TE Vfgh Beschluss 1995/6/29 G26/94

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Veröffentlicht am 29.06.1995
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
ASVG §343 Abs4

Leitsatz

Zurückweisung eines Individualantrags auf Aufhebung einer Bestimmung des ASVG über die aufschiebende Wirkung von Berufungen gekündigter Ärzte gegen die Auflösung des Vertragsverhältnisses mit den Krankenversicherungsträgern

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung:

1.1. Der Antragsteller, er ist praktischer Arzt in Wien, begehrt, "§343 Abs4 letzter Satz ASVG zur Gänze wegen Verfassungswidrigkeit, in eventu die Wortfolge 'ohne Zustimmung des Krankenversicherungsträgers' in §343 Abs4 letzter Satz ASVG, BGBl. 1955/189 in der geltenden Form, wegen Verfassungswidrigkeit" aufzuheben.

1.2. §343 Abs4 ASVG - der angefochtene Satz ist hervorgehoben -, BGBl. Nr. 189/1955 idF BGBl. Nr. 647/1982, lautet wie folgt:

"Aufnahme der Ärzte in den Vertrag

und Auflösung des Vertragsverhältnisses

§343. (1) ...

...

(4) Das Vertragsverhältnis kann unbeschadet der Bestimmungen der Abs2 und 3 von beiden Teilen unter Einhaltung einer einmonatigen Kündigungsfrist zum Ende eines Kalendervierteljahres gekündigt werden. Kündigt der Träger der Krankenversicherung, so hat er dies schriftlich zu begründen. Der gekündigte Arzt kann innerhalb von zwei Wochen die Kündigung bei der Landesschiedskommission mit Einspruch anfechten. Die Landesschiedskommission hat innerhalb von sechs Monaten nach Einlangen des Einspruches über diesen zu entscheiden. Der Einspruch hat bis zum Tag der Entscheidung der Landesschiedskommission aufschiebende Wirkung. Die Landesschiedskommission kann die Kündigung für unwirksam erklären, wenn sie für den Arzt eine soziale Härte bedeutet und nicht eine so beharrliche oder eine so schwerwiegende Verletzung des Vertrages oder der ärztlichen Berufspflichten im Zusammenhang mit dem Vertrag vorliegt, daß die Aufrechterhaltung des Vertragsverhältnisses für den Träger der Krankenversicherung nicht zumutbar ist. Eine vom gekündigten Arzt eingebrachte Berufung an die Bundesschiedskommission hat ohne Zustimmung des Krankenversicherungsträgers keine aufschiebende Wirkung."

2.1. Zur Legitimation wird vorgebracht, daß die Wiener Gebietskrankenkasse mit Schreiben vom 21. Juli 1993, zugestellt am 28. Juli 1993, den mit dem nunmehrigen Antragsteller abgeschlossenen Vorsorgeuntersuchungs-Vertrag per

30. September 1993 gekündigt habe. Gegen diese Kündigung sei am 10. August 1993 ein Einspruch gemäß §343 Abs4 ASVG an die Landesschiedskommission für Wien zur Post gegeben worden. Diese habe jedoch mit Bescheid vom 16. November 1993 den Einspruch wegen Verspätung abgewiesen. Am 26. November 1993 habe der antragstellende Arzt Berufung an die Bundesschiedskommission erhoben. Mit Schreiben der Landesschiedskommission für Wien vom 11. Jänner 1994 sei er davon verständigt worden, daß die Wiener Gebietskrankenkasse die Zustimmung für eine aufschiebende Wirkung der Berufung verweigert habe.

Die Erteilung bzw. Nichterteilung der Zustimmung zu einer aufschiebenden Wirkung stehe im ungebundenen Ermessen des Trägers der Krankenversicherung. Dagegen sei ein Rechtsmittel nicht vorgesehen. Der Antragsteller sei daher durch das angefochtene Gesetz unmittelbar und aktuell in seiner Rechtssphäre betroffen, ohne daß es hiefür einer behördlichen Entscheidung bedürfe bzw. eine solche erwirkt werden könne. Da ihm sohin kein anderer Weg zur Verfügung stehe, sich gegen die verfassungswidrige Norm zur Wehr zu setzen, sei die Antragslegitimation gegeben.

2.2. Im übrigen werden im Detail Bedenken gegen die angefochtene Bestimmung dargelegt.

3. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet und begehrt, den Antrag mangels Legitimation zurückzuweisen, in eventu auszusprechen, daß §343 Abs4 letzter Satz ASVG nicht verfassungswidrig ist.

Zur Zulässigkeit führt die Bundesregierung aus:

"1. Der Verfassungsgerichtshof hat im Zusammenhang mit nach Art139 und 140 B-VG gestellten Individualanträgen mehrfach ausgeführt, daß dann, wenn ein gerichtliches oder verwaltungsbehördliches Verfahren bereits anhängig ist, das dem von einem Gesetz oder einer Verordnung Betroffenen Gelegenheit zur Anregung einer amtswegigen Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof bzw. zur Anregung einer amtswegigen Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof bietet, nur bei Vorliegen besonderer (außergewöhnlicher) Umstände der Partei das Recht zur Einbringung eines Verordnungs- oder Gesetzesprüfungsantrags zusteht; andernfalls gelangte man zu einer Doppelgleisigkeit des Rechtsschutzes, die mit den Grundsätzen des Individualantrages als eines bloß subsidiären Rechtsbehelfes nicht im Einklang stünde (vgl. unter vielen VfSlg. 9583/1982 u.a.)

Im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist - wie auch im zugrundeliegenden Individualantrag ausgeführt wird - bereits ein Verwaltungsverfahren anhängig: Der Antragsteller hat gegen die Kündigung seines Vorsorgeuntersuchungs-Vertrages Einspruch an die Landesschiedskommission erhoben, der mit Bescheid abgewiesen wurde. Gegen diesen Bescheid hat der Beschwerdeführer Berufung an die Bundesschiedskommission erhoben und offenbar die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt. Der Antragsteller erhielt daraufhin das Schreiben der Landesschiedskommission für Wien vom 11. Jänner 1994, in welchem mitgeteilt wird, daß seiner Berufung 'keine aufschiebende Wirkung zukommt, da die Wiener Gebietskrankenkasse die hiefür erforderliche Zustimmung verweigert hat.'

Dieses behördliche Schreiben hätte der Antragsteller u.a. auch im Hinblick darauf, daß im AVG die Ausschließung der aufschiebenden Wirkung einer Berufung in Form eines im Instanzenzug anfechtbaren verfahrensrechtlichen Bescheides ergeht (vgl. Hauer - Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 4. Auflage, 1990, S. 500; Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts,

4. Auflage, 1987, Rz 526; Mannlicher - Ouell, Das Verwaltungsverfahren, 1. Halbband, 8. Auflage, 1975, S. 297), als Bescheid deuten und mit Berufung bekämpfen können.

Im ASVG ist die selbständige Bekämpfung eines behördlichen Ausspruches über die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels nicht ausgeschlossen. Ein abgesonderter Bescheid über den Ausschluß der aufschiebenden Wirkung unterliegt daher nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes demselben Instanzenzug, wie der Ausspruch über die Hauptsache selbst (VwSlgNF 197 A/1947, 8848 A/1975; vgl. auch VwSlg. 4346 A/1957, 8809 A/1975; Hauer - Leukauf, a.a.O. S. 501).

Die über diese Berufung ergangene Entscheidung hätte der Antragsteller im Rahmen einer Bescheidbeschwerde nach Art144 Abs1 B-VG anfechten und hiebei die amtswegige Prüfung der angefochtenen Rechtsvorschrift anregen können. Auf diese Weise hätte der Antragsteller die Frage der Verfassungsmäßigkeit der von ihm bekämpften Gesetzesstelle im Rahmen einer Bescheidbeschwerde gemäß Art144 Abs1 B-VG selbst dann aufwerfen können, wenn seine Berufung gegen die Erledigung der Landesschiedskommission für Wien vom 11. Jänner 1994 mangels Bescheidcharakters dieser Erledigung zurückgewiesen worden wäre. Denn auch eine derartige zurückweisende Entscheidung hätte gemäß Art144 Abs1 B-VG vor dem Verfassungsgerichtshof bekämpft werden können.

Da somit ein verwaltungsbehördliches Verfahren, das dem Antragsteller im gegenständlichen Verfahren Gelegenheit zur Anregung einer amtswegigen Prüfung der angefochtenen Norm durch den Verfassungsgerichtshof bot, zur Verfügung stand, hätten besondere, außergewöhnliche Umstände vorliegen müssen, um der Partei des anhängigen Verwaltungsverfahrens trotz der dort offenstehenden Möglichkeit das Recht auf Einbringung eines Gesetzesprüfungsantrages einzuräumen. Da derartige Umstände aus der Sicht der Bundesregierung im vorliegenden Fall nicht gegeben sind, ist der gegenständliche Gesetzesprüfungsantrag nach Auffassung der Bundesregierung zurückzuweisen.

2. Auch wenn man die Zustimmung des Krankenversicherungsträgers gemäß §343 Abs4 ASVG als einen privatrechtlichen Akt deutet, der unmittelbar die aufschiebende Wirkung der Berufung des gekündigten Arztes zur Folge hat ohne daß eine behördliche Entscheidung der Landesschiedskommission notwendig wäre, stünde dem Antragsteller die Möglichkeit offen, auf andere Weise, als durch den vorliegenden Individualantrag, die Frage der Verfassungsmäßigkeit der bekämpften Gesetzesstelle aufzuwerfen. In diesem Falle hätte er nämlich die Möglichkeit, eine gerichtliche Klage gegen den Krankenversicherungsträger auf Erteilung der in §343 Abs4 ASVG vorgesehenen Zustimmung zu erheben und im Falle der Abweisung oder Zurückweisung seiner Klage vor dem Rechtsmittelgericht die Stellung eines Antrages gemäß Art89 Abs1 B-VG anzuregen. Die Einbringung einer derartigen Klage wäre im Lichte der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes wie auch des Verfassungsgerichtshofes zur verfassungsrechtlichen Verpflichtung aller Einrichtungen der öffentlichen Hand (hier: des Krankenversicherungsträgers) zu einer objektiven und sachlichen Ausübung ihrer privatrechtlichen Befugnisse nicht von vornherein aussichtslos gewesen (vgl. die Urteile des OGH SZ 44/138 und vom 18.12.1992, 6 Ob 563/92, ÖZW 1993, 55ff, mit Kommentar von Holoubek).

Auch aus diesem Grund muß der vorliegende Individualantrag daher als unzulässig bewertet werden, da der Antragsteller die Nicht-Erteilung der Zustimmung des Krankenversicherungsträgers, grundsätzlich - und nicht ohne Aussicht auf Erfolg - auf gerichtlichem Wege (mit rückwirkendem Effekt) erzwingen kann."

4. Der Antrag ist unzulässig.

4.1. Voraussetzung der Antragslegitimation ist einerseits, daß der Antragsteller behauptet, unmittelbar durch das angefochtene Gesetz - im Hinblick auf dessen Verfassungswidrigkeit - in seinen Rechten verletzt worden zu sein, dann aber auch, daß das Gesetz für den Antragsteller tatsächlich, und zwar ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides wirksam geworden ist. Grundlegende Voraussetzung der Antragslegitimation ist, daß das Gesetz in die Rechtssphäre des Antragstellers nachteilig eingreift und diese - im Falle seiner Verfassungswidrigkeit - verletzt.

Nicht jedem Normadressaten aber kommt die Anfechtungsbefugnis zu. Es ist darüber hinaus erforderlich, daß das Gesetz selbst tatsächlich in die Rechtssphäre des Antragstellers unmittelbar eingreift. Ein derartiger Eingriff ist jedenfalls nur dann anzunehmen, wenn dieser nach Art und Ausmaß durch das Gesetz selbst eindeutig bestimmt ist, wenn er die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt und wenn dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des - behaupteter Weise - rechtswidrigen Eingriffes zu Verfügung steht (VfSlg. 10511/1985, 11726/1988).

4.2. Der Antragsteller hält seinen Antrag deshalb für zulässig, weil gegen die Nichterteilung der Zustimmung des Trägers der Krankenversicherung zur aufschiebenden Wirkung ein Rechtsmittel nicht vorgesehen sei. Für die unmittelbare Betroffenheit des Antragstellers in seiner Rechtssphäre durch das angefochtene Gesetz bedürfe es weder einer behördlichen Entscheidung noch könne eine solche erwirkt werden.

4.3. Die Bundesregierung hält diesem Vorbringen entgegen, daß der Antragsteller die Mitteilung der Landesschiedskommission, daß der Berufung deshalb keine aufschiebende Wirkung zukomme, weil die Wiener Gebietskrankenkasse die hiefür erforderliche Zustimmung verweigert habe, als Bescheid hätte deuten und mit Berufung bekämpfen können. Nach Durchschreiten des Instanzenzuges wäre es dann möglich gewesen, im Rahmen einer Bescheidbeschwerde nach Art144 B-VG die amtswegige Prüfung der nunmehr angefochtenen Rechtsvorschrift im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof anzuregen.

4.4. Entgegen der Auffassung der Bundesregierung handelt es sich bei dem dem Antragsteller zugekommenen Schreiben vom 11. Jänner 1994, mit welchem ihn die Landesschiedskommission für Wien davon verständigt hat, daß die Wiener Gebietskrankenkasse die Zustimmung für eine aufschiebende Wirkung der Berufung verweigert habe, nicht um einen bekämpfbaren Bescheid, mit welchem die aufschiebende Wirkung ausgeschlossen wurde, sondern um eine bloße Mitteilung darüber, daß eine bestimmte gesetzliche Rechtsfolge, nämlich die aufschiebende Wirkung der eingebrachten Berufung, mangels Erfüllung des Tatbestandselementes der Zustimmung des Krankenversicherungsträgers nicht eingetreten ist.

Dem Antragsteller steht es aber unbeschadet der Tatsache, daß die Zuerkennung einer aufschiebenden Wirkung durch die Bundesschiedskommission im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen ist, offen, an die Bundesschiedskommission das Begehren, seiner Berufung gegen den Bescheid der Landesschiedskommission für Wien aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, zu richten und einen Bescheid zu erwirken (vgl. VfSlg. 11196/1986, S. 900). Im Rahmen einer auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde hätte der Antragsteller dann die Möglichkeit, beim Verfassungsgerichtshof die amtswegige Einleitung eines Normenprüfungsverfahrens anzuregen.

Der Individualantrag war daher schon aus diesem Grund mangels Legitimation gemäß §19 Abs3 Z2 lite VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen.

Schlagworte

VfGH / Individualantrag, Sozialversicherung, Ärzte, Wirkung aufschiebende, Bescheidbegriff

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:G26.1994

Dokumentnummer

JFT_10049371_94G00026_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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