TE Vwgh Erkenntnis 2021/1/29 Ra 2020/01/0235

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Veröffentlicht am 29.01.2021
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Index

E3R E19104000
001 Verwaltungsrecht allgemein
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §5 Abs1
BFA-VG 2014 §21 Abs3
BFA-VG 2014 §21 Abs6a
VwGVG 2014 §28 Abs3
VwGVG 2014 §29 Abs1
VwRallg
32013R0604 Dublin-III

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kieslich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Mai 2020, Zlen. 1. W175 2226966-1/12E, 2. W175 2226969-1/8E, 3. W175 2226972-1/7E, 4. W175 2226968-1/8E, 5. W175 2226971-1/7E und 6. W175 2226970-1/7E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Parteien: 1. A K A, 2. F A, 3. S A, 4. A S A, 5. M E A, und 6. M A, alle in B), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Die mitbeteiligten Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans. Der Erst- und die Zweitmitbeteiligte sind verheiratet und Eltern der übrigen mitbeteiligten Parteien und stellten (in Griechenland) am 27. Juni 2018 (Erst- bis Fünftmitbeteiligte) und 20. November 2018 (Sechstmitbeteiligte) Anträge auf internationalen Schutz. Am 16. April 2019 wurde den mitbeteiligten Parteien in Griechenland der Status der subsidiär Schutzberechtigten erteilt.

2        Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 16. Dezember 2019 wurden die Anträge der Mitbeteiligten auf internationalen Schutz gemäß § 4a AsylG 2005 zurückgewiesen, ausgesprochen, dass sich die Mitbeteiligten nach Griechenland zurückzubegeben hätten (Spruchpunkte I.), kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 gewährt (Spruchpunkte II.), eine Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Griechenland zulässig sei (Spruchpunkte III.).

3        Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der dagegen erhobenen „gemeinsamen“ Beschwerde der Mitbeteiligten statt, behob die bekämpften Bescheide (Spruchpunkte A) und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkte B).

4        Begründend führte das BVwG aus, dass sich die Ansicht des BFA, wonach die medizinische Versorgung in Griechenland für anerkannte Flüchtlinge in der Praxis gewährleistet sei, nicht aus den Länderfeststellungen ergebe. Es gehe aus den Ausführungen des Bescheides nicht hervor, in welchem Mindestumfang und unter welchen Voraussetzungen die medizinische Versorgung der Mitbeteiligten sichergestellt sei. Es sei eine bloße Vermutung des BFA, dass bei einer Überstellung der Mitbeteiligten nach Griechenland eine Unterbringung und medizinische Versorgung sichergestellt sei. Das BFA habe darüber hinaus keine Feststellungen zur Covid-19-Pandemie und deren Auswirkungen auf die Situation in Griechenland getroffen. Angesichts der gegenwärtigen Lage seien derartige Feststellungen aber unumgänglich, zumal der Erstmitbeteiligte Diabetiker sei und an Bluthochdruck leide. Der festgestellte Sachverhalt sei somit im Sinne des § 21 Abs. 3 BFA-VG mangelhaft.

5        Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision. Sie bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, dass das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 21 Abs. 3 BFA-VG abgewichen sei. Das BVwG habe weder darlegt, welche Ermittlungsmängel dem BFA unterlaufen wären, noch weshalb eine mündliche Verhandlung im Sinne des § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG unvermeidlich erscheine. Darüber hinaus stehe dem BVwG die Staatendokumentation des BFA zur Verfügung, weshalb das BVwG die ergänzenden Länderinformationen zur Versorgungslage auch selbst einholen und - nach Zustellung an die Mitbeteiligten - eine Sachentscheidung hätte treffen können.

6        Zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung sei in Europa außerdem im Zusammenhang mit Covid-19 noch nicht von einer Pandemie auszugehen gewesen, weshalb auch keine entsprechenden Feststellungen getroffen werden hätten können.

7        Schließlich fehle es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob Sachverhaltsänderungen, die erst nach Bescheiderlassung eingetreten seien, eine Aufhebung nach § 21 Abs. 3 BFA-VG rechtfertigen würden.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat nach Durchführung des Vorverfahrens - die Mitbeteiligten erstatteten keine Revisionsbeantwortung - erwogen:

9        Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

10       Gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG ist der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

11       Bei § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG handelt es sich um eine von § 28 Abs. 3 erster und zweiter Satz VwGVG abweichende Regelung, die auf die Besonderheiten des asylrechtlichen Zulassungsverfahrens Bedacht nimmt, indem die Möglichkeit, aber auch die Verpflichtung zur Fällung einer zurückverweisenden Entscheidung im Fall einer Beschwerde gegen einen im asylrechtlichen Zulassungsverfahren erlassenen Bescheid allein an die in § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG genannten Voraussetzungen geknüpft ist. Mit einer solchen Entscheidung geht die Rechtsfolge der Zulassung des Asylverfahrens einher (vgl. VwGH 6.8.2020, Ra 2020/01/0142, mwN). Diese Sonderbestimmung gelangt für sämtliche Beschwerden im Zulassungsverfahren zur Anwendung (vgl. VwGH 14.1.2020, Ra 2019/18/0311, mwN).

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgeführt, dass auf die Zielsetzung des Gesetzgebers, das Verfahren über eine im Zulassungsverfahren - im Besonderen gegen eine zurückweisende Entscheidung - erhobene Beschwerde rasch einer Erledigung zuzuführen, Bedacht zu nehmen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, ob mit der in der gebotenen Eile zu treffenden Entscheidung über die Beschwerde auch das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz insgesamt beendet werden kann (vgl. VwGH 30.6.2016, Ra 2016/19/0072, Rn. 44).

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat weiters erkannt, dass immer dann, wenn der Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes durch das BFA Ermittlungsmängel anhaften, die nicht vom BVwG in der für die Erledigung gebotenen Eile beseitigt werden können, der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattzugeben ist. Ist hingegen davon auszugehen, dass das BVwG die Ermittlungsmängel rasch und ohne größeren Aufwand selbst beseitigen kann, hat es von einer Beschwerdestattgebung nach § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG Abstand zu nehmen und die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens (samt der Feststellung allfällig fehlenden Sachverhaltes) selbst vorzunehmen. Dabei hat es sich bei der Beurteilung gemäß § 21 Abs. 6a BFA-VG im Rahmen der Ermessensübung, ob eine Verhandlung durchzuführen ist, auch davon leiten zu lassen, ob die vorhandenen Ermittlungsmängel zweckmäßigerweise durch im Rahmen der Verhandlung vorzunehmende Beweisaufnahmen beseitigt werden können (etwa wenn es gilt, allein die Glaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers einer näheren Beurteilung zu unterwerfen; vgl. etwa VwGH 19.10.2017, Ra 2017/20/0144, sowie 14.1.2020, Ra 2019/18/0311, jeweils mwN).

14       Einer behebenden Entscheidung im Sinn des § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG muss damit auch - unter Überbindung der Rechtsansicht - entnommen werden können, welche Mängel bei der Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde unterlaufen sind. Zudem hat das Verwaltungsgericht in seiner Begründung offenzulegen, warum es nicht in der Lage ist, die Ermittlungsmängel in der für die Erledigung des - im Rahmen des asylrechtlichen Zulassungsverfahrens abzuwickelnden Beschwerdeverfahrens - gebotenen Eile zu beseitigen (vgl. erneut VwGH 6.8.2020, Ra 2020/01/0142, mwN).

15       Eine Auseinandersetzung mit dem zuletzt genannten Gesichtspunkt ist dem angefochtenen Beschluss nicht zu entnehmen. Zu Recht verweist das BFA auch darauf, dass dem BVwG gemäß § 5 Abs. 3 BFA-G die Möglichkeit offen steht, eine Anfrage an die Staatendokumentation zur aktuellen Lage in Griechenland zu richten. Dabei kann das BVwG auch darum ersuchen, Informationen zu bestehenden Unterbringungsmöglichkeiten, zur medizinischen Versorgung der Mitbeteiligten sowie zu den bei einer Überstellung von den griechischen Behörden getroffenen individuellen Maßnahmen zu sammeln und zu übermitteln. Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb das BVwG nicht in der Lage sein sollte, die Ermittlungsmängel selbst in der gebotenen Eile zu beseitigen.

16       Die angefochtene Entscheidung war daher wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 29. Jänner 2021

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020010235.L00

Im RIS seit

16.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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