TE Vwgh Beschluss 2021/1/20 Ra 2020/19/0396

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Veröffentlicht am 20.01.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §58
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z3
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §29 Abs1
VwGVG 2014 §29 Abs2
VwGVG 2014 §29 Abs4

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des M H in W, vertreten durch Mag.a Nadja Lindenthal, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Siebensterngasse 23/3, gegen das am 17. Juli 2020 mündlich verkündete und mit 25. September 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W172 2214705-1/23E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 21. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er zusammengefasst damit begründete, dass sein Vater vor dessen Ausreise aus Afghanistan von den Taliban bedroht worden sei und er selbst, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, zu den Taliban oder zum Militär gehen müsste. Zudem sei der Revisionswerber mittlerweile „verwestlicht“.

2        Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17. Januar 2019 wurde der Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, dem Revisionswerber kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

3        Mit dem nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4        Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dem asylrelevanten Vorbringen des Revisionswerbers könne nicht gefolgt werden. Sowohl die Länderfeststellungen als auch der Umstand, dass noch erwachsene, männliche Familienangehörige des Revisionswerbers in dessen Heimatregion lebten, sprächen gegen eine Verfolgungsgefahr durch die Taliban. Im Falle des Revisionswerbers sei keine westliche Lebenseinstellung gegeben, welche wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden sei. Die Rückkehr des Revisionswerbers in dessen Herkunftsprovinz Nangarhar sei aufgrund der dort herrschenden schlechten Sicherheitslage nicht möglich, es sei ihm jedoch eine Ansiedlung in Herat und Mazar-e Sharif möglich und zumutbar. Die Versorgungs- und Sicherheitslage sei nicht derart, dass der Revisionswerber als junger, gesunder, arbeitsfähiger und volljähriger Mann mit Arbeitserfahrung als Händler sowie mit Unterstützung durch seine Familie auf Dauer in eine aussichtslose Situation geraten werde. Der Revisionswerber gehöre keiner Covid-19-Risikogruppe an.

5        Dieses Erkenntnis wurde am 17. Juli 2020 nach Schluss der mündlichen Verhandlung verkündet und am 25. September 2020 schriftlich ausgefertigt. Die schriftliche Ausfertigung wurde dem Revisionswerber am 5. Oktober 2020 rechtswirksam zugestellt.

6        Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst vertreten durch die hier einschreitende Rechtsvertreterin am 28. August 2020 Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung mit Beschluss vom 7. Oktober 2020, E 2881/2020-5, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Dieser Beschluss wurde der Rechtsvertreterin am 22. Oktober 2020 zugestellt.

7        Mit Eingabe vom 13. November 2020 beantragte der Revisionswerber, vor dem Verwaltungsgerichtshof zu diesem Zeitpunkt unvertreten, die Bewilligung der Verfahrenshilfe zur Einbringung einer Revision. Dieser Antrag wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 2. Dezember 2020 abgewiesen.

8        Am 3. Dezember 2020 erhob der Revisionswerber die nunmehr vorliegende Revision.

9        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

10       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

11       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

12       Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision zusammengefasst vor, der mündlich verkündeten Entscheidung mangle es an einer Begründung der Zumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative. Auch sei das BVwG im Rahmen der schriftlichen Ausfertigung bei der Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht auf die tatsächliche, aktuelle Situation in Afghanistan in sozioökonomischer sowie auch in medizinischer Hinsicht in Bezug auf die Covid-19-Pandemie eingegangen. Um den Kriterien der EASO-Richtlinien zu genügen, hätte sich das BVwG mit der konkreten Situation in Herat und Mazar-e Sharif auseinandersetzen und eine Einzelfallbeurteilung der konkreten Rückkehrmöglichkeiten des Revisionswerbers vornehmen müssen. Hätte das BVwG die notwendigen Länderfeststellungen getroffen, vor allem im Hinblick auf die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, so hätte es zu dem Schluss kommen müssen, dass dem Revisionswerber aufgrund der Lage in Afghanistan eine Rückkehr nicht zumutbar sei, vor allem auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er seit seinem dritten Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan gewesen sei. Auch sei das BVwG unzutreffend von der Unterstützungsmöglichkeit durch die Familie des Revisionswerbers ausgegangen und habe deren eigene Situation dabei außer Acht gelassen.

13       Die Nichteinhaltung der Bestimmungen über die mündliche Verkündung nach § 29 Abs. 2 VwGVG („mit den wesentlichen Entscheidungsgründen“), über die Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nach den §§ 58 und 60 AVG iVm § 17 VwGVG, und/oder über die Verpflichtung zur Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung nach § 29 Abs. 4 VwGVG stellt eine Verletzung von Verfahrensvorschriften dar. Für eine Aufhebung eines Erkenntnisses oder Beschlusses wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften ist es nach § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG weiterhin erforderlich, dass das VwG bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Erkenntnis oder Beschluss hätte kommen können, es muss also die „Relevanz“ des Verfahrensfehlers vorliegen (vgl. VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558 bis 0560).

14       Die Revision übersieht, dass es im Hinblick auf die nunmehr vorliegende Begründung in der schriftlichen Ausfertigung, die nicht in Widerspruch zu den mündlich verkündeten Entscheidungsgründen steht, der vorgebrachten Mangelhaftigkeit der mündlichen Begründung an einer Relevanz für den Verfahrensausgang fehlt, weil der Revisionswerber nicht mehr an der Verfolgung seiner Rechte und der Verwaltungsgerichtshof nicht an der Überprüfung des Erkenntnisses gehindert ist (vgl. dazu erneut VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558 bis 0560).

15       Soweit die Revision Ermittlungs- und Feststellungsmängel im Zusammenhang mit der schriftlichen Ausfertigung der angefochtenen Entscheidung vorbringt, macht sie Verfahrensmängel geltend. Werden Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dassauf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben (vgl. VwGH 29.9.2020, Ra 2020/19/0187, mwN). Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn die Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 21.10.2020, Ra 2020/19/0288, mwN).

Eine solche Relevanzdarlegung ist der Revision jedoch nicht zu entnehmen. Bei der Prüfung, ob dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht, berücksichtigte das BVwG Länderberichte, die EASO-Country Guidance Notes zu Afghanistan aus 2018 sowie 2019 wie auch die UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018. Dabei ging das BVwG davon aus, dass der Revisionswerber ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann sei, der zwar lediglich über eine geringfügige Schulausbildung, jedoch über eine mehrjährige Arbeitserfahrung als Händler verfüge und nach den afghanischen Gepflogenheiten sozialisiert worden sei sowie Paschtu und Dari spreche, in den Städten Herat und Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative vorfinde, deren Inanspruchnahme ihm auch ohne unmittelbar in diesen Städten bestehende soziale bzw. familiäre Anknüpfungspunkte zumutbar sei (vgl. zum Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; 26.3.2020, Ra 2019/14/0079, jeweils mwN). Dass das BVwG damit von den in der zitierten Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien abgewichen wäre, legt die Revision nicht dar.

16       Auf Grundlage dieser Feststellungen vermag die Revision, auch insoweit sie sich gegen die Annahme der finanziellen Unterstützung des Revisionswerbers durch dessen Familie wendet, nicht aufzuzeigen, dass die Beurteilung des BVwG unvertretbar wäre. Es entspricht nämlich der auf vergleichbarer Sachverhaltsgrundlage ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass es einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrsche, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei und die Möglichkeit habe, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden könne, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren worden sei, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan habe (vgl. erneut VwGH 21.10.2020, Ra 2020/19/0288, mwN).

17       Das BVwG traf im Rahmen dieser Prüfung auch Feststellungen zur Situation in Afghanistan in Bezug auf Covid-19 mit Stand vom Juni 2020, zu den registrierten Krankheits- sowie Todesfällen, zur medizinischen Versorgungslage, so im Speziellen in Herat, zu den wirtschaftlichen Implikationen sowie den gesellschaftlichen und staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Auswirkungen und auch zur spezifischen Situation für Rückkehrer. Weiters führte es aus, dass der Revisionswerber keiner Covid-19-Risikogruppe angehöre und gesund sei. Die Revision tritt diesen Feststellungen mit dem allgemeinen Hinweis, dass sich die Lage in Afghanistan aufgrund der Covid-19-Pandemie massiv verschlechtert habe, nicht substantiiert entgegen.

18       Es mag - abgesehen davon, dass ein Ermittlungsmangel nicht erkennbar ist - zutreffen, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan aufgrund der Maßnahmen gegen die Verbreitung von Covid-19 verschlechtert haben. Um von der realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es aber nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 7.5.2020, Ra 2020/19/0081, mwN).

19       Die Revision vermag mit den pauschalen, auf die allgemeine Situation in Afghanistan bzw. die Städte Herat und Mazar-e Sharif bezogenen Ausführungen nicht darzutun, dass das BVwG bei seiner Beurteilung von diesen Leitlinien abgewichen wäre. Zum Einen zeigt sie nicht fallbezogen und konkret den Revisionswerber betreffend auf, welche individuellen Feststellungen zur Person des Revisionswerbers mit Blick auf die „Covid-19 Situation“ zu treffen gewesen wären. Zum Anderen legt die Revision mit ihrem Hinweis auf das behauptete Fehlen von Feststellungen zu den aktuellen, sozioökonomischen sowie medizinischen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie weder dar, dass in den Städten Herat und Mazar-e Sharif solche exzeptionellen Umstände vorlägen, die eine Verletzung der nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte des Revisionswerbers darstellten, noch dass dem - ungeachtet der schwierigen wirtschaftlichen Lage - gesunden und arbeitsfähigen Revisionswerber eine Ansiedlung unter Berücksichtigung der aktuellen Lage - auch in Bezug auf die Sicherheitslage - dort nicht zumutbar wäre (vgl. erneut 21.10.2020, Ra 2020/19/0288, mwN).

20       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 20. Jänner 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190396.L00

Im RIS seit

01.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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