschlusszeugnisse von sich und BF2, diverse Empfehlungsschreiben und eine Liste von Kollegen vor, die getötet worden seien. Sein Bruder habe ihm diese Dokumente mit der Post geschickt.

BF2 gab zunächst an, dass ihre Kinder keine eigenen Fluchtgründe, sondern die gleichen wie sie hätten und führte zusammengefasst Folgendes aus: Sie sei in Bagdad geboren, habe am Institut für Geschichte studiert und die Universität abgeschlossen. Da sie im Jahr 2003 geheiratet und dann Kinder bekommen habe, wäre sie nie berufstätig gewesen. Sie habe zusammen mit BF1 und den gemeinsamen Kindern in einem Eigentumshaus gelebt. Ihre Familie, die im selben Bezirk in Bagdad leben würde, hätten ihr mitgeteilt, dass in dem Haus nun Vertriebene leben würden. In Bagdad würden noch ihre Eltern, Schwestern und Brüder leben, zu denen sie auch in Kontakt stehe.

Auf ihrer Flucht seien die Reisepässe, welche sich ein einer Tasche befunden hätten, ins Meer geworfen worden, da der Schlepper gemeint habe, dass das Boot zu schwer sei. Darin hätten sich auch der Ehering des BF1, dessen Arbeitsausweis und Kleidung der Kinder befunden. Den Personalausweis habe ihnen ein Freund ihres Mannes aus der Türkei geschickt. Sie hätten ihm die Dokumente nach ihrer Ankunft übergeben.

In Österreich würden auch zwei Cousins von ihr leben, mit denen sie im telefonischen Kontakt stehe. Sie besuche darüber hinaus einen Deutschkurs. Sie sei nicht gesund, da sie Migräne und Asthma habe. Sie sei wegen der Migräne bei einer Ärztin in Behandlung und gegen das Asthma habe sie einen Inhalator. BF3 bis BF5 seien gesund und würden auch keine Medikamente nehmen.

Befragt, weshalb genau sie den Irak verlassen hätten, gab BF2 an, dass ihnen Katastrophen widerfahren seien. Am 23.09.2015 sei ihr Mann bedroht und am 24.09.2015 auf ihn geschossen worden. Die Kugeln hätten ihn nicht erwischt, da er stark gebremst habe. Als BF1 nachhause gekommen sei, habe er ihr alles erzählt, sie sei daraufhin eine halbe Stunde in Ohnmacht gefallen und habe dann schrecklich geweint. Sie hätten danach Dokumente und Kleidung zusammengepackt und seien zu ihrem Schwager gegangen. Sie hätten ihren Nachbar gebeten, ihnen bescheid zu geben, ob er auf seiner Videoaufzeichnung etwas sehen würde und dieser habe ihnen dann berichtet, dass zweimal das selbe Auto in ihre Straße gekommen und auf ihr Haus geschaut worden sei. Beim zweiten Mal sei eine der Personen ausgestiegen und habe an ihr Haus geklopft. Ihr Mann sei bedroht worden, weil er, wie er im Monitoring gearbeitet habe, keine Bestechungsgelder verlangt habe. Er habe den Namen eines Kollegen in Erfahrung gebracht, der Bestechungsgelder von einer Partei verlangt habe. Der BF1 sei angerufen worden und die Asa’ib Ahl al-Haq Miliz habe ihm gesagt, dass sie ihn und seine Familie töten würden. Er sei ein Sunnit und schnüffle ihnen hinterher. Das seien all ihre Fluchtgründe.

3. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.07.2017 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist. (Spruchpunkt III.) Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

4. Mit Verfahrensanordnung vom 07.07.2017 wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben.

5. Gegen die den BF am 12.07.2017 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zugestellten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege ihrer rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht eingebrachten Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser werden unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilungen moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und den BF den Status von Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder allenfalls den angefochtenen Bescheid aufzuheben und an die 1. Instanz zurückzuverweisen oder einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen oder die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklären oder die Abschiebung in den Irak als unzulässig erklären. Zudem wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und die Beauftragung eines landeskundlichen Sachverständigen begehrt.

In der Sache bringen die BF im Wesentlichen vor, dass die Beweiswürdigung der bB nicht stichhaltig sei, Aussagen der BF aus dem Zusammenhang gerissen worden seien und sich nicht mit der individuellen Situation auseinandergesetzt habe. Die Länderberichte würden das Vorbringen der BF untermauern. Sie seien individuell durch die Asa’ib AHL al-Haq bedroht worden und der Staat könnte dies nicht verhindern. Außerdem habe die Behörde auch die geschlechtsspezifische Verfolgung der weiblichen BF im Irak unbeachtet gelassen. Darüber hinaus hätten diese eine sehr westliche Lebenseinstellung.

Die Beweiswürdigung der belangten Behörde erweise sich außerdem als mangelhaft, wobei den beweiswürdigenden Argumenten der bB im angefochtenen Bescheid im Detail entgegengetreten wird. Die BF hätten ihr Vorbringen detailliert und lebensnah geschildert, weshalb die Behörde hätte zum Schluss kommen müssen, dass die geschilderte Verfolgungsgefahr objektiv nachvollziehbar sei.

Darüber hinaus sei auch die allgemeine Sicherheitslage im Irak derart gestaltet, dass eine Rückkehr nicht zulässig sei. Die bB habe den Länderberichten eklatant widersprochen und diese in die Beurteilung gar nicht miteinbezogen. Die BF seien in Österreich auch in beeindruckender Weise integriert und daher hätte die Rückkehrentscheidung als unzulässig beurteilt werden müssen.

6. Die Beschwerdevorlage langte am 25.07.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Am 01.09.2017 wurde die Rechtssache aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

8. Mit Schreiben vom 21.01.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht ein Befundbericht betreffend die Migräne der BF2 und ein ärztlicher Befund hinsichtlich des Asthmas von BF2 vorgelegt.

9. Mit Schreiben vom 26.02.2018 legten die BF folgende Unterlagen vor:

?        eine Kurteilnahmebestätigung „Deutschkurse für AsylwerberInnen“ für BF1

?         eine Teilnahmebestätigung des BF1 und der BF2 am Werte- und Orientierungskurs

?        Schulzeugnisse der BF3 und BF4

10. Am 28.06.2018 erfolgte die Mitteilung des Migrantinnenverein St. Marx über die Auflösung der Vollmachten der BF.

11. Am 17.07.2018 erfolgte die Vollmachtsbekanntgabe der ARGE Rechtsberatung für BF1 und BF2.

12. Am 23.04.2019 langten folgende Unterlagen bie Gericht ein:

?        eine Bestätigung über eine laufende psychotherapeutische Behandlung der BF2

?        ein Schreiben eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie betreffend Migräne, Spannungskopfschmerz und Anpassungsstörung der BF2

?        ein Bestätigungsschreiben des Büro für Diversität der Stadt St- Pölten

13. Am 17.07.2019 legten die BF folgende Unterlagen vor:

?        einen Psychotherapeutischen Befundbericht betreffend BF2

?         eine Schulbesuchsbestätigung der BF5

?        das Jahreszeugnis von BF4

?         das Zeugnis über die Integrationsprüfung von BF3

?        „ÖSD Zertifikate A1“ für BF1 und BF2

14. Die BF wurden mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.08.2020 über die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung am 30.09.2020 informiert und wurden ihnen zugleich Länderberichte übermittelt, wobei Ihnen die Möglichkeit der Stellungnahme bis spätestens eine Woche vor der mündlichen Verhandlung eingeräumt wurde.

15. Am 30.09.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein der BF, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und einer Dolmetscherin für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde den BF einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation sowie ihre Rückkehrbefürchtungen umfassend darzulegen, eine Stellungnahme zur aktuellen Lageentwicklung im Irak anhand der den BF im Vorfeld übermittelnden Länderdokumentationsunterlagen, die in der mündlichen Verhandlung erörtert wurden, abzugeben. Den BF wurde in dieser Verhandlung ferner die Möglichkeit gegeben, über ihre Integration zu berichten und weitere Unterlagen vorzulegen und eine Stellungnahme zu weiteren in der Verhandlung übergebenen und dort erörterten Anfragebeantwortungen, Berichten und Zeitungsartikeln abzugeben. Dabei wurden ein Empfehlungsschreiben des Fußballtrainerteams von BF4, ein Bericht der Klassenlehrerin von BF5, je eine Bestätigung des Klassenvorstandes von BF3 und BF4 und ein Empfehlungsschreiben für BF1 vorgelegt.

16. Am 2.10.2020 wurde ein Aufgabeschein in Original nachgereicht.

17. Das Bundesverwaltungsgericht verständigte die BF mit Schreiben vom 27.10.2020 über das Ergebnis der Beweisaufnahme (Einsicht in die Country Policy and Informatin Note Iraq: Medical and health care issues) und räumte ihnen die Möglichkeit ein, binnen 14 Tage schriftlich dazu Stellung zu nehmen.

18. Bislang ist keine Stellungnahme dazu eingegangen.

19. Am 10.12.2020 wurde ein vom Bundesverwaltungsgericht beauftragter Untersuchungsbericht der LPD Oberösterreich zu insgesamt sechs der als „Original“ vorgelegten Dankesschreiben der Republik Irak übermittelt. Aus diesem Bericht geht hervor, dass keine Aussage über die Echtheit getroffen werden könnten. Es könnten auch keine Aussagen über die Echtheit der verwendeten Stempel und Unterschriften auf den Dokumenten gemacht werden. Abänderungen in den Ausfüllschriften des Untersuchungsmaterials hätten nicht festgestellt werden können. Bei dem Dokument, welches im Jahr 2014 ausgestellt wurde, handle es sich um eine Kopie auf einem bereits vorgedruckten Papier. Aufgrund der im Untersuchungsbericht erlangten Befunde köne jedoch auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich auch bei den übrigen Dokumenten ebenfalls um keine Originale bzw. nicht autorisierte Ausstellungen handle.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF führen die im Spruch ersichtlichen Namen, sind Staatsangehöriger des Irak und Angehörige der arabischen Volksgruppe. Sie sind Moslems und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. BF1 und BF2 sind miteinander verheiratet. BF3 bis BF5 sind ihre gemeinsamen, minderjährigen und ledigen Kinder.

BF3 bis BF5 sind gesund. BF1 leidet an Bluthochdruck und hohen Cholesterinwerten, weswegen er Medikamente nimmt. BF2 leidet an Migräne und Asthma bronchiale. Es wurden ihr dafür Medikamente (Relpax 40mg und Symbicort Asthmaspray) verordnet. Weiters besucht sie wegen psychischer Probleme (Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung) eine Therapie. Eine schwere Erkrankung, die einer Rückkehr des BF1 oder der BF2 in den Irak entgegenstehen würde, konnte im Verfahren nicht festgestellt werden.

Alle BF sind im Irak geboren und aufgewachsen.

BF1 ist in Bagdad geboren und hat neun Jahre lang die Grundschule besucht. Danach besuchte er drei Jahre lang die AHS und studierte anschließend an einem technologischen Institut. Nach seinem Militärdienst war er als Beamter tätig.

BF2 ist ebenso in Bagdad geboren, besuchte neun Jahre die Grundschule und drei Jahre die AHS. Nach der Schulbildung schloss sie ihr Studium der Geschichte ab, bevor sie Kinder bekam und Hausfrau wurde.

BF3 bis BF5 sind in Bagdad geboren.

Die BF lebten zuletzt in einem Eigentumshaus in Bagdad und verfügen noch über familiäre Anknüpfungspunkte im Irak und dort auch in Bagdad.

Am 01.10.2015 verließen die BF den Irak legal von Bagdad ausgehend im Luftweg in die Türkei. Am 15.10.1015 reisten sie zusammen auf dem Seeweg nach Griechenland und dann weiter nach Österreich, um hier am 22.10.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

1.2. Die BF gehören keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Sie hatten vor ihrer Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften ihres Herkunftsstaates zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in ihrem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass BF1 einer individuellen Bedrohung durch Mitglieder der Asa’ib Ahl al-Haq aufgrund seiner früheren Berufstätigkeit unterliegt.

Die BF sind im Fall einer Rückkehr nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund ihrer früheren beruflichen Tätigkeit oder ihres Bekenntnisses zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam ausgesetzt.

BF2 und BF5 sind im Fall einer Rückkehr nach Bagdad auch nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund ihres weiblichen Geschlechts oder ihres Lebensstils ausgesetzt.

1.4. Es kann nicht festgestellt werden, dass den BF im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

BF1 und BF2 sind arbeits- und anpassungsfähige Menschen mit sehr guter Schulbildung und abgeschlossenen Studien. Der Gesundheitszustand der BF steht der Aufnahme einer Arbeit nicht entgegen. BF1 verfügt über langjährige Berufserfahrung im öffentlichen Dienst. BF1 und BF2 verfügen über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage in ihrem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte. Ihnen ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung ihres Auskommens möglich und zumutbar.

Auch die minderjährigen BF3 bis BF5 verfügen im Irak über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage. Ferner ist deren Pflege und Obsorge zumindest durch ihre Eltern sowie eine hinreichende Absicherung in ihren altersentsprechenden Grundbedürfnissen gegeben. Den minderjährigen BF steht ferner kostenfreier und nichtdiskriminierender Zugang zum öffentlichen Schulwesen sowie leistbarer und nichtdiskriminierender Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung zur Verfügung.

1.5. Es konnten keine Reisepässe der BF sichergestellt werden.

1.6. Die BF halten sich seit Oktober 2015 in Österreich auf. Sie reisten rechtswidrig in Österreich ein, sind seither Asylwerber und verfügten über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Die BF beziehen seit ihrer Ankunft in Österreich Leistungen aus der Grundversorgung.

BF2 hat in Österreich zwei Cousins, pflegt zu diesen jedoch keinen Kontakt. Darüber hinaus leben keine Verwandten in Österreich. Die BF pflegen im Übrigen normale soziale Kontakte.

BF1 und B2 besuchen Deutschkurse und haben beide das ÖSD Zertifikat A1 erworben. BF3 und BF4 besuchen die Neue Mittelschule und BF4 spielt in Österreich Fußball in der U15 des SC St. Pölten Inkasso Blum. BF5 besucht die 2. Klasse Volksschule in St. Pölten. Alle BF sind in Österreich unbescholten.

Der Aufenthalt der BF war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.8. Zur Lage in Bezug auf die weltweit herrschende Corona-Pandemie werden folgende Feststellungen getroffen:

Mit Stichtag 11.12.2020 gab es im Irak insgesamt 571253 Corona-Fälle. 501967 Personen sind wieder genesen, 12526 Personen starben.

Nächtliche Ausgangssperre sind komplett aufgehoben. Der Irak hat Anfang September seine Landgrenzen wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen Bagdad, Najaf und Basra wurden am 23. Juli für kommerzielle Linienflüge wiedereröffnet.

Die dänische Regierung hat in Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) dem Irak 6.000.000 DKK (ca. 870.000 USD) zugesagt, um die irakische Regierung bei der Bekämpfung der globalen COVID-19-Pandemie zu unterstützen.

Im Irak sowie in Kurdistan arbeiten alle Ministerien mit 50% Kapazität.

Apotheken und Bäckereien sind ohne Einschränkungen geöffnet.

Die Weltbank hat, als Unterstützung für das irakische Gesundheitssystem, einer Umverteilung von USD 33,6 Mio. des aktuellen Projekts „Notfalloperation für Entwicklung“ (EODP-750 Mio. USD) zugestimmt.

Die irakische Börse nimmt den Handel mit 26.4.2020 wieder auf.

Quelle: https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-situation-im-irak.html

https://www.google.at/search?ei=eny3X-X2E8imaI6Nn6gP&q=corona+irak&oq=Corona+Irak&gs_lcp=CgZwc3ktYWIQARgAMgIIADICCAAyAggAMgoIABCxAxDHAxAKMgIIADIECAAQCjICCAAyBAgAEAoyAggAMgIIADoKCAAQsQMQgwEQQzoECC4QQzoHCAAQsQMQQzoICAAQsQMQgwE6BAgAEEM6BwguEEMQkwI6BQgAELEDULVHWOdLYK5aaABwAHgBgAHNAYgB-AWSAQUxLjQuMZgBAKABAaoBB2d3cy13aXrAAQE&sclient=psy-ab

1.9. Zur sonstigen asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten Quellen getroffen (detaillierte Quellenangaben wurden den BF offengelegten):
1          Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).
1.1          Parteienlandschaft

Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon (ein Bündnis aus der Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei) unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fatah-Koalition des Führers der Badr-Milizen, Hadi al-Amiri und der Nasr-Allianz unter Haider al-Abadi und der Dawlat al Qanoon-Allianz des ehemaligen Regierungschefs Maliki (LSE 7.2018).

(LSE 7.2018)
1.2          Kurdische Region im Irak (KRI) / Autonome Region Kurdistan

Die Kurdische Region im Irak (KRI) wird in der irakischen Verfassung, in Artikel 121, Absatz 5 anerkannt (Rudaw 20.11.2019). Die KRI besteht aus den Gouvernements Erbil, Dohuk und Sulaymaniyah. sowie aus dem im Jahr 2014 durch Ministerratsbeschluss aus Sulaymaniyah herausgelösten Gouvernement Halabja, wobei dieser Beschluss noch nicht in die Praxis umgesetzt wurde. Verwaltet wird die KRI durch die kurdische Regionalregierung (KRG) (GIZ 1.2020a).

Das Verhältnis der Zentralregierung zur KRI hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der KRI und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil „umstrittener Gebiete“ ab dem 25.9.2017 deutlich verschlechtert. Im Oktober 2017 kam es sogar zu lokal begrenzten militärischen Auseinandersetzungen (AA 12.1.2019). Der langjährige Präsident der KRI, Masoud Barzani, der das Referendum mit Nachdruck umgesetzt hatte, trat als Konsequenz zurück (GIZ 1.2020a).

Der Konflikt zwischen Bagdad und Erbil hat sich im Lauf des Jahres 2018 wieder beruhigt, und es finden seither regelmäßig Gespräche zwischen den beiden Seiten statt. Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind jedoch weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der KRI (AA 12.1.2019).

Die KRI ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden größten Parteien geteilt, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), angeführt von der Familie Barzani, und deren Rivalen, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die vom Talabani-Clan angeführt wird (France24 22.2.2020; vgl. KAS 2.5.2018). Die KDP hat ihr Machtzentrum in Erbil, die PUK ihres in Sulaymaniyah. Beide verfügen einerseits über eine bedeutende Anzahl von Sitzen im Irakischen Parlament und gewannen andererseits auch die meisten Sitze bei den Wahlen in der KRI im September 2018 (CRS 3.2.2020). Der Machtkampf zwischen KDP und PUK schwächt einerseits inner-kurdische Reformen und andererseits Erbils Position gegenüber Bagdad (GIZ 1.2020a). Dazu kommen Gorran („Wandel“), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert (KAS 2.5.2018; vgl. WI 8.7.2019), sowie eine Reihe kleinerer islamistischer Parteien (KAS 2.5.2018).

Auch nach dem Rücktritt von Präsident Masoud Barzani teilt sich die Barzani Familie die Macht. Nechirvan Barzani, langjähriger Premierminister unter seinem Onkel Masoud, beerbte ihn im Amt des Präsidenten der KRI. Masrour Barzani, Sohn Masouds, wurde im Juni 2019 zum neuen Premierminister der KRI ernannt (GIZ 1.2020a) und im Juli 2019 durch das kurdische Parlament bestätigt (CRS 3.2.2020).

Proteste in der KRI gehen auf das Jahr 2003 zurück. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind dabei gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018). Insbesondere in der nordöstlichen Stadt Sulaymaniyah kommt es zu periodischen Protesten, deren jüngste im Februar 2020 begannen (France24 22.2.2020).
2          Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
2.1          Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).
2.2          Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).

(ACCORD 26.2.2020)

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).

(IBC 2.2020)

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

(IBC 2.2020)
2.3          Sicherheitslage Bagdad

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]
2.4          Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).

In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Bei den zwischen Bagdad und Erbil „umstrittenen Gebieten“ handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (Crisis Group 14.12.2018). Die „umstrittenen Gebiete“ umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala (USIP 2011). Die Bevölkerung der „umstrittenen Gebiete“ ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die „umstrittenen Gebiete“ umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen (Crisis Group 14.12.2018).

Gouvernement Ninewa

Der Islamische Staat (IS) hat seine Präsenz in Ninewa durch Kräfte aus Syrien verstärkt und führte seine Operationen hauptsächlich im Süden und Westen des Gouvernements aus (Joel Wing 3.5.2019). Er verfügt aber auch in Mossul über Zellen (Joel Wing 5.6.2019). Es wird außerdem vermutet, dass der IS vorhat in den Badush Bergen, westlich von Mossul, Stützpunkte einzurichten (ISW 19.4.2019).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Ninewa 40 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 33 Toten und 25 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es zwölf Vorfälle mit 35 Toten und 15 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Ninewa ereigneten sich im Süden des Gouvernements (Joel Wing 3.2.2020).

Gouvernement Diyala

Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 9.9.2019) und ist weiterhin ein Kerngebiet des IS (Joel Wing 3.2.2020). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den schwer zugänglichen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.12.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019).

Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala (Joel Wing 5.8.2019), aus denen er einerseits Zivilisten vertreibt, um dort Basen zu errichten, und wo er anderseits wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte angreift (Joel Wing 9.9.2019). So häufen sich Berichte über zunehmende Vertreibung von Zivilisten aus ländlichen Gebieten, beispielsweise aus den Bezirken Khanaqin und Jalawla, wegen der Bedrohung durch den IS und dem Unvermögen der Sicherheitskräfte (Irakische Armee/ISF und PMF) für deren Sicherheit zu sorgen (Joel Wing 25.11.2019; vgl. Rudaw 3.12.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betrafen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gab es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).

Ende 2019 und Anfang 2020 hat der IS seinen Aktionsschwerpunkt verschoben. Während sich bisher die meisten Vorfälle im Distrikt Khanaqin, rund um die Städte Khanaqin und Jalawla, ereigneten, verlegte der IS seinen Fokus zunehmend auf das Zentrum des Gouvernements, insbesondere auf den Distrikt Muqdadiya (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Joel Wing 3.2.2020), sowie auch in die westlichen Gebiete Diyalas. Diese Verlagerung wird im Zusammenhang mit einer Kampagne der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in Khanaqin gesehen. Damit zeigt der IS aber auch, dass er die Kapazität hat im gesamten Gouvernement aktiv zu werden (Joel Wing 3.2.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Diyala 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 65 Toten und 93 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Febraur 2020 waren es 24 Vorfälle mit 16 Toten und 27 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Gouvernement Salah ad-Din

Im Gouvernement Salah ad-Din ist der IS hauptsächlich in ländlichen Regionen aktiv. Im Dezember 2019 setzte der IS erstmals seit Mai 2019 wieder Autobomben ein (Joel Wing 6.1.2020). Drei derartige Attacken trafen Sicherheitskräfte der PMF (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Rudaw 12.12.2019; Anadolu 13.12.2019), zusätzlich zu einem Vorfall mit einem Selbstmordattentäter mit Sprengstoffweste (Joel Wing 6.1.2020; vgl. NINA 29.12.2019).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Salah ad-Din 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 27 Toten und 42 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es sechs Vorfälle mit zehn Toten und vier Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für zwei Vorfälle im Jänner 2020 - ein Raketen-, bzw. ein Mörserbeschuss auf den Militärstützpunkt Balad - pro-iranische PMF verantwortlich gemacht (Joel Wing 3.2.2020).

Gouvernement Kirkuk

Im Gouvernement Kirkuk gehen die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle, bis auf wenige Spitzen, konti

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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