TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/16 G314 2196850-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.12.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

16.12.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
VwGVG §29 Abs5

Spruch


G314 2196850-1/12E

GEKÜRZTE AUSFERTIGUNG DES AM 30.11.2020 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX (bisher als XXXX bezeichnet), geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Irak, vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Michael DREXLER, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .04.2018, Zl. XXXX , beschlossen (A) und zu Recht erkannt (B):

A)       Das Verfahren wird im Umfang der Anfechtung der Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheids eingestellt.

B)       Der Beschwerde wird im Anfechtungsumfang Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass es in Spruchpunkt IV. zu lauten hat: „Gemäß § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG ist eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 55 Abs 1 und 58 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ iSd § 54 Abs 1 Z 1 AsylG erteilt“ und die Spruchpunkte V. und VI. ersatzlos behoben werden.

C)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

Zu Spruchteil A):

In der heutigen Verhandlung wurde die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des oben angeführten Bescheids zurückgezogen. Das Verfahren wird daher in diesem Umfang gemäß § 28 Abs 1 VwGVG eingestellt.

Zu Spruchteil B):

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, durch die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen. Gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

Gemäß § 58 Abs 2 AsylG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird. Gemäß § 55 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ (die gemäß § 54 Abs 1 Z 1 AsylG zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 AuslBG berechtigt) zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist (Z 1) und die Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird (Z 2).

Da der Beschwerdeführer (BF) Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt hat, ist ihm aufgrund der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung) eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen.

Der BF hält sich seit September 2015 kontinuierlich als Asylwerber im Bundesgebiet auf. Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.

Der BF hat außergewöhnliche Integrationsbemühungen unternommen, weil er (vor der coronabedingten Schließung der Gastronomiebetriebe) einen Arbeitsplatz in einem Restaurant gefunden hat und sein Arbeitgeber auch bereit ist, ihn wieder einzustellen. Er spricht gut Deutsch. Er hat im Bundesgebiet eine Ausbildung gemacht und einen Freundeskreis aufgebaut. Er hat die in Österreich verbrachte Zeit somit zu seiner sozialen und beruflichen Integration genützt.

Er hat im Bundesgebiet aufgrund der Lebensgemeinschaft mit einer Irakerin ein schützenswertes Familienleben, wobei es seiner nach islamischem Ritus angetrauten Ehefrau, die in Österreich asylberechtigt ist, nicht zumutbar ist, dieses im Irak fortzusetzen.

Er ist strafgerichtlich unbescholten und hat sich keine wesentlichen Verstöße gegen die öffentliche Ordnung zuschulden kommen lassen. Auch wenn man berücksichtigt, dass sein Privat- und Familienleben im Inland zu einem Zeitpunkt entstand, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war, überwiegen in der vorzunehmenden Abwägung seine persönlichen Interessen am Verbleib in Österreich das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung, auch wenn nach wie vor Kontakt zu seinem im Irak lebenden Vater besteht. Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen Asylwerber bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit konfrontiert sind, ist insbesondere der Umstand, dass eine Beschäftigung gefunden hat, zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Der BF hat große Anstrengungen unternommen, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Der Umstand, dass ihm sein unsicherer Aufenthaltsstatus stets bewusst sein musste, relativiert zwar das Gewicht des Privat- und Familienlebens im Inland, hat aber vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung insbesondere bei Bedachtnahme auf die Integrationsbemühungen nicht zur Konsequenz, dass diesem überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes persönliches Interesse nicht zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen kann.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt bei der vorzunehmenden Interessensabwägung nicht, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch ist in diesem konkreten Einzelfall in einer gewichteten Abwägung aller Umstände höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.

Da eine Rückkehrentscheidung gegen den BF somit auf Dauer unzulässig ist, ist ihm gemäß § 58 Abs 2 AsylG ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK gemäß § 55 AsylG zu erteilen.

In Stattgebung der Beschwerde ist im Ergebnis eine Rückkehrentscheidung gegen den BF auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig zu erklären und ihr gemäß § 58 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 54 Abs 1 Z 1 AsylG iVm § 55 Abs 1 AsylG zu erteilen. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids ist insoweit abzuändern, Spruchpunkt V. und VI. haben als Folge dieser Entscheidung ersatzlos zu entfallen.

Zu Spruchteil C):

Die Revision nach Art 133 Abs 4 B-VG ist nicht zuzulassen, weil es sich bei der Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK um eine typische Einzelfallbeurteilung handelt, bei der sich das BVwG (vor allem angesichts der Selbsterhaltungsfähigkeit und des Familienlebens des BF) im Rahmen der Rechtsprechung des VwGH bewegte, und keine erheblichen, über den Einzelfall hinausreichenden Rechtsfragen zu lösen sind.

Das nach Schluss der mündlichen Verhandlung verkündete Erkenntnis wird gemäß § 29 Abs 5 VwGVG in gekürzter Form ausgefertigt, weil innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 29 Abs 2a VwGVG kein Antrag auf eine schriftliche Ausfertigung gemäß § 29 Abs 4 VwGVG gestellt wurde.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus gekürzte Ausfertigung Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2196850.1.00

Im RIS seit

04.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.03.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten