TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/4 L518 2179284-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.01.2021
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Entscheidungsdatum

04.01.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L518 2179284-2/12E

L518 2179981-1/12E
L518 2179985-1/15E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 30.11.2020 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. STEININGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , StA. ARMENIEN, der minderjährige Beschwerdeführer vertreten durch die Eltern XXXX und XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, vom 09.11.2017, Zl. XXXX , Zl. XXXX , Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.11.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

I.1. Die beschwerdeführenden Parteien (in weiterer Folge gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch kurz als „bP1“ bis „bP3“ bezeichnet), sind Staatsangehörige der Republik Armenien und brachten nach rechtswidriger Einreise in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich am 08.09.2017 bei der belangten Behörde (in weiterer Folge „bB“) Anträge auf internationalen Schutz ein.

Die männliche bP1 und die weibliche bP2 sind Ehegatten und Eltern der minderjährigen bP 3.

I.2.1. Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte die bP 1 im Wesentlichen vor, dass sie an Diabetes leide sowie Dialysepatient wäre, dass die Behandlung in Armenien kostspielig wäre und sie aufgrund des Wunsches nach guter medizinischer Versorgung nach Österreich gekommen wären.

I.2.2. Vor der belangten Behörde brachte die bP 1 am 07.11.2017 zum Fluchtgrund im Wesentlichen Folgendes vor:

F.: Wie geht es Ihnen gesundheitlich.

A.: Ich leide an Diabetes.

F.: Befinden Sie sich in ärztlicher Behandlung oder sonst in Therapie.

A.: Ich erhalte aktuell Medikamente gegen die Zuckerkrankheit und befinde mich im KH der XXXX in Behandlung. Zuvor war ich im KH XXXX in Behandlung. Ich muss jeden zweiten Tag zur Dialyse.

F.: Nehmen Sie Medikamente.

A.: Ich nehme täglich fünf Tabletten.

F.: Wie geht es Frau und Kind gesundheitlich.

A.: Meiner Frau und meinem Sohn geht es gut, danke.

F.: Sind sie einvernahmefähig. Sind Sie geistig und körperlich in der Lage heute die Einvernahme durchzuführen.

A.: Ja.

F.: Wann haben Sie zum ersten Mal daran gedacht, dass Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen.

A.: Als meine Krankheit sich verschlimmerte und ich nicht mehr arbeiten konnte. Ich leide an Diabetes, ich leide aufgrund der Krankheit an Sehschwäche und ich bin auf die Dialyse angewiesen.

In XXXX wurde mir ein Stant eingesetzt, das war im Oktober 2014. Seither sind die Nierenprobleme bekannt.

F.: Wann haben Sie ihr Heimatland tatsächlich verlassen.

A.: Am XXXX .2017 habe ich meine Heimat verlassen. Ich kam mit dem Flugzeug.

F.: Wo waren Sie die letzte Nacht vor ihrer Ausreise aufhältig.

A.: Zuhause an meiner Heimatadresse, diese lautet XXXX

F.: Reisten Sie schlepperunterstützt nach Österreich ein.

A.: Ich kam mit einem Visum der Botschaft der Republik Griechenland.

F.: Warum wählten Sie Österreich.

A.: Ich kam wegen der medizinischen Versorgung.

F.: Geben Sie chronologisch und lückenlos die Aufenthaltsorte der letzten drei Jahre in Ihrer Heimat an.

A.: Immer XXXX .

F.: Schildern Sie die Gründe, warum sie Ihr Heimatland verlassen und einen Asylantrag gestellt haben, von sich aus vollständig und wahrheitsgemäß.

Sie werden darauf hingewiesen, dass falsche Angaben die Glaubwürdigkeit Ihres Vorbringens beeinträchtigen können.

Sollten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt vor österreichischen Behörden falsche Angaben gemacht haben oder sollte es zu sonstigen Ungereimtheiten gekommen sein, so werden Sie aufgefordert, dies jetzt bekannt zu geben.

Soweit Sie auf Ereignisse Bezug nehmen, werden Sie auch aufgefordert, den Ort und die Zeit zu nennen, wann diese stattfanden und die Personen, die daran beteiligt waren.

A.: Ich benötige die Dialyse. Ich möchte in Österreich behandelt werden, da ich an Diabetes leide. Ich wurde in meiner Heimat an den Augen operiert. Ich habe eine Untersuchung der Nieren über mich ergehen lassen und es wurde mir ein Stant eingesetzt. Ich habe alle Behandlungen in XXXX erhalten. Ich habe in Armenien auch Medikamente erhalten und war auch dort in regelmäßiger fachärztlicher Betreuung. Ich erhielt in meiner Heimat die Medikamente Diabeton und Insulin und auch ein Medikament gegen Bluthochdruck. Ich bin in meiner Heimat medizinisch und fachärztlich versorg gewesen. Aber ich benötige kostenlose medizinische Behandlung, da ich in meiner Heimat nicht arbeiten kann und mir die Behandlung dort nicht leisten kann.

F.: Welche Berufsausbildung hat Ihre Ehefrau.

A.: Meine Frau hat zehn Jahre die Grundschule besucht und hat in XXXX das College für Buchhhaltung absolviert. Meine Frau hat aber nie gearbeitet, denn ich habe gearbeitet und meine Frau war immer Hausfrau und hat sich um unseren Sohn gekümmert.

F.: Gibt es noch andere Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben.

A.: Nein.

F.: Haben Sie sämtliche Gründe, warum Sie die Heimat verlassen haben, vollständig geschildert.

A.: Ja.

F.: Was würde Sie konkret erwarten, wenn Sie jetzt in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten.

A.: Ich hätte in meiner Heimat keine kostenlos medizinische Behandlung.

I.2.3. bP2 – bP3 beriefen sich auf die Gründe der bP1 und auf den gemeinsamen Familienverband.

Vorgelegt vor dem BFA wurde von den bP:

?        Medizinische Unterlagen den Ehemann betreffend

?        Heiratsurkunde bP 1 und 2

?        Geburtsurkunde bP 3

I.3. Die Anträge der bP auf internationalen Schutz wurden folglich mit im Spruch genannten Bescheiden der bB gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei.

In Bezug auf sämtliche bP wurde ein im Spruch inhaltlich gleichlautender Bescheid erlassen, weshalb sich aus dem Titel des Familienverfahrens gem. § 34 AsylG ebenfalls kein anderslautender Bescheid ergab.

I.3.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die bB das Vorbringen der bP in Bezug auf die Möglichkeit einer Schutzgewährung als nicht relevant und führte hierzu Folgendes aus (Wiedergabe aus dem angefochtenen Bescheid in Bezug auf bP1) :

-        betreffend die Feststellungen zu Ihrer Person:

Mangels geeigneter Dokumente konnte Ihre Identität nicht festgestellt werden. Die Visadatenbank ergab keinerlei Hinweise auf Ihre Person.

Die Angaben zur Einreise ergeben sich aus Ihren Angaben sowie aus Mitteilungen der Sicherheitsbehörden.

Sie leiden an einer schweren bzw. (wenn unbehandelt) lebensbedrohlichen Erkrankung. Sie leiden an Diabetes und sind Dialysepatient. Ihre Erkrankung ist in Armenien behandelbar.

Sie leiden an Diabetes und haben in Ihrer Heimat eine adäquate Behandlung der Diabetes vorgefunden – Sie haben in den letzten Jahren Probleme mit den Augen bekommen. Sie sind deswegen nach Österreich gekommen, weil Sie Dialysepatient sind. Ihre übrigen Familienmitglieder sind gesund.

Dass Sie an Diabetes leiden, Dialysepatient sind und dass die übrigen Familienmitglieder gesund sind, ergibt sich aus der Aktenlage und Ihren Angaben. Dass Ihre Erkrankung in Armenien behandelbar ist, ergibt sich aus Ihren Angaben im Asylverfahren und den aktuellen Länderfeststellungen.

-        betreffend die Feststellungen der Gründe für das Verlassen des Herkunftslandes:

Zum Fluchtgrund befragt, führten Sie aus, Sie wären deswegen hierher gekommen, da Sie an Diabetes litten und in Armenien zwar eine adäquate Behandlung erhalten, aber diese nicht mehr finanzieren hätten können bzw. wollen.

Im Fall der Rückkehr hätten Sie nicht die kostenlose medizinische Behandlung, welche Sie in Österreich erhielten.

Andere Gründe für den Asylantrag fanden sich in Ihren Ausführungen nicht.

Ihre Angaben zu den Ausreisegründen werden den weiteren Feststellungen und Erwägungen zu Grunde gelegt.

-        betreffend die Feststellung Ihrer Situation im Falle der Rückkehr:

Die Feststellungen zu Ihrer Situation im Fall der Rückkehr ergeben sich aus Ihren eigenen Angaben in Ihrem Asylverfahren.

Im vorliegenden Fall wird darauf hingewiesen, dass Sie im Falle Ihrer Rückkehr nach Armenien nicht um Ihr Leben fürchten müssen. Werden die Länderfeststellungen zur Ihrem Heimatland betrachtet, liegen keine Informationen über eine gezielte Verfolgung von abgewiesenen Asylwerbern vor.

Soweit Ihre Rückkehrsituation in Betracht zu ziehen ist, wird angeführt, dass Sie sich in Ihrer Heimat niederlassen könnten.

Es handelt sich bei Ihnen um einen armenischen Staatsangehörigen mit abgeschlossener Schulbildung. Sie sind selbsterhaltungsfähig.

Die Feststellung, dass Sie an Diabetes leiden und Dialysepatient sind, ergibt sich aus der Aktenlage und auch aus Ihren Angaben während der niederschriftlichen Einvernahme.

Aufgrund der vorhandenen familiären Anknüpfungspunkte, aufgrund der Feststellungen zur gewährleisteten Grundversorgung in Armenien und des Umstandes, dass es sich bei Ihnen um eine selbsterhaltungsfähige Person handelt, welche in Armenien über eine Unterkunft und über Verwandte und Freunde verfügt, die zur Lebensführung beitragen, ist davon auszugehen, dass Sie im Falle einer Rückkehr in Ihr Heimatland nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage gelangen würden. Ebenso wäre Ihnen die Unterstützungsleistung aus dem Ausland zugänglich, da das Bankenwesen in Armenien funktioniert.

In Bezug auf die weitern bP wurde in sinngemäßer Weise argumentiert.

I.3.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Armenien traf die belangte Behörde ausführliche und schlüssige Feststellungen. Aus diesen geht hervor, dass in Armenien bzw. der Herkunftsregion der bP von einer unbedenklichen Sicherheitslage auszugehen und der armenische Staat grundsätzlich gewillt und befähigt ist, sich auf seinem Territorium befindliche Menschen vor Repressalien Dritte wirksam zu schützen. Ebenso ist in Bezug auf die Lage der Menschenrechte davon auszugehen, dass sich hieraus in Bezug auf die bP ein im Wesentlichen unbedenkliches Bild ergibt. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass in der Republik Armenien die Grundversorgung der Bevölkerung gesichert ist, eine soziale Absicherung auf niedrigem Niveau besteht, die medizinische Grundversorgung flächendeckend gewährleistet ist, Rückkehrer mit keinen Repressalien zu rechnen haben und in die Gesellschaft integriert werden. Das Sozialsystem und das Gesundheitswesen sind auch Rückkehrern zugänglich. Darüber hinaus bestehen in Armenien karitativ tätige Organisationen, welche auch Rückkehrern zugänglich sind.

I.3.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam. Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar, weshalb Rückehrentscheidung und Abschiebung in Bezug auf Armenien zulässig sind.

I.4. Gegen die im Spruch genannten Bescheide wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass die bP 1 Armenien verlassen habe, da ihr dort die Ärzte nicht mehr weiter helfen hätten können. Sie leide an Diabetes und sei bereits in der Heimat an den Augen operiert worden. Sie sei in Jerewan soweit es den Ärzten dort möglich gewesen sei behandelt worden und hätte Diabeton und Insulin sowie ein Medikament gegen Bluthochdruck erhalten. Sie hätte sich die Behandlung nicht mehr leisten können und hätten überdies die Ärzte gesagt, dass sie ihr nicht weiterhelfen könnten. Aufgrund dessen sei sie nach Österreich gekommen, um die notwendige Behandlung zu erhalten und überleben zu können. Aufgrund der Erkrankung sei sie arbeitsunfähig und auf die Hilfe der Ehegattin angewiesen. Die armenische Gesundheitsbehörde sei nicht in der Lage, die notwendige Behandlung zu bieten bzw. zu gewährleisten. Die bB hätte die vorgelegten medizinischen Unterlagen nicht richtig gewürdigt und hätte sie Subsidiären Schutz bekommen müssen. Aus dem Länderbericht ergäbe sich, dass die Verfügbarkeit der Medikamente problematisch ist in Armenien. Die Qualität der Medikamente sowie medizinischen Leistungen sei auch unzureichend. Es wurden Internetseiten angeführt, welche über gefälschte Medikamente und fehlerhafte medizinische Leistungen berichten. Es lägen Ermittlungsmängel vor, es hätten über einen Verbindungsbeamten Informationen über eine ausreichende Versorgungsmöglichkeit für Schilddrüsenproblematik eingeholt werden müssen. Niemand würde der bP Geld nach Armenien überweisen und sie sie einer Gefährdung iSd Art. 3 EMRK ausgesetzt.

I.5. Die bB erteilte über Anfrage am 30.11.2018 eine Auskunft an das Krankenhaus über den Aufenthaltsstatus der bP.

I.6. Am 20.11.2019 langte eine Deutschkursbestätigung der bP 2 ein.

I.7. Mit Schreiben vom 25.11.2020 wurde mitgeteilt, dass die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der bekämpften Bescheide der bP 1-3 zurückgezogen wird.

I.8. Am 28.02.2020 und 02.03.2020 langten Unterlagen hinsichtlich des Verdachts, dass die bP 3 als Beitragstäter an einem Diebstahl beteiligt war, ein. Mit Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 04.06.2020 wurde mitgeteilt, dass das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde.

Am 12.04.2020 langte eine Anzeige gegen die bP 3 wegen Verstoßes gegen das Covid-Maßnahmengesetz ein. Demnach hat die bP entgegen den Bestimmungen einen Park betreten und dabei den Mindestabstand zu einer haushaltsfremden Person nicht eingehalten. So wurde die bP 3 von Polizisten dabei wahrgenommen, wie sie sich mit Hand und Kuss von einer anderen Person verabschiedete. Nach Belehrung und Versprechen, sofort getrennt den Heimweg anzutreten, gingen die beiden scheinbar unbelehrbaren Angezeigten jedoch wieder Schulter an Schulter weiter.

I.9. Für den 30.11.2020 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

Gemeinsam mit der Ladung wurden Feststellungen zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat zugestellt. Ebenso wurde – in Ergänzung bzw. Wiederholung zu den bereits bei der belangten Behörde stattgefundenen Belehrungen - ua. hinsichtlich der Obliegenheit zur Mitwirkung im Verfahren manuduziert und wurden die bP aufgefordert, Bescheinigungsmittel vorzulegen.

Mit Schreiben vom 26.11.2020 legten die bP vor:

-        Unterlagen zur Integration

-        Medizinische Unterlagen zur bP 1

-        Behindertenpass bP 1

Vorgelegt in der Verhandlung wurde von den bP:

-        Zwei Unterstützungsschreiben,

Folgende Erkenntnisquellen wurden den beschwerdeführenden Partei genannt und deren Inhalt erörtert:

-        LIB der Staatendokumentation Armenien vom 02.10.2020 und vom 08.05.2019.

-        Bericht des AA über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 27.4.2020.

Die bP bzw. der rechtsfreundliche Vertreter gaben hierzu sowie zur Einschätzung des Richters an:

P1: Ich habe die Berichte gelesen, wir können nicht in Armenien leben. Dort wo ich wohne gibt es keine medizinische Versorgung und diese ist auf sehr schlechtem Niveau, ich muss 400 KM Fahren, um versorgt zu werden. Für jede Behandlung muss ich nach Jerewan fahren und dafür brauche ich sehr viel Geld. Hier gibt es Insulin in einer Verpackung, die auch von Blinden angewendet werden kann. In Armenien ist es eine Spritze aus dem 19. JH. Hier kann ich mir das Insulin selbst geben, hier werde ich auch eine Augenprothese bekommen. Ich habe eine 20 -jährige Berufserfahrung und habe 27 Euro Pension. Für jedes Berufsjahr bekomme ich 1000 Dram. Es gibt auch ein Problem mit dem Auto. Hier helfen mir ein Taxifahrer, die Krankenschwester, sie führen mich an der Hand. In Armenien wird mich keiner an der Hand halten. Ich muss in Armenien für die Taxifahrt bezahlen.

RI fragt den RV um ihre Stellungnahme zu dieser Beurteilung.

RV: Bei schwerwiegenden Erkrankungen im Zusammenhang mit einer möglichen Verletzung von Artikel 3 EMRK durch Rückführung in den Herkunftsstaat ist auch zu prüfen, mit welcher Wahrscheinlichkeit beim Unterbleiben einer weiteren Therapie mit einem Wiederanstieg der Erkrankung zu rechnen ist und welche Auswirkungen auf den Gesundheitszustand als reale Gefahr damit verbunden wären. Dabei ist auch zu prüfen, ob der Zugang zu notwendigen medizinischen Behandlungen nicht nur grundsätzlich, sondern auch tatsächlich, angesichts deren konkreter Kosten und Erreichbarkeit ärztlicher Organisationen erreichbar wäre. Zu der angespannten, politischen Lage kommen in Armenien die Auswirkungen der Covid 19 Pandemie, die das Land massiv trifft und entsprechende Folge für die medizinische Versorgung und für die wirtschaftliche Lage hat. Die P1 wäre im Falle einer Rückkehr nach Armenien trotz Unterstützung seiner Familie, nicht in Stand für die hohen Kosten, der sein gesamtes restlichen Leben Medikation wegen der Dialyse aufzukommen. Ohne Einnahme der Medikamente besteht für ihn die reale Gefahr, einer rapiden lebensgefährdenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes. Eine Rückführung nach Armenien stellt daher eine Verletzung seiner Rechte nach Artikel 3 EMRK dar. Die P1 ist auch Covid 19 Risikopatient.

Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung wurde das Erkenntnis des BVwG vom selben Tag mündlich verkündet.

Die Beschwerden wurden spruchgemäß als unbegründet abgewiesen. Die Revision wurde gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

Die bP wurden iSd § 29 Abs. 2 a VwGVG über das Recht, binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift eine Ausfertigung gemäß § 29 Abs. 4 zu verlangen bzw. darüber, dass ein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision beim Verwaltungsgerichtshof und der Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof darstellt, belehrt.

Nach Verkündung der Erkenntnisse wurde den bP sowie deren rechtsfreundlicher Vertretung eine Ausfertigung der Niederschrift ausgefolgt.

Mit Schreiben vom 03.12.2020 wurde die schriftliche Ausfertigung der mündlich verkündeten Erkenntnisse begehrt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

II.1.1. Die beschwerdeführenden Parteien

II.1.1.1. Bei den bP handelt es sich um im Herkunftsstaat der Mehrheits- und Titularethnie angehörige Armenier, welche aus einem überwiegend von Armeniern bewohnten Gebiet stammen und sich zum Mehrheitsglauben des Christentums bekennen.

Die bP1-3 sind junge, gesunde, arbeitsfähige Menschen mit bestehenden familiären Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer –wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich- gesicherten Existenzgrundlage.

Die Pflege und Obsorge der minderjährigen bP ist durch deren Eltern gesichert.

Die bP 1 -3 wurden in Karajan geboren und sind dort aufgewachsen. Die bP 1 und 2 haben dort die Grundschule besucht. Die bP 1 hat im Anschluss für 4 Semester eine Universität besucht und dann in einem Kupfer-Molybdänwerk zehn Jahre als Hilfsarbeiter und 16 Jahre als Mechaniker gearbeitet und so den Lebensunterhalt der Familie sichergestellt. Der letzte Arbeitstag war der 31.05.2017, die bP 1 hat krankheitsbedingt gekündigt.

Die bP 2 hat nach der Schule ein College für Buchhaltung absolviert. Sie hat in Armenien nicht gearbeitet und war Hausfrau.

Die bP lebten bis zur Ausreise in der Stadt XXXX , welche ca. 330 km von Jerewan und ca. 30 km von XXXX entfernt ist, wo Dialysebehandlungen möglich sind.

Familienangehörige leben nach wie vor in Armenien.

Die bP 1 hat noch Kontakt mit der Schwägerin, welche nunmehr allein in der Eigentumswohnung, in welcher die bP vor ihrer Ausreise lebten, lebt. Die Schwägerin ist Putzfrau, ihre Töchter sind verheiratet.

Zwei Söhne der bP 1 im Altern von 25 und 27 Jahren leben zudem in Armenien und sind derzeit beim Militär beschäftigt. Vor dem Krieg arbeitete der ältere als Fahrer bei einem Industriebetrieb.

Die Eltern der bP 2 leben in der Heimatstadt der bP in einer Eigentumswohnung. Die Eltern leben von der staatlichen Pension. Auch zwei Schwestern der bP 2 leben mit ihren Familien in Armenien.

Zudem leben Onkel und Tanten der bP bzw. deren Familien in Armenien. Die Familienangehörigen leben in finanziell abgesicherten Verhältnissen.

II.1.1.2. Die bP 1 leidet seit 15 Jahren an einer Diabetes mellitus Typ II und ist seit November 2017 (medizinische Befunde KH XXXX ) aufgrund einer Niereninsuffizienz dialysepflichtig (3x wöchentlich). Zudem leidet sie an (Folge)erkrankungen, es liegen eine Netzhauterkrankung (Retionopathie) beider Augen, Augapfelschrumpfung, Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit (Herzgefäße verkalkt), Herzkpappenfehler und Verengung der Oberschenkelarterie vor.

Der bP wurde bereits zweimal in Armenien ein Stent gesetzt und erhielt sie im Februar 2020 in Österreich einen weiteren (Herz und Oberschenkel). In Armenien wurde eine Silikonölfüllung bei Glaskörperblutung 2013 bzw. eine Vitrektomie links sowie eine Laserbehandlung der Augen 2015 durchgeführt. In Österreich wurde eine Vitrektomie rechts 2018 bei Glaskörperblutung durchgeführt. Es wurden beidseits Kunstlinsen (Pseudophakie) implantiert. Der bP 1 bzw. 3 wurde im August 2019 erklärt, dass das Augenlicht der bP 1 nicht mehr „rettbar“ ist, Ziel ist die Schmerzfreiheit. Eine Gastroskopie im Oktober 2020 blieb ohne Befund. Der Verdacht auf ein Schilddrüsenproblem konnte mit Befund vom 29.10.2020 nicht bestätigt werden.

Zuletzt befand sich die bP 1 im Oktober 2020 für 3 Tage im Krankenhaus. Sie wurde im guten Allgemeinzustand aus der stationären Pflege entlassen. Sie erhält diverse Medikamente und sollte die Medikation mit ASS bzw. Dialyse lebenslang fortgeführt werden.

Die bP wurde bereits in Armenien diversen Behandlungen, ua. in Jerewan unterzogen.

Die weiteren Familienmitglieder sind gesund.

Die von bP 1 genannten Erkrankungen sind in Armenien behandelbar und hat die bP 1 auch Zugang zum armenischen Gesundheitssystem sowie zu einer ca. 30 km entfernten Dialyse in einem Krankenhaus. Soweit sie im Falle der Behandlung mit einem Selbstbehalt belastet wird, steht es ihr im Falle der Bedürftigkeit frei, die Kostenübernahme des Selbstbehaltes durch den Staat zu beantragen, worüber eine eigens hierfür eingerichtete Kommission entscheidet.

Die bP 2 und 3 haben Zugang zum armenischen Arbeitsmarkt und es steht ihnen frei, eine Beschäftigung bzw. zumindest Gelegenheitsarbeiten anzunehmen.

Die bP 1 erhält eine Pension.

Ebenso haben die bP Zugang zum –wenn auch minder leistungsfähige als das österreichische- Sozialsystem des Herkunftsstaates und könnten dieses in Anspruch zu nehmen.

Darüber hinaus ist es den bP unbenommen, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen und sich im Falle der Bedürftigkeit an eine im Herkunftsstaat karitativ tätige Organisation zu wenden.

II.1.1.3. Die bP halten sich seit 3 Jahren und 4 Monaten in Österreich auf.

Die bP haben in Österreich keine Verwandten und leben auch sonst mit keiner nahe stehenden Person zusammen, welche nicht zur Kernfamilie zu zählen ist. Sie möchten offensichtlich ihr künftiges Leben in Österreich gestalten. Sie reisten rechtswidrig in das Bundesgebiet ein. Sie leben von der Grundversorgung und hat die bP 2 Deutschkurse besucht und die A1 Prüfung abgelegt, die A2 Prüfung wurde nicht bestanden. Die bP 1 hat keinerlei Deutschkurs absolviert. Die Deutschkenntnisse der bP 1 und 2 sind als sehr gering einzustufen.

Die bP 2 arbeitete im Haushalt anderer Personen über Dienstleistungsschecks.

Die bP sind strafrechtlich unbescholten. Gegen die bP 3 wurde 2 mal Anzeige erstattet (ua. Diebstahl und Verstoß gegen die Covid-Verordnung).

Die bP 3 hat in Armenien die Schule bis zu Beginn der neunten Klasse besucht, diese jedoch aufgrund der Ausreise nicht mehr abgeschlossen. In Österreich besuchte sie für 2 Jahre eine neue Mittelschule sowie einen Polytechnischen Lehrgang und spricht sehr gut Deutsch. Sie hilft seit einem Monat bei Essen auf Rädern beim Roten Kreuz mit.

Es liegen keine besonderen sozialen Bindungen der bP im Bundesgebiet vor.

Die Identität der bP steht nicht fest.

Bei den bP 2 und 3 handelt es sich um mobile, junge, gesunde, arbeitsfähige Menschen. Einerseits stammen die bP aus einem Staat, auf dessen Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist und andererseits gehören die bP keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass sie sich in Bezug auf ihre individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellen als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann. So war es den bP auch vor dem Verlassen ihres Herkunftsstaates möglich, dort ihr Leben zu meistern. Auch die bP 1 schätzt sich selbst als eingeschränkt arbeitsfähig ein und ist sie mobil.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Armenien

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei Armenien um einen sicheren Herkunftsstaat gem. § 19 BFA-VG handelt.

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen getroffen:

II.1.2.1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, generiert am 02.10.2020 Version 3

1.       Politische Lage

Letzte Änderung: 02.09.2020

Armenien (arm.: Hayastan) umfasst knapp 29.800 km2 und hatte im ersten Quartal 2019 eine Einwohnerzahl von 2,96 Millionen, was einen Rückgang von 0,3% zum Vergleichszeitraum des Vorjahres ausmachte (ArmStat 7.5.2019). Davon sind laut der Volkszählung von 2011 98,1% ethnische Armenier. Den Rest bilden kleinere Ethnien wie Jesiden und Russen (CIA 14.2.2019).

Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 findet in Armenien ein umfangreicher Reformprozess auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene hin zu einem demokratisch und marktwirtschaftlich strukturierten Staat statt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen am 9.12.2018 konnten nach übereinstimmender Meinung aller Wahlbeobachter als frei und fair bezeichnet werden. Die im Dezember 2015 per Referendum gebilligte Verfassungsreform zielt auf den Umbau von einer semi-präsidialen in eine parlamentarische Demokratie ab. Die Änderungen betreffen u.a. eine Ausweitung des Grundrechtekatalogs sowie die weitere Stärkung des Parlaments (auch der Opposition). Das Amt des Staatspräsidenten wurde im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben reduziert, gleichzeitig die Rolle des Premierministers und des Parlaments gestärkt (AA 27.4.2020). Der Premierminister und der Präsident werden vom Parlament gewählt. Der Premierminister ist der Regierungsvorsitzende, während der Präsident vorwiegend zeremonielle Funktionen ausübt (USDOS 11.3.2020).

Oppositionsführer Nikol Paschinjan wurde im Mai 2018 vom Parlament zum Premierminister gewählt, nachdem er wochenlange Massenproteste gegen die Regierungspartei angeführt und damit die politische Landschaft des Landes verändert hatte. Er hatte Druck auf die regierende Republikanische Partei durch eine beispiellose Kampagne des zivilen Ungehorsams ausgeübt, was zum schockartigen Rücktritt Serzh Sargsyans führte, der kurz zuvor das verfassungsmäßig gestärkte Amt des Premierministers übernommen hatte, nachdem er zehn Jahre lang als Präsident gedient hatte (BBC 20.12.2018; vgl. AA 27.4.2020). Bei den als „Samtene Revolution" bezeichneten Demonstrationen im April/Mai 2018 verhielten sich die Sicherheitskräfte zurückhaltend. Auch die Demonstranten waren bedacht, keinerlei Anlass zum Eingreifen der Sicherheitskräfte zu bieten (AA 27.4.2020).

Am 9.12.2018 fanden vorgezogene Parlamentswahlen statt, welche unter Achtung der Grundfreiheiten ein breites öffentliches Vertrauen genossen. Die offene politische Debatte, auch in den Medien, trug zu einem lebhaften Wahlkampf bei. Das generelle Fehlen von Verstößen gegen die Wahlordnung, einschließlich des Kaufs von Stimmen und des Drucks auf die Wähler, ermöglichte einen unverfälschten Wettbewerb (OSCE/ODIHR 10.12.2018). Die Allianz des amtierenden Premierministers Nikol Paschinjan unter dem Namen „Mein Schritt" erzielte einen Erdrutschsieg und erreichte 70,4% der Stimmen. Die ehemalige mit absoluter Mehrheit regierende Republikanische Partei (HHK) erreichte nur 4,7% und verpasste die 5-Prozent-Marke, um in die 101-Sitze umfassende Nationalversammlung einzuziehen. Die Partei „Blühendes Armenien" (BHK) des Geschäftsmannes Gagik Tsarukyan gewann 8,3%. An dritter Stelle lag die liberale, pro-westliche Partei „Leuchtendes Armenien" unter Führung Edmon Maruyian, des einstigen Verbündeten von Paschinjan, mit 6,4% (RFE/RL 10.12.2018; vgl. ARMENPRESS 10.12.2018).

Zu den primären Zielen der Regierung unter Premierminister Paschinjan gehören die Bekämpfung der Korruption und Wirtschaftsreformen (RFL/RL 14.1.2019; vgl. FH 4.3.2020) sowie die Schaffung einer unabhängigen Justiz (168hours 20.7.2018; vgl. FH 4.3.2020). Seit Paschinjans Machtübernahme hat sich das innenpolitische Klima deutlich verbessert und dessen Regierung geht bestehende Menschenrechts-Defizite weitaus engagierter als die Vorgängerregierungen an, auch wenn immer noch Defizite bei der konsequenten Umsetzung der Gesetze bestehen (AA 27.4.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        ARMENPRESS-Armenian News Agency (10.12.2018): My Step - 70.44%, Prosperous Armenia - 8.27%, Bright Armenia - 6.37%: CEC approves protocol of preliminary results ofsnap elections, https://armenpress.am/eng/news/957626.html , Zugriff 21.3.2019

•        ArmStat - Statistical Committee of the Repbulic of Armenia (7.5.2019): Economic and Financial Data for the Republic of Armenia, https://armstat.am/nsdp/, Zugriff 8.5.2019

•        BBC News (20.12.2018):Armenia country profile, https://www.bbc.com/news/world-europ e-17398605 , Zugriff 21.3.2019

•        CIA - Central Intelligence Agency (30.4.2.2019): The World Factbook, Armenia; https: //www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/am.html, Zugriff 7.5.2019

•        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Armenia, https://freedomh ouse.org/country/armenia/freedom-world/2020 , Zugriff 24.4.2020

•        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Office for De- mocratic Institutions and Human Rights et alia (10.12.2018): Armenia, Parliamentary

Elections, 2 April 2017: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https: //www.osce.org/odihr/elections/armenia/405890?download=true , Zugriff 21.3.2019

•        RFE/RL - Radio Free Europe/ Radio Liberty (10.12.2018): Monitors Hail Armenian Vote, Call For Further Electoral Reforms, https://www.rferl.org/a7monitors-hail-armenia-s-snap -polls-call-for-further-electoral-reforms/29647816.html , 21.3.2019

•        RFE/RL - Radio Free Europe/ Radio Liberty (14.1.2019): Pashinian Reappointed Armenian PM After Securing Parliament Majority, https://www.rferl.org/aypashinian-reappointed- armenian-pm-after-securing-parliament-majority/29708811.html , Zugriff 21.3.2019

•        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019- HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

•        168hours (20.7.2018): Fight against corruption and creation of independent judiciary main pillars of government’s economic policy- PM Paschinjan, https://en.168.am/2018/07/20 /26637.html , Zugriff 21.3.2019

2        Sicherheitslage

Letzte Änderung: 28.09.2020

Hinsichtlich Bergkarabach - das sowohl von Armenien als auch von Aserbaidschan beansprucht wird - besteht die Gefahr erneuter Feindseligkeiten aufgrund des Scheiterns der Vermittlungsbemühungen, der zunehmenden Militarisierung und häufiger Verletzungen des Waffenstillstands. Im Oktober 2017 trafen sich die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans unter der Schirmherrschaft der Minsk-Gruppe, einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geleiteten Vermittlungsgruppe, in Genf und begannen eine Reihe von Gesprächen über eine mögliche Lösung des Konflikts. In den letzten Jahren haben Artilleriebeschüsse und kleinere Gefechte zwischen aserbaidschanischen und armenischen Truppen Hunderte von Toten gefordert. Anfang April 2016 gab es die heftigsten Kämpfe seit 1994. (CFR 18.10.2019). Die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan ist geschlossen. Es gibt häufige Verletzungen des Waffenstillstands von 1994 und militärische Stellungen entlang der Grenze. Es gibt immer wieder Zeiten erhöhter Spannungen, die die Sicherheitslage in den Grenzregionen unberechenbar machen können (FCO 15.6.2020, vgl. EDA 18.3.2020).

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev und der armenische Premierminister Nikol Paschinjan vereinbarten bei ihrem ersten Treffen am Rande des Gipfels der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der am 27. und 28. September 2018 in Duschanbe stattfand, mehrere Schritte zum Abbau der Spannungen zwischen den armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften, wie z.B. die Installierung einer direkten „operativen“ Kommunikationslinie zwischen den beiden Seiten und die Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts (Eurasianet 1.10.2018). In Folge kam es zu mehreren weiteren Treffen. Der laufende Prozess trug dazu bei, die Häufigkeit der Verletzungen des Waffenstillstandes deutlich zu reduzieren (ACLED 20.2.2020).

Angesichts neuer Kämpfe in der Unruheregion Berg-Karabach hat nach Armenien auch Aserbaidschan das Kriegsrecht verhängt (ORF Teletext 131, 28.9.2020 vgl. DerStandard 27.9.2020 vgl. Krone 27.9.2020). Der Konflikt um die seit Jahrzehnten umstrittenen Kaukasusregion ist wieder voll entbrannt. Laut der pro-armenischen Regionalregierung bombardierte Aserbaidschans Armee Ziele in Berg-Karabach. Von aserbaidschanischer Seite hieß es dagegen, die Armee habe eine Gegenoffensive begonnen, um Armeniens Militäraktivitäten in der Region zu stoppen (ORF Teletext 131, 28.9.2020). Es soll zahlreiche Verletzte und rund zehn Tote unter den Soldaten in dem Südkaukasus-Gebiet geben. Es handelt sich um die schwerste Eskalation seit Jahren. Zwischen den verfeindeten Nachbarländern kam es nach Angaben beider Seiten am Morgen des 27.9.2020 zu schweren Gefechten. Die Hauptstadt Stepanakert sei beschossen und zahlreiche Häuser in Dörfern seien zerstört worden. Unter den Opfern sind nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) auch Zivilisten. Beide Seiten gaben sich gegenseitig die Schuld für die Gefechte (DerStandard 27.9.2020 vgl. Krone 27.9.2020).

UN-Generalsekretär Guterres hat ein sofortiges Ende der Kämpfe und die unverzügliche Aufnahme von Verhandlungen gefordert. Auch die US-Regierung forderte eine Ende der Kämpfe. Das US-Außenministerium nahm nach eigenen Angaben zu beiden Seiten Kontakt auf und forderte die Konfliktparteien auf, die Kampfhandlungen sofort einzustellen (ORF Teletext 132,

28.9.2020) . Bereits im Juli 2020 kam es an der Grenze zwischen den verfeindeten Republiken zu schweren Gefechten; die Kämpfe lagen jedoch nördlich von Bergkarabach. Armenien setzt auf Russland als Schutzmacht, die dort Tausende Soldaten und Waffen stationiert hat. Das russische Außenministerium rief beide Seiten auf, das Feuer sofort einzustellen. Zudem sollten Baku und Eriwan Gespräche aufnehmen, um die Situation zu stabilisieren. Die benachbarte Türkei warf Armenien vor, internationales Recht zu verletzen. Das Außenministerium in Ankara teilte mit, es verurteile den „armenischen Angriff“ scharf. Die Türkei stehe an Aserbaidschans Seite. Der Iran hat angeboten, im eskalierenden Konflikt als Vermittler zu agieren (DerStandard

27.9.2020) .

Quellen:

•        ACLED - Armed Conflict Location and Event Data Project (20.2.2020): Regional Overview: Central Asia and the Caucasus 9-15 February 2020, https://acleddata.com/2020/02/207r egional-overview-central-asia-and-the-caucasus-9-15-february-2020/, Zugriff 18.3.2020

•        CFR - Council on Foreign Relations (18.10.2019): Nagorno-Karabakh Conflict, https://www.cfr.org/global-conflict-tracker/conflict/nagorno-karabakh-conflict, Zugriff 24.6.2020

•        DerStandard (27.9.2020): Aserbaidschan und Armenien rufen wegen Berg-Karabach Kriegsrecht aus, https://www.derstandard.at/story/2000120287918/schwere-kaempfe-in- aserbaidschanischer-region-berg-karabach, Zugriff 28.9.2020

•        EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (18.3.2020): Reisehinweise für Armenien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-informati on/armenien/reisehinweise-armenien.html , Zugriff 25.6.2020

•        Eurasianet (1.10.2018): Aliyev and Paschinjan hold first talks, agree on tension-reducing measures, https://eurasianet.org/aliyev-and-Paschinjan-hold-first-talks-agree-on-tension -reducing-measures , Zugriff 21.3.2019

•        FCO-U.K. Foreign and Commonwealth Office (15.6.2020): Foreign travel adviceArmenia - Safety and Security, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/armenia/safety-and-secu rity , Zugriff 25.6.2020

•        Krone (27.9.2020): Aserbaidschan: Schwere Kämpfe in Unruheregion, https://www.kro- ne.at/2238964, Zugriff 28.9.202

•        ORF - Österreichischer Rundfunk, Teletext (28.9.2020): UNO und USA fordern Ende der Kämpfe, https://teletext.orf.at/channel/orf1/page/132/1, Zugriff 28.9.2020

•        ORF - Österreichischer Rundfunk, Teletext /28.9.2020): Kämpfe in der Region Berg- Karabach, https://teletext.orf.at/channel/orf1/page/131/1,Zugriff 28.9.2020

2.1      Regionale Problemzone: Bergkarabach (Nagorny Karabach)

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die sogenannte Republik Bergkarabach (’RBK’, russ.: Nagorny Karabach; in Armenien auch Arzach genannt) wird von keinem Staat völkerrechtlich anerkannt. Die aserbaidschanische Regierung besitzt faktisch keine Kontrolle über das Gebiet. Auch Armenien erkennt die ’Repu- blik Bergkarabach’ offiziell nicht an, praktisch sind beide aber wirtschaftlich und rechtlich stark verflochten. Die Bewohner von Bergkarabach erhalten neben ihrem RBK-Pass auch armenische Pässe (AA 27.4.2020). Armenien finanziert 55% des Budgets der Republik Arzach (ChH

4.6.2020) .

Laut Angaben der Republik Arzach, umfasst das Gebiet mehr als 12.000 km2, wobei hiervon 1.041 km2 unter aserbaidschanischer Okkupation stünden. Die Bevölkerung belief sich 2013 auf rund 147.000 Einwohner, wovon 95% Armenier sind, nebst Russen, Ukrainern, Griechen, Georgiern und Aseri (NKR o.D.).

Die Republik Arzach kontrolliert das in Aserbaidschan früher als Autonome Region Bergkara- bach verwaltete Gebiet sowie weitere sieben Provinzen Aserbaidschans in den Grenzgebieten zu Armenien und Iran und in der Region umAgdam. Der Kreis Shahumyan nördlich der früheren Autonomen Region ist unter aserbaidschanischer Kontrolle, wird aber ebenfalls von der ’RBK’ beansprucht, da es sich nach deren Logik um ’von Aserbaidschan besetztes Gebiet’ mit ehemals armenischer Bevölkerungsmehrheit handelt. Insgesamt befindet sich etwa 13% des Staatsgebiets von Aserbaidschan unter armenischer Kontrolle, d.h. der sog. Republik Bergkarabach (AA 27.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Nach der Verfassung ist der Präsident sowohl Staats- als auch Regierungschef und hat die volle Autorität, Kabinettsmitglieder zu ernennen und zu entlassen. Im September 2017 wurde das Amt des Premierministers abgeschafft (FH 4.3.2020k).

Am 31.3.2020 fanden in Berg-Karabach - international nicht anerkannte - Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt (HBS 2.4.2020). Die Partei des Freien Vaterlandes von Harutjunyan gewann bei den Parlamentswahlen mehr als 40% der Stimmen und wird 16 der 33 Sitze kontrollieren, während die größte Oppositionskraft, die Partei der Vereinigten Heimat von Samvel Babajan, neun Sitze erhielt (CW 16.4.2020).

Bei der Wahl zum Präsidenten wurde ein zweiter Wahlgang notwendig, der am 14.4.2020, trotz des wegen COVID-19 zwei Tage zuvor ausgerufenen Notstandes, durchgeführt wurde. Die Notstandsregel verbietet öffentliche Versammlungen, beschränkt die Verkehrsanbindung innerhalb von Karabach und untersagt Bürgern Armeniens und anderer Länder die Einreise in die Region (CW 16.4.2020). Arayik Harutjunyan gewann mit mehr als 87% der abgegebenen Stimmen. Harutjunyan war 2017 bis 2018 Außenminister und 2007-2017 Premierminister der Republik Arzach (PA 15.4.2020) und verfehlte bereits im ersten Wahlgang am 31.3.2020 die notwendige Mehrheit nur um wenige hundert Stimmen (Armenpress 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020).

Armenische Wahlbeobachter berichten von weitverbreiteten Verletzungen des Wahlgeheimnisses (EN 1.4.2020). Kritisiert wurde weiters, dass wegen COVID-19 kein Wahlkampf geführt werden konnte wie in „normalen" Zeiten - und zudem der Urnengang selbst das Risiko einer weiteren Ausbreitung des Virus deutlich erhöht habe (HBS 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020). Der im zweiten Wahlgang unterlegene Präsidentschaftskandidat Masis Mailjan forderte die Wähler auf, wegen der Pandemie nicht an den Wahlen teilzunehmen und weigerte sich auch, an Fernsehdebatten teilzunehmen (CW 16.4.2020).

Die Republik Arzach wurde bis zu den Wahlen von Verbündeten der 2018 von Paschinjan gestürzten armenischen Regierung regiert. Die Führer des ehemaligen armenischen Regimes, darunter die ehemaligen Präsidenten Serzh Sargsyan und Robert Kocharyan, unternahmen einige vage Anstrengungen, um über Berg-Karabach als letzte Bastion die Macht in Armenien wiederzugewinnen. Ihr favorisierter Kandidat, Vitaliy Balasanyan, versäumte bei den Präsidentenwahlen am 31.3.2020 den Einzug in den zweiten Wahlgang (EN 1.4.2020).

Die Justiz ist in der Praxis nicht unabhängig und die Gerichte werden von der Exekutive sowie von mächtigen politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Gruppen beeinflusst. Die Verfassung garantiert grundlegende Verfahrensrechte, aber Polizei und Gerichte halten diese in der Praxis nicht immer ein. Die Regierung kontrolliert viele der Medien. Im Jahr 2019 wurden Veränderungen durch die politische Öffnung in Armenien im Jahr 2018 mitbewirkt. Politische Kritiker der Führung, denen zuvor selbst kurze Auftritte verboten waren, wurden zu regelmäßigen Gästen in Sendungen zu aktuellen Themen. Darüber hinaus werden nun regelmäßig Debatten organisiert, um wichtige Themen des lokalen öffentlichen Lebens anzusprechen. Oppositionspolitiker haben auch gute Verbindungen zu unabhängigen Medien in Armenien, wodurch deren Ansichten auch in Berg-Karabach vermittelt werden. Dennoch praktizieren viele Journalisten Selbstzensur, insbesondere bei Themen im Zusammenhang mit dem Friedensprozess. Die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit, lässt aber Einschränkungen im Namen der Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und anderer staatlicher Interessen zu. In der Verfassung ist die Armenische Apostolische Kirche als 'nationale Kirche’ des armenischen Volkes verankert. Die Religionsfreiheit anderer Gruppen wird in der Praxis eingeschränkt. Proteste sind in der Praxis relativ selten. Die Behörden blockieren Versammlungen und Demonstrationen, wenn sie diese als Bedrohung der öffentlichen Ordnung wahrnehmen (FH 4.3.2020).

Es gibt keine Erkenntnisse, wonach Personen bei Bekanntwerden einer (auch) aserbaidschanischen Herkunft mit staatlichen Übergriffen zu rechnen hätten. In Bergkarabach gelten den armenischen Regelungen vergleichbare Vorschriften zur kostenlosen medizinischen Behandlung. Im Sozialwesen gibt es 'behördlich’ Unterstützung. Die wirtschaftliche Situation in Bergkarabach ist nach allgemeiner Einschätzung besser als in Armenien (AA 27.4.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        Armenpress (2.4.2020): Paschinjan praises ’high-quality’Artsakh elections, https://armenpress.am/eng/news/1010917.html , Zugriff 23.4.2020

•        ChH - Chatham House (4.6.2020): South Caucasus States Set to Diverge Further due to COVID-19, https://www.chathamhouse.org/expert/comment/south-caucasus-states-set- diverge-further-due-covid-19 , Zugriff 5.6.2020

•        CW - Caucasus Watch (16.4.2020): Zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in Berg- karabach wurde trotz des erklärten Ausnahmezustands abgehalten, https://caucasuswa tch.de/news/2623.html , Zugriff 23.4.2020

•        EN - Eurasianet (1.4.2020): Karabakh elections to go to a second round, https://eurasian et.org/karabakh-elections-to-go-to-a-second-round , Zugriff 23.4.2020

•        FH-Freedom House (4.3.2020k): Freedom in the World 2020 - Nagorno Karabakh,

https://freedomhouse.org/country/nagorno-karabakh/freedom-world/2020 , Zugriff 5.6.2020

•        HBS - Henirich-Böll-Stiftung / Stefan Meister (2.4.2020): Covid-19 im Südkaukasus - Schnelle Reaktionen und autoritäre Reflexe, https://www.boell.de/de/2020/04/02/covid-1 9-im-suedkaukasus-schnelle-reaktionen-und-autoritaere-reflexe , Zugriff 23.4.2020

•        NKR - President of the Artsakh Republic (o.D.): NKR, General information, http://www.pr esident.nkr.am/en/nkr/generalInformation/, Zugriff 24.6.2020

•        PA - the PanArmenian (15.4.2020): Arayik Harutyunyan wins Artsakh vote, preliminary results show, http://www.panarmenian.net/eng/news/280152/, Zugriff 23.4.2020

•        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019- HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

1        Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter ist inArt. 162 und 164 der Verfassung verankert. Die Verfassung von 2015 hat die bisher weitreichenden Kompetenzen des Staatspräsidenten bei der Ernennung von Richtern reduziert. Das Vertrauen in das Justizsystem ist allerdings weiterhin schwach, da die Mehrzahl der Richter ihre Ämter unter der Vorgängerregierung erlangt hat. Die im Oktober 2019 verabschiedete Reform zur Justizstrategie zielt auf einen personellen Wechsel im Justizapparat ab. Verfahrensgrundrechte, wie rechtliches Gehör, faires Gerichtsverfahren und Rechtshilfe werden laut Verfassung gewährt. In Bezug auf den Zugang zur Justiz gab es in den letzten Jahren bereits Fortschritte, die Zahl der Pflichtverteidiger wurde erhöht und kostenlose Rechtshilfe kommt einer breiteren Bevölkerung zugute. Die Einflussnahme durch

Machthaber auf laufende Verfahren war in der Vergangenheit in politisch heiklen Fällen verbreitet. Die derzeitige Regierung unter Premierminister Paschinjan hat sich von solchen Praktiken distanziert (AA 27.4.2020).

Zwar muss von Gesetzes wegen Angeklagten ein Rechtsbeistand gewährt werden, doch führt der Mangel an Pflichtverteidigern außerhalb Jerewans dazu, dass dieses Recht den Betroffenen verwehrt wird (USDOS 11.3.2020). Richter stehen unter systemischem politischem Druck und Justizbehörden werden durch Korruption untergraben. Berichten zufolge fühlen sich die Richter unter Druck gesetzt, mit Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, um Angeklagte zu verurteilen. Der Anteil an Freisprüchen ist extrem niedrig (FH 4.3.2020). Allerdings entließen viele Richter nach der 'Samtenen Revolution’ im Frühjahr 2018 etliche Verdächtige in politisch sensiblen Fällen aus der Untersuchungshaft, was die Ansicht von Menschenrechtsgruppen bestätigte, dass vor den Ereignissen im April/Mai 2018 gerichtliche Entscheidungen politisch konnotiert waren, diese Verdächtigen in Haft zu halten, statt gegen Kaution freizulassen (USDOS 11.3.2020).

Trotz gegenteiliger Gesetzesbestimmungen zeigt die Gerichtsbarkeit keine umfassende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verwaltungsgerichte sind hingegen verglichen zu den anderen Gerichten unabhängiger. Sie leiden allerdings unter Personalmangel. Nach dem Regierungswechsel im Mai 2018 setzte sich das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Richter fort und einige Menschenrechtsanwälte erklärten, es gebe keine rechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz. NGOs berichten, dass Richter die Behauptungen der Angeklagten, ihre Aussage sei durch körperliche Übergriffe erzwungen worden, routinemäßig ignorieren. Die Korruption unter Richtern ist weiterhin ein Problem. Die am 10. Oktober 2019 verabschiedete Strategie für die Justiz- und Rechtsreform 2019-2023 zielt darauf ab, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz und das Justizsystem zu stärken und die Unabhängigkeit der Justiz zu fördern (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung und die Gesetze sehen das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess vor, aber die Justiz setzt dieses Recht nicht durch. Ebenso sieht das Gesetz die Unschuldsvermutung vor, Verdächtigen wird dieses Recht jedoch in der Regel nicht zugesprochen. Das Gesetz verlangt, dass die meisten Prozesse öffentlich sind, erlaubt aber Ausnahmen, auch im Interesse der 'Moral’, der nationalen Sicherheit und des 'Schutzes des Privatlebens der Teilnehmer’. Gemäß dem Gesetz können Angeklagte Zeugen konfrontieren, Beweise präsentieren und den Behördenakt vor einem Prozess einsehen. Allerdings haben Angeklagte und ihre Anwälte kaum Möglichkeiten, die Aussagen von Behördenzeugen oder der Polizei anzufechten. Die Gerichte neigen währenddessen dazu, routinemäßig Beweismaterial zur Strafverfolgung anzunehmen. Zusätzlich verbietet das Gesetz Polizeibeamten, in ihrer offiziellen Funktion auszusagen, es sei denn, sie waren Zeugen oder Opfer (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Febmar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Armenia, https://freedomh ouse.org/country/armenia/freedom-world/2020 , Zugriff 24.4.2020

•        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019- HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

2        Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die Polizei ist für die innere Sicherheit zuständig, während der Nationale Sicherheitsdienst (NSD oder eng. NSS) für die nationale Sicherheit, die Geheimdienstaktivitäten und die Grenzkontrolle zuständig ist (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 27.4.2020). Beide Behörden sind direkt der Regierung unterstellt. Ein eigenes Innenministerium gibt es nicht. Die Beamten des NSD dürfen auch Verhaftungen durchführen. Hin und wieder treten Kompetenzstreitigkeiten auf, z.B. wenn ein vom NSD verhafteter Verdächtiger ebenfalls von der Polizei gesucht wird (AA 27.4.2020).

Der Sonderermittlungsdienst führt Voruntersuchungen in Strafsachen durch, die sich auf Delikte von Beamten der Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Justizorgane beziehen und von Personen, die einen staatlichen Sonderdienst ausüben. Auf Verlangen kann der Generalstaatsanwalt solche Fälle an die Ermittler des Sonderermittlungsdienstes weiterleiten (SIS o.D., vgl. USDOS 11.3.2020, HRW 14.1.2020). Der NSD und die Polizeichefs berichten direkt an den Premierminister. NSD, SIS, die Polizei und das Untersuchungskomitee unterliegen demzufolge der Kontrolle der zivilen Behörden (USDOS 11.3.2020).

Obwohl das Gesetz von den Gesetzesvollzugsorganen die Erlangung eines Haftbefehls verlangt oder zumindest das Vorliegen eines begründeten Verdachts für die Festnahme, nahmen die Behörden gelegentlich Verdächtige fest oder sperrten diese ein, ohne dass ein Haftbefehl oder ein begründeter Verdacht vorlag. Nach 72 Stunden muss laut Gesetz die Freilassung oder ein richterlicher Haftbefehl erwirkt werden. Angeklagte haben ab dem Zeitpunkt der Verhaftung Anspruch auf Vertretung durch einen Anwalt bzw. Pflichtverteidiger. Die Polizei vermeidet es oft, betroffene Personen über ihre Rechte aufzuklären. Statt Personen formell zu ver

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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