TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/29 L509 2186987-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.12.2020
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Entscheidungsdatum

29.12.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L509 2186987-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Ewald HUBER-HUBER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. Dr. Martin ENTHOFER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.01.2018, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, beantragte am 24.5.2016. Internationalen Schutz. Er gab bei der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.5.2016 an, dass er sich im Jahr 2011 der PKK angeschlossen und sich in die Berge in den Nordirak begeben hätte. Nachdem er ein Jahr und sieben Monate mit PKK-Kämpfern zusammen gewesen wäre, habe er von einer Generalamnestie des türkischen Staates für PKK-Kämpfer erfahren. Er habe sich daher den Peshmergas im Irak gestellt und sei danach in die Türkei zurückgekehrt. Darauf sei er von der türkischen Polizei verhört worden. Trotz der Amnestie habe man ihn immer wieder angeklagt. Die Gerichtsurteile würde er der Asylbehörde vorlegen. Im April 2016 habe eine Gerichtsverhandlung stattgefunden, zu der er nicht erscheinen hätte können, weil ein Ausgangsverbot bestanden hätte. Diese Verhandlung sei daher in den Monat Juni (2016) verlegt worden. Da er nicht im Gefängnis landen wollte, habe er sich zur Flucht nach Österreich entschlossen. Bei einer Rückkehr würde er zu einer 20 bis 30-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden.

2. Bei der niederschriftlichen Vernehmung durch die Asylbehörde am 16.11.2017 gab der Beschwerdeführer an, er sei am XXXX in XXXX , geboren. Er habe dort fünf Jahre die Volksschule, drei Jahre die Hauptschule und ein Jahr das Gymnasium besucht. Den Militärdienst habe er nicht geleistet. Er sei nicht verheiratet.

Nach der Schule sei er in den Irak gegangen und habe sich dort ca. zwei Jahre lang aufgehalten. 2013 sei er vom Irak in die Türkei zurückgekehrt. Am Anfang habe es keine Probleme gegeben. Dann hätten allerdings Gerichtsverhandlungen begonnen und 2016 hätte er die Türkei verlassen und sei er auf einem LKW versteckt nach Wien gefahren. Er führte weiters an, vom Gericht werde ihm vorgehalten, dass er Jugendliche überredet hätte, sich der PKK anzuschließen. Er sei jedoch nicht Mitglied der PKK. Er hätte lediglich im Irak und in XXXX ein paar Mitglieder kontaktiert. Im Irak sei er nie bei einer bewaffneten Organisation gewesen. Er hätte nur gesagt, dass ihm nicht bewaffnete PKK-Mitglieder beim Übersiedeln aus Türkei geholfen hätten. Er sei damals auch noch minderjährig gewesen.

Zur Untermauerung seines Vorbringens legte er einen Festnahmebefehl des ersten Strafgerichts in XXXX vor. Aus diesem Schreiben geht hervor, dass der Beschwerdeführer die Mitgliedschaft an einer Terrororganisation verdächtig sei. Als Grund für den Festnahmebefehl ist angegeben, dass seine Einvernahme notwendig sei. Weiters legte der Beschwerdeführer ein Schreiben eines Rechtsanwaltes aus der Türkei fuhr, aus dem sich ergibt, dass gegen den Beschwerdeführer am 24.1.2011 wegen Mitgliedschaft an einer bewaffneten Terrororganisation Klage erhoben worden sei. In der Folge habe es über sechs Jahre lang an verschiedenen Orten Verhandlungen gegeben und für den 6.6.2016 sei eine weitere Verhandlung angesetzt gewesen. Nach dem Schreiben habe der Beschwerdeführer höchstwahrscheinlich noch mit weiteren Verhandlungen und am Ende mit einer Strafe zu rechnen. Wegen dieser Probleme bitte der Rechtsanwalt die österreichische Regierung um Schutz.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen vom 22.1.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberichtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Es wurde dem Beschwerdeführer auch kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Das BFA stellte in der Begründung fest, dass gegen den Beschwerdeführer wegen der Tätigkeiten für die PKK Fahndungsmaßnahmen eingeleitet worden seien. Es bestünde auch ein Haftbefehl. Der Beschwerdeführer gehöre zur Volksgruppe der Kurden. Es könne aber nicht festgestellt werden, dass er bedroht oder verfolgt wird. Er befinde sich im wehrfähigen Alter, es sei aber nicht festzustellen, dass er bereits zum Wehrdienst einberufen wurde. Es habe auch nicht festgestellt werden können, ob der Beschwerdeführer wehrdiensttauglich ist und dass ihm im Fall der Ableistung des Militärdienstes in der Türkei aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit eine besondere Benachteiligung drohe. Es sei festzustellen, dass dem Beschwerdeführer in der Türkei aufgrund einer Wehrdienstverweigerung keine härtere Bestrafung drohe als anderen Staatsbürgern. Folglich liege keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung vor. Ein Asylausschlussgrund oder ein Endigungsgrund liege auch nicht vor. Im Falle der Rückkehr würde sich der Beschwerdeführer aufgrund seiner Tätigkeit für die PKK vor den dortigen Behörden verantworten müssen. Es könne aber nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden einer Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt ist. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in die Türkei den Wehrdienst ableisten muss, oder dass ihm aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit eine besondere Benachteiligung treffe. Eine allfällige Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung würde den Beschwerdeführer nicht härter treffen als andere Staatsbürger auch. Der Beschwerdeführer verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte und ein soziales Netz in der Türkei. Er sei im arbeitsfähigen Alter, habe neun Jahre lang die Schule besucht und es sei ihm durchaus zuzumuten zu arbeiten und seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Im Übrigen würden seine Eltern und 15 Geschwister noch in der Türkei leben. Bei einer Rückkehr würde er nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten. Er könne nach XXXX oder Izmir zurückkehren, ohne dort einer Gefährdung ausgesetzt zu sein. Hinsichtlich des privaten Familienlebens wurde festgestellt, dass sich der Beschwerdeführer seit Mai 2016 in Österreich aufhalte, ledig sei und keine Kinder habe. Der Beschwerdeführer habe bislang keinen Deutschkurs absolviert. Schließlich wurden dem Beschwerdeführer umfangreiche und aktuelle Länderinformationen zur Kenntnis gebracht.

Der Beschwerdeführer hätte vage und widersprüchliche Aussagen gemacht und es gehe daher die belangte Behörde davon aus, dass der Beschwerdeführer sehr wohl Mitglied der PKK war und er sich wegen dieser Tätigkeiten vor den türkischen Behörden verantworten müsste. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte sei in diesem Zusammenhang dem allgemeinen Strafrecht zuzuordnen und nicht politisch motiviert. Eine Ausreise aus dem Heimatland, alleine, um sich dort der rechtmäßigen Strafverfolgung zu entziehen, begründe keine Flucht aus asylrelevanten Gründen. Der Beschwerdeführer habe sich im Juli 2013 auch einen neuen Reisepass ausstellen lassen und dabei keine Probleme gehabt. Allgemeine Diskriminierungen, soziale Ächtung würden für sich genommen nicht eine hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen. Der Umstand, dass er kurdischer Abstammung ist, führe nicht dazu, dass gegenwärtig Personen mit kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, allein aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit, einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sind. Vereinzelte staatliche Aktionen oder solche von Einzelpersonen würden sich gegen Institutionen und Personen richten, denen ein Naheverhältnis zu PKK unterstellt wird. Auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet hat, führe nicht zur Zuerkennung des Status eines Asylberichtigten. Es habe daher für den Beschwerdeführer bis dato keine individuelle Verfolgungsgefahr gegeben.

Im Falle der Rückkehr sei der Beschwerdeführer nicht wegen seiner bloßen Anwesenheit in der Türkei einer substantiellen Gefahr ausgesetzt. Er habe dort noch Familienangehörige Eltern, Brüder und Schwestern. Und verfüge daher über eine Unterkunftsmöglichkeit. Es könne ihm auch zugemutet werden, seinen Lebensunterhalt durch Arbeiten auf dem Bau oder als Koch zu verdienen. Im Übrigen würden seine Eltern eine Landwirtschaft besitzen. Der Beschwerdeführer würde daher im Falle der Rückkehr nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten.

Für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besondere Schutz würden die Voraussetzungen nicht vorliegen.

Der Beschwerdeführer habe in Österreich keine Familienangehörigen und es liege daher auch kein schützenswertes Familienleben vor. Für den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen, nämlich ein geordnetes Asyl- und Fremdenwesen, die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Verbleib in Österreich überwiegen. Die Abschiebung in die Türkei sei zulässig. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gesetzlich begründet.

4. Gegen diesen Bescheid wurde vollumfänglich Beschwerde eingebracht. Mit der Beschwerde wird beantragt, dem Beschwerdeführer internationalen Schutz, in eventu subsidiärer Schutz zu gewähren. In eventu sollte dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und ausgesprochen werden, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, sowie die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung die Türkei aufzuheben; in eventu den Bescheid zur neuerlichen Entscheidung bzw. nach Verfahrensergänzung an die erste Instanz zurückzuverweisen und jedenfalls eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen.

Der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig, da der Beschwerdeführer in der Türkei einem unrichtigen, andererseits massiven Vorwurf, nämlich der Mitgliedschaft in einer klar terroristischen Organisation ausgesetzt sei, wobei er im vorgeworfenen Tatzeitpunkt nicht einmal deliktsfähig gewesen wäre. Außerdem erwarte ihn kein faires Verfahren und habe er keine Chance auf eine faire Verteidigung. Er hätte daher mit einer langjährigen konventionswidrig zustande gekommenen Haftstrafe zu rechnen. Der Beschwerdeführer trat der Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid mit konkreten Ausführungen entgegen.

Selbst wenn der Beschwerdeführer in der Türkei freigesprochen werden würde, hätte er weder eine Zukunftsperspektive, noch eine realistische Möglichkeit für ein ungefährdetes Leben. Er sei nicht in der Lage, seine Versorgung und seine persönliche Sicherheit sicherzustellen, da die kurdische Volksgruppe keinerlei staatliche Unterstützung zu erwarten habe und er ins soziale Nichts gestoßen würde. Es sei ihm die Lebensgrundlage entzogen, sodass er jedenfalls Anspruch auf subsidiären Schutz habe. Der Beschwerdeführer lebe in Österreich in geordneten Verhältnissen und er verweise auf eine Einstellungszusage einer Firma. Er könne dort eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung jederzeit aufnehmen, sobald der über eine entsprechende aufenthaltsrechtliche Bewilligung verfügt. Er habe sich weiters für den Deutschkurs angemeldet. Er sei strafrechtlich unbescholten und es gehe keinerlei Gefahr für die schützenswerten Interessen der Republik Österreich vom Beschwerdeführer aus. Weitere Integrationsnachweise werde er noch gesondert vorlegen, insbesondere Bestätigungen über die Absolvierung des Deutschkurses sowie die von ihm angestrebten Sprachdiplome.

5. Der Beschwerde war ein Konvolut von gerichtlichen Unterlagen in türkischer Sprache, übersetzt in die deutsche Sprache, beigeschlossen. Aus diesen Unterlagen ergibt sich, dass gegen den Beschwerdeführer ein Haftbefehl erlassen wurde und mehrere Gerichtsverhandlungen anberaumt wurden, der Beschwerdeführer jedoch zu den Gerichtsverhandlungen nicht erschienen ist.

6. Die Strafregisterauskunft vom 11.03.2020 ergab, dass der BF in Österreich unbescholten ist.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den erstinstanzlichen Verwaltungsakt unter besonderer Berücksichtigung der Angaben des BF vor dem BFA und den Beschwerdeausführungen bzw. den vorgelegten Unterlagen, durch Durchführung einer öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung am 29.10.2020 sowie durch Erhebung der aktuellen Lage in der Herkunftsregion des BF anhand des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 29.11.2019. Die Länderinformationen wurden dem BF bzw. seinem rechtsfreundlichen Vertreter zur Kenntnis gebracht und Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF und seinen Fluchtgründen:

Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen, ist an dem ebenfalls angeführten Datum geboren und Staatsangehöriger der Türkei. Er ist ledig und hat keine Kinder. Der BF ist Moslem und gehört der Volksgruppe der Kurden an. Er stammt aus der Stadt XXXX , wo er gemeinsam mit seiner Familie (Eltern und 15 Geschwistern) gelebt hat. Seine Geschwister sind, so wie die Eltern, in der Türkei wohnhaft. Nur ein Bruder lebt im Irak. Der BF beherrscht die Sprachen Kurdisch auf muttersprachlichem Niveau und Türkisch in Wort und Schrift. Er besuchte 9 Jahre die Grundschule und verdiente seinen Lebensunterhalt als Bauhilfsarbeiter. Den Wehrdienst hat der BF noch nicht abgeleistet.-

Der BF verließ nach dem Besuch der Grund- und Hauptschule, sowie nach einem Jahr Gymnasium 2011 – im Alter von 14 Jahren - die Türkei in den Irak. Es ist festzustellen, dass der BF in der Erstbefragung angegeben hat, dass er sich im Irak der PKK angeschlossen habe und 1 Jahr und 7 Monate mit PKK-Kämpfern dort zusammen gewesen wäre. Nachdem er aber erfahren habe, dass die türkische Regierung eine Generalamnestie für PKK-Mitglieder erlassen hätte, sei er in die Türkei zurückgekehrt. Es wird weiters festgestellt, dass der BF diese Aussage schon bei der niederschriftlichen Einvernahme vor der Asylbehörde dahingehend relativierte, dass er nicht Mitglied der PKK gewesen sei, er aber viele Bekannte im Irak gehabt (sein Vater sei LKW-Fahrer gewesen und er habe dadurch viele Leute kennen gelernt) und bei Verwandten im Irak gelebt hätte.

Nach ca. 2 Jahren ist er aus dem Irak in die Türkei zurückgekehrt. Die türkischen Behörden haben wegen seines Aufenthaltes im Irak ein Gerichtsverfahren gegen den BF eingeleitet. In diesem Verfahren wird ihm eine Mitgliedschaft zur verbotenen Terrororganisation PKK vorgeworfen. Da der BF zu mehrfach anberaumten Gerichtsverhandlungen nicht erschienen war, wurde gegen ihn ein Haftbefehl erlassen. Es ist davon auszugehen, dass das Gerichtsverfahren noch nicht abgeschlossen und dieser Haftbefehl noch aufrecht ist. Der BF hat sich im Falle der Rückkehr mit großer Wahrscheinlichkeit wegen des Vorwurfes der Mitgliedschaft bei einer verbotenen Terrororganisation vor einem türkischen Strafgericht zu verantworten.

Sollte dem BF eine Mitgliedschaft an einer bewaffneten Organisation nachgewiesen werden, droht gemäß § 314 Abs. 2 tStGB eine Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahre, wobei allerdings im Fall des BF die Regelungen des türkischen Strafrechts (Art. 31 tStGB) und des türkischen Kinderschutzgesetzes mit der Nr 5395, in Betracht zu ziehen sind, die für die Begehung von Straftaten durch junge Menschen zwischen 12 und 15 bzw. 15 bis 18 Jahren eine stufenweise Reduzierung der Strafdrohungen u.a. Begünstigungen (Silvia Tellenbach, „Zum türkischen Strafgesetzbuch“ in KAS –Auslandsinformation, S 82) vorsehen. Der BF kann sich in seinem Strafverfahren anwaltlich vertreten lassen bzw. ist er bereits von einem Rechtsanwalt vertreten.

Es konnten keine Hinweise festgestellt werden, dass der BF in einem Strafverfahren vor einem türkischen Gericht unverhältnismäßig benachteiligt werden würde oder mit unangemessenen Strafen zu rechnen hätte, so dass daraus das Erfordernis von internationalem Schutz abzuleiten wäre.

Es kann somit nicht festgestellt werden, dass der BF in der Türkei einer konkreten asylrelevanten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt ist oder er im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt sein wird.

Weiters kann unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und Beweismittel nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2, Art. 3 EMRK oder die Protokolle Nr. 6 oder 12 zur Konvention gewährleisteten Rechte bedeuten würde oder der BF als Zivilperson mit einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt aus einem internationalen oder innerstaatlichen Konflikt rechnen müsste. Es gibt keine Anhaltspunkte oder Hinweise darauf, dass der BF im Fall der Rückkehr um sein Leben zu fürchten hat oder in eine existentielle Notlage geraten würde.

Der BF befindet sich nach schlepperunterstützter, illegaler Einreise seit Mitte Mai 2016 in Österreich. Er ist gesund und lebt von der Grundversorgung. Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen liegen nicht vor.

Der BF hat sich anlässlich der Beschwerdeeinbringung zu einem Deutschkurs angemeldet, konnte aber keinen Abschluss nachweisen. Er verfügt lediglich über geringe Deutschkenntnisse. Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

Die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthaltes des BF überwiegen die privaten Interessen.

1.2. Zum Herkunftsland Türkei:

Zur Beurteilung der allgemeinen Lage in der Türkei wird das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.11.2019 und die für den gegenständlichen Fall relevanten Themen herangezogen. Diese sind im Besonderen die politische Lage; die Sicherheitslage; terroristische Gruppierungen, insbesondere PKK – Partiya Karkerên Kurdistan; Informationen über die Sicherheitsbehörden; zur Folter und unmenschlicher Behandlung, zu den Haftbedingungen; zur Todesstrafe; zu ethnischen Minderheiten; zu Kurden und zur Behandlung nach Rückkehr.

2.Sicherheitslage

Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, XXXX , Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, XXXX und Ar? (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen A?r?, XXXX , Bingöl, Bitlis, Diyarbak?r, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, ?anl?urfa, Siirt, ??rnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).

Quellen:

?AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 8.10.2019

?AA – Auswärtiges Amt (8.11.2019a): Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/tuerkeisicherheit/201962#content_1, Zugriff 8.10.2019

?BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (8.11.2019): Türkei – Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 8.10.2019

?EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 3.10.2019

?EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (4.10.2019): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 4.10.2019

?IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (1.2.2017): IHD’s 2016 Report on Human Rights Violations in Eastern and Southeastern Anatolia Region, https://ihd.org.tr/en/ihds-2016-report-on-human-rights-violations-in-eastern-and-southeastern-anatolia/, Zugriff 4.10.2019

?IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (24.5.2018): 2017 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_balance-sheet-1.pdf, Zugriff 4.10.2019

?IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-SUMMARY -TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN- TURKEY.pdf, Zugriff 4.10.2019

?ICG – Internal Crisis Group (4.10.2019): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer, Zugriff 7.10.2019

Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei, PKK, die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 haben PKK-Attentate und Operationen mehr als 40.000 militärische und zivile Opfer gefordert. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2019).

Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 6.2019)

2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch HDP-Politiker zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der AKP im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2019). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2019).

Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den südostanatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich im Berichtszeitraum (2018) fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH-D 6.2019).

Quellen:

?BMIBH-D - Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat [Deutschland] (6.2019): Verfassungsschutzbericht 2018, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2018.pdf, Zugriff 9.10.2019

?BMI-D - Bundesministerium des Innern [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2015.pdf, Zugriff 25.10.2019

?ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 25.10.2019

Terroristische Gruppierungen: TAK - Teyrêbazên Azadiya Kurdistan – (Freiheitsfalken Kurdistans)

TAK ist eine mit der PKK verbundene terroristische Vereinigung. Die TAK wurde Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer, Abdullah Öcalan, verhaftet worden war. Im Jahr 2004 beschuldigte die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spaltete sich öffentlich von der PKK ab. Die TAK soll aus jungen städtischen Rekruten bestehen. Seit 2004 hat sie mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK sei ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysten zufolge ist die TAK mit der PKK durch ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordiniert und führt sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurde von den USA, der Türkei und der EU als terroristische Organisation eingestuft (CEP 15.10.2018).

Die TAK gilt als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operiert die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).

Quellen:

?CEP – Counter Extremism Project (15.10.2018): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/sites/default/files/country_pdf/TR-10152018.pdf, Zugriff 9.10.2019

?AM – Al Monitor (29.2.2016): Who is TAK and why did it attack Ankara? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/02/turkey-outlawed-tak-will-not-deviate-line-of-ocalan.html Zugriff 9.10.2019

Rechtsschutz/Justizwesen

Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019, vgl. PACE 24.1.2019). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Türkei verzeichnet weiterhin eine schwere Rückwärtsentwicklung hinsichtlich des Funktionierens des Justizwesens. Die Bedenken bezüglich der Unabhängigkeit der türkischen Justiz, die unter anderem auf die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch von 2016 zurückzuführen ist, bleiben bestehen (EC 29.5.2019, vgl. USDOS 13.3.2019). Obgleich Richter gelegentlich immer noch gegen die Regierung entscheiden, haben sowohl die Ernennung von tausenden neuen, regierungstreuen Richtern als auch die potenziellen beruflichen Konsequenzen für ein Urteil gegen die Interessen der Exekutive in einem größeren Rechtsfall sowie die Auswirkungen der laufenden Säuberung die Unabhängigkeit der Justiz insgesamt stark geschwächt (FH 4.2.2019).

Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019).

Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zwei-jährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019).

Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019). Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 13.3.2019). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und 599 Anwälte festgenommen. Bisher wurden 321 Anwälte wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (CCBE 1.9.2019).

Nach Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2018 soll eine in Polizeigewahrsam (angehaltene) befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer U-Haft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung der Polizeigewahrsam ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, z.B. bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal, zu je vier Tagen, möglich, insgesamt daher maximal zwölf Tage Polizeigewahrsam. Während des Ausnahmezustandes waren es bis zu 14 Tagen, mit einmaliger Verlängerung nach sieben Tagen. Die maximale U-Haftdauer beträgt gem. Art. 102 (1) der türkischen Strafprozessordnung (SPO) bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, ein Jahr. Aufgrund von besonderen Umständen kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) SPO beträgt die U-Haftdauer höchstens zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (A??r Ceza mahkemeleri) fallen (Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen). Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden (insgesamt maximal drei Jahre). Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz 3713 betreffen, beträgt die maximale U-Haftdauer höchstens sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Diese Gesetzesänderung erfolgte mit dem Dekret 694 vom 15.08.2017, das am 1.2.2018 zu Gesetz Nr. 7078 wurde (Art. 136) (ÖB 10.2019).

Wesentliche Regelungen der Dekrete des Ausnahmezustandes wurden in die reguläre Gesetzgebung überführt. So wurden z.B. Teile der Notstandsvollmachten auf die Provinzgouverneure übertragen, die vom Staatspräsidenten ernannt werden (AA 14.6.2019). Das nach Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 angenommene Gesetz Nr. 7145 sieht keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen. Entlassene Akademiker haben selbst nach Wiedereinsetzung nicht mehr die Möglichkeit, an ihre ursprüngliche Universität zurückzukehren (ÖB 10.2019).

Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR. Bis Mai 2019 wurden 126.000 Anträge eingebracht. Davon bearbeitete die Kommission bislang 70.406. Lediglich 5.250 Personen wurden wiedereingesetzt. Die Kommission wies 65.156 Beschwerden ab, 55.714 Beschwerden sind weiter anhängig (ÖB 10.2019).

Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen. Den Beschwerdeführern fehlt es an Möglichkeiten, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. Umgekehrt verwendet die Kommission schwache Beweise zur Aufrechterhaltung der Entlassungsentscheidungen. Herangezogen werden oftmals rechtmäßige Handlungen der Betroffenen als Beweis für rechtswidrige Aktivitäten (Interaktionen mit Banken, Wohltätigkeitsorganisationen, Medien etc.). Es besteht eine Beweislastumkehr. Die Betroffenen müssen widerlegen, dass sie Verbindungen zu verbotenen Gruppen hatten. Irrelevant ist, dass die getätigten Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Vornahme legal waren. Die Wartezeiten bis zur Entscheidung der Berufungsverfahren reichten bislang von vier bis zehn Monaten, während viele entlassene Beschäftigte im öffentlichen Sektor noch keine Antwort der Kommission erhielten, obwohl sie ihre Anträge vor über einem Jahr eingereicht haben. Die Kommission ist an keine Fristen für Entscheidungen gebunden (AI 25.10.2018, vgl. ÖB 10.2019).

Quellen:

?AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 4.11.2019

?AI – Amnesty International (25.10.2018): Purged beyond return? No remedy for Turkey's dismissed public sector workers [EUR 44/9210/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1448005/1226_1540802893_eur4492102018english.PDF, Zugriff 4.11.2019

?AM – Al Monitor (21.11.2019): Turkish court defies higher ruling to uphold verdict in Cumhuriyet retrial, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/turkey-court-uphold-convictions-newspaper-cumhuriyet.html, Zugriff 22.11.2019

?CCBE - Council of Bars and Law Societies of Europe (1.9.2019) Situation in Turkey While 2019 Judicial Year Begins, https://arrestedlawyers.org/2019/09/01/situation-in-turkey-while-2019-judicial-year-begins/, Zugriff 6.11.2019

?EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 31.10.2019

?EP – European Parliament (13.3.2019): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13 March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff 4.11.2019

?FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004358.html, Zugriff 6.11.2019

?HRW – Human Rights Watch (10.4.2019): Türkei: Massenverfolgung von Rechtsanwälten - Willkürliche Terrorvorwürfe untergraben Recht auf faire Verfahren, https://www.hrw.org/de/news/2019/04/10/tuerkei-massenverfolgung-von-rechtsanwaelten, Zugriff 7.11.2019

?IPI - International Press Institute (Hg.) (18.11.2019): Turkey’s Journalistsin the Dock: Judicial Silencing of the Fourth Estate - Joint International Press Freedom Mission To Turkey (September 11–13, 2019), https://freeturkeyjournalists.ipi.media/wp-content/uploads/2019/11/Turkey-Mission-Report-IPI-FINAL4PRINT.pdf, Zugriff 20.11.2019

?PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en, Zugriff 7.11.2019

?ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 6.11.2019

?USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff 6.11.2019

Sicherheitsbehörden

Die nationale Polizei, die unter der Kontrolle des Innenministeriums steht, ist für die Sicherheit in großen Stadtgebieten verantwortlich (AA 14.6.2019, vgl. USDOS 13.3.2019). Die Jandarma, eine paramilitärische Truppe, ist für ländliche Gebiete und spezifische Grenzgebiete zuständig (AA 14.6.2019, vgl. USDOS 13.3.2019, ÖB 10.2019), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 13.3.2019). Die Jandarma mit einer Stärke von 180.000 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 10.2019). Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz. Die Jandarma beaufsichtigt die sog. "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucular?], die vormaligen „Dorfschützer“, eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die PKK. Der Geheimdienst M?T ist der Präsidentschaftskanzlei unterstellt und für das Sammeln von Informationen über bestehende und potenzielle Bedrohungen verantwortlich (USDOS 13.3.2019). Die Polizei und mehr noch der Geheimdienst M?T haben unter der AKP-Regierung an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (über 33.000 Bedienstete betroffen von massenhaften Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst, Entlassungen und Strafverfahren). Die Jandarma rekrutiert sich teils aus Wehrpflichtigen (AA 14.6.2019).

Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei („Emniyet Genel Müdürlü?ü“ - TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (?stihbarat Dairesi Ba?kanl???“ - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der nationale Nachrichtendienst („Millî ?stihbarat Te?kilât?“- M?T), der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Es existiert nach wie vor der militärische Nachrichtendienst, der dem Generalstabschef untersteht. Dieser musste nach dem Putsch einige Aufgaben an den M?T abgeben. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem M?T erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. M?T-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen. Auch Personen, die dem M?T Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den M?T-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle aus 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten (ÖB 10.2019).

Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Den Militär-, Polizei- und Nachrichtendiensten fehlt es an ausreichender Transparenz und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament. Das Sicherheitspersonal verfügt über einen umfassenden Rechtsschutz. Trotz glaubhafter Berichterstattung über schwerwiegende Anschuldigungen wegen Menschenrechtsverletzungen und den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch Sicherheitskräfte im Südosten ist die Erfolgsbilanz der gerichtlichen und administrativen Prüfung solcher Anschuldigungen nach wie vor schlecht. Die parlamentarische Aufsichtskommission für die Strafverfolgung blieb wirkungslos (EC 29.5.2019).

Quellen:

?AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 31.10.2019

?Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 31.10.2019

?EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 31.10.2019

?FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html, Zugriff 31.10.2019

?HDN – Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main- opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx? pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338, Zugriff 31.10.2019

?NZZ – Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712, Zugriff 31.10.2019

?ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 31.10.2019

?USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff 31.10.2019

5.Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert (ÖB 10.2019).

Vorwürfe über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Strafanstalten sowie das Fehlen einer adäqaten Untersuchung dieser Vorwürfe geben weiterhin Anlass zu großer Sorge (HRW 17.1.2019, vgl. EC 29.5.2019). Solche Vorwürfe gab es seit Ende des offiziellen Besuchs des UN-Sonderberichterstatters zu Folter im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur PKK zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu nötigen, andere zu belasten (OHCHR 27.2.2018, vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018, vgl. EC 29.5.2019).

Laut Menschenrechtsinstitutionen seien Fälle von Folterungen und rechtswidrigen Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden. Zudem mehrten sich Berichte über Entführungen von Personen und die Existenz informeller Anhaltezentren, in denen es auch zu Fällen von Folter komme. Vertreter des Europarates in Ankara konnten die Existenz solcher Anhaltezentren jedoch nicht bestätigen. Folter bleibt, insbesondere wegen der Abschaffung von Garantien im Zuge des Ausnahmezustands sowie wegen der Nichtdurchführung von effektiven Untersuchungen, in vielen Fällen straflos, wenngleich es vereinzelt Anklagen und Verurteilungen gibt. Von systematischer Anwendung der Folter kann nach hiesigem Wissensstand dennoch nicht die Rede sein (ÖB 10.2019).

Gemeinsame Recherchen des ZDF-Magazins Frontal 21 und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm, bei dem der Geheimdienst M?T nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF11.12.2018, vgl. Correctiv 11.12.2018, Ha’aretz 11.12.2018). Laut einem Bericht der Tageszeitung Cumhuriyet soll eine Frau wegen Terrorismus inhaftiert worden sein. Die Frau behauptete bei einer Anhörung am 5.2.2019, dass sie sechs Monate lang in einem geheimen Zentrum in Ankara gefoltert wurde, welches vom türkischen Geheimdienst M?T betrieben wird (IPA 14.6.2019). Der Vorfall führte im März 2019 zu einer diesbezüglichen parlamentarischen Anfrage im Europaparlament an die Europäische Kommission (EP 11.3.2019).

Während nach Angaben des türkischen Menschenrechtsverbandes (?HD) 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlungen laut Meldungen ausgesetzt waren (?HD 6.4.2018), stieg diese Zahl 2018 auf insgesamt 2.719 Personen. Hiervon gaben 1.149 Personen an, dass sie in Gefängnissen gefoltert und misshandelt wurden (?HD 16.4.2019).

Berichte über Folter und Misshandlungen hielten auch 2019 an. So wurden infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa beispielsweise 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Rechtsbeistände und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der erwachsenen Inhaftierten in der Gendarmerie-Wache von Bozova Yaylak in der Provinz Urfa von Angehörigen der Polizei gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen im Zuge einer Razzia verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019, vgl. WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbak?r berichtete auf der Basis von Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elaz?? durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden. Statt auf Beschwerden gegen das Wachpersonal Untersuchungen vorzunehmen, wurden gegen 40 Häftlinge Untersuchungen wegen Disziplinarverstöße eingeleitet (SCF 19.8.2019).

Quellen:

?ABA - Ankara Bar Association Center For Attorney Rights, Penal Institution Board And Center For Human Rights (26.5.2019): Report Regarding Claims Of Torture In Ankara Provincial Police Headquarters Investigation Department Of Financial Crimes, in: HRD – Human Rights Defenders (29.5.2019): Bar Association Report: Former diplomats sexually abused with batons and tortured, https://humanrights-ev.com/bar-association-report-former-diplomats-sexually-abused-with-batons-and-tortured/, Zugriff 30.10.2019

?AI – Amnesty International (13.6.2019): Nicht mehr in Foltergefahr; UA-Nr: UA-074/2019-1 [EUR 44/0525/2019], https://www.amnesty.de/sites/default/files/2019-06/074-1_2019_DE_T%C3%Bcrkei.p

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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