Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei D***** R*****, vertreten durch Dr. Christoph Orgler, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei IEF-Service GmbH, *****, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 2.276 EUR sA (Insolvenzentgelt), über die Revision der beklagen Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. August 2020, GZ 7 Rs 35/20a-13, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 18. Oktober 2019, GZ 24 Cgs 119/19h-9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin enthalten 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Die Klägerin war bis zum 17. 1. 2017 im Einzelunternehmen E***** M***** angestellt. Da dieses in eine „wirtschaftliche Schieflage“ geriet und eine weitere Bezahlung des Lohns nicht mehr möglich war, wurde das Dienstverhältnis einvernehmlich aufgelöst. In der Folge war die Klägerin vom 20. 2. bis 30. 4. 2017 zunächst geringfügig, anschließend bis zur einvernehmlichen Auflösung am 8. 12. 2017 in Vollzeit bei der M***** GmbH beschäftigt, deren Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Sohn von E***** M***** war. Die Klägerin wurde weder vom Vater noch vom Sohn darüber aufgeklärt, dass es im Jänner 2017 zu einem Betriebsübergang vom Unternehmen E***** M***** auf die M***** GmbH kam. Der Sohn teilte ihr nach Begründung des Arbeitsverhältnisses vielmehr mit, dass es sich bei der GmbH um ein neues Unternehmen handle, kein Zusammenhang mit der Einzelfirma seines Vaters bestehe und die GmbH deshalb nicht die Forderungen gegen seinen Vater zu bezahlen habe.
[2] Über Mahnklage der Klägerin erging am 15. 2. 2017 gegen E***** M***** ein Zahlungsbefehl. Die Klägerin begehrte von ihm die Bezahlung eines Betrags von 3.078,34 EUR brutto sA für sämtliche aushaftenden Ansprüche, darunter auch eine Urlaubsersatzleistung für 14,8 Arbeitstage. Mit Beschluss vom 21. 2. 2017 wurde über das Vermögen von E***** M***** das Schuldenregulierungsverfahren eröffnet. In diesem meldete die Klägerin ihre gesamten Forderungen aus dem Dienstverhältnis zu E***** M***** an, die vom Masseverwalter zur Gänze anerkannt wurden. Gleichzeitig erhob die Klägerin einen Antrag auf Insolvenzentgelt, den sie aber zurückzog, nachdem in einem von einem anderen Arbeitnehmer gegen die M***** GmbH geführten arbeitsgerichtlichen Verfahren mit in Rechtskraft erwachsenem Urteil vom 3. 5. 2018 geklärt worden war, dass es im Jänner 2017 zu einem Betriebsübergang vom Unternehmen E***** M***** auf die GmbH gekommen war. Im Zeitpunkt dieser Klärung war das Insolvenzverfahren über das Vermögen des E***** M***** bereits seit mehreren Monaten – ein Zahlungsplan war rechtskräftig bestätigt worden – beendet.
[3] Mit Beschluss vom 23. 10. 2018 wurde über das Vermögen der M***** GmbH das Konkursverfahren eröffnet, in dem die Klägerin ihre Ansprüche aus dem Dienstverhältnis zu E***** M***** anmeldete.
[4] Mit Bescheid vom 29. 3. 2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung von Insolvenzentgelt im Betrag von 2.608 EUR ab.
[5] Die Klägerin begehrt von der Beklagten nach Klagseinschränkungen (mit denen sie Zahlungen aus dem Zahlungsplan berücksichtigte) 2.276 EUR netto an Insolvenzentgelt. Wegen Verschleierung des Betriebsübergangs und Verletzung der Informationspflichten gemäß § 3a AVRAG könne ihre Forderungsanmeldung im Insolvenzverfahren über das Vermögen von E***** M***** nicht iSd § 863 ABGB dahingehend verstanden werden, dass sie auf das Fortbestehen des Dienstverhältnisses mit der M***** GmbH verzicht und sich für die Wirksamkeit der – an sich wegen Umgehung des § 3 AVRAG unwirksamen – Beendigung ihres Dienstverhältnisses entschieden und das ihr von der Rechtsprechung eingeräumte entsprechende Wahlrecht ausgeübt habe.
[6] Die Beklagte wendete ein, dass die Klägerin durch ihre Forderungsanmeldung das vorerwähnte Wahlrecht sehr wohl ausgeübt habe, weshalb mit der nunmehr insolventen M***** GmbH ein neues Dienstverhältnis vorliege, in dessen Rahmen sie nicht Ansprüche aus dem – durch Ausübung ihres Wahlrechts – wirksam beendeten alten Dienstverhältnis zu E***** M***** begehren könne.
[7] Das Erstgericht wies ausgehend von dem von ihm festgestellten, im Wesentlichen eingangs wiedergegebenen Sachverhalt die Klage ab. Es vertrat in rechtlicher Hinsicht den Standpunkt, dass einem Arbeitnehmer, der entgegen dem aus § 3 AVRAG hervorgehenden Kündigungsverbot im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang gekündigt worden sei, ein Wahlrecht dahingehend zustehe, entweder auf die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem Übernehmer des Betriebs zu bestehen oder die Beendigung zu akzeptieren. Mit der Entscheidung 8 ObA 10/16b habe der Oberste Gerichtshof klargestellt, dass durch die Geltendmachung von Ansprüchen im Insolvenzverfahren des Betriebsveräußerers der betroffene Arbeitnehmer sein Wahlrecht dergestalt ausübe, dass er die an sich unwirksame Kündigung gegen sich gelten lassen wolle. Im vorliegenden Fall habe die Klägerin keinen Anspruch auf Insolvenzentgelt, da sie ihre Forderungen im Schuldenregulierungsverfahren des Übergebers, E***** M*****, angemeldet und dadurch ihr Wahlrecht ausgeübt habe.
[8] Das Berufungsgericht änderte das Urteil im klagsstattgebenden Sinne ab. Der Entscheidung 8 ObA 10/16b sei gerade nicht zu entnehmen, dass die Geltendmachung von Beendigungsansprüchen aus einer infolge Betriebsübergangs unwirksamen Auflösung des Dienstverhältnisses zum Veräußerer generell zum Verlust von Ansprüchen aus diesem Dienstverhältnis gegenüber dem Erwerber bzw – im Falle dessen Insolvenz – gegenüber der Beklagten führe. So habe der Oberste Gerichtshof ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass nur nach den besonderen Umständen des Einzelfalls beurteilt werden könne, ob ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Erklärung als Ausübung des Wahlrechts anzusehen sei. Anders als die Klägerin im Verfahren 8 ObA 10/16b habe sich die Klägerin hier auf die ohne Zweifel vorliegende „unklare Situation“ ausdrücklich berufen. Im vorliegenden Fall seien im Zuge des Betriebsübergangs nicht nur die in § 3a AVRAG normierten Informationspflichten verletzt worden, vielmehr sei versucht worden, den Betriebsübergang zu verschleiern. Würden im Zuge von unter unklaren Bedingungen durchgeführten Betriebsübergängen die in § 3a AVRAG Veräußerer und Erwerber auferlegten Informationspflichten verletzt, könne sich der Erwerber bzw im Falle der Insolvenz die hier Beklagte nicht mit Erfolg darauf berufen, dass Arbeitnehmer durch Geltendmachung von Beendigungsansprüchen gegenüber dem Veräußerer ihr Wahlrecht ausgeübt hätten. Tatsächlich sei der Klägerin mangels ausreichender Information die Ausübung ihres Wahlrechts gar nicht möglich gewesen. Wenn sie daher zur Vermeidung von Rechtsnachteilen Beendigungsansprüche gegenüber dem Veräußerer geltend gemacht habe, stehe dies ihrem Recht, nunmehr Ansprüche auch aus der Zeit vor dem Betriebsübergang gegenüber dem Erwerber bzw nun gegenüber der Beklagten geltend zu machen, nicht entgegen.
[9] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil eine Klarstellung durch den Obersten Gerichtshof in Anbetracht des von der Beklagten hier – aber auch in anderen anhängigen Verfahren – vertretenen Standpunkts zur Rechtssicherheit beitragen würde, obwohl die Frage, ob das Verhalten der Klägerin als Ausübung des Wahlrechts zu qualifizieren sei, nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zu beurteilen sei.
Rechtliche Beurteilung
[10] Die von der Klägerin beantwortete Revision der Beklagten, die sich ausschließlich auf die Ausübung des Wahlrechts stützt, ist entgegen dem – nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[11] 1. Es liegt nicht schon deshalb eine erhebliche Rechtsfrage vor, weil gleiche oder ähnliche Auslegungsfragen in mehreren Verfahren zu lösen sind (RIS-Justiz RS0042742 [T11]; vgl RS0042816). Die Auslegung von Erklärungen beziehungsweise Verhaltensweisen könnte nur dann eine erhebliche Rechtsfrage darstellen, wenn infolge einer wesentlichen Verkennung der Rechtslage ein unvertretbares Auslegungsergebnis vorläge (RS0044298 [T22]; vgl auch RS0042555 [insb T11; T17; T18]). Davon kann hier keine Rede sein.
[12] 2. Entgegen der Meinung der Revisionswerberin ist der Entscheidung 8 ObA 10/16b nicht zu entnehmen, dass das Einbringen einer ua Beendigungsansprüche beinhaltenden Forderungsanmeldung beim Insolvenzgericht durch einen Arbeitnehmer in jedem Fall als konkludente Ausübung seines Wahlrechts iSd § 3 AVRAG (vgl RS0122357) dahin anzusehen wäre, dass er die Beendigung des Dienstverhältnisses akzeptiert, statt auf dessen Fortsetzung zu bestehen. Vielmehr stellte der Oberste Gerichtshof – wie das Berufungsgericht zutreffend hervorgehoben hat – auch in der zitierten – in der Literatur teilweise heftig kritisierten (s etwa Reissner, Anmerkung zu 8 ObA 10/16b, DRdA 2017, 481 [482 f]; A. Obereder, Forderungsanmeldung als Ausübung des Wahlrechts bei unwirksamer Kündigung, DRdA-infas 2018, 50 ff; M. Mader, Betriebsübergang und Insolvenz: Forderungsanmeldung als Akzeptanz der Kündigung, FS 20 Jahre ISA, 39 ff) – Entscheidung ausdrücklich auf die besonderen Umstände des Einzelfalls ab. Von diesen ausgehend erwies sich die Ansicht der zweiten Instanz als nicht korrekturbedürftig, die dortige Klägerin habe mit der Geltendmachung von Beendigungsansprüchen im Insolvenzverfahren über das Vermögen einer der Vorpächterinnen des Betriebs zum Ausdruck gebracht, die ansonsten unwirksame Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen sich gelten zu lassen.
[13] 3. Damit ist der Anlassfall freilich nicht vergleichbar: Nach den Feststellungen erfuhr die Klägerin erst im Nachhinein – letztlich aufgrund eines von einem ehemaligen Kollegen geführten Verfahrens nach Beendigung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen von E***** M***** – vom Vorliegen eines Betriebsübergangs. Entgegen der ihrem Schutz dienenden Bestimmung des § 3a AVRAG (vgl 9 ObA 19/12b; 9 ObA 51/13k) wurde sie über diesen gerade nicht von E***** M***** oder der M***** GmbH informiert. Die Klägerin hatte auch angesichts der Erklärung des Geschäftsführers der M***** GmbH, dass die GmbH mit der Einzelfirma seines Vaters nichts zu tun habe und für dessen Verbindlichkeiten daher auch nicht aufkommen werde, keinen Grund zur Annahme, dass ein fortgesetztes Dienstverhältnis vorliege. Vielmehr musste sie von einer Beendigung ihres alten Dienstverhältnisses ausgehen. Aufgrund der ihr vorenthaltenen Information blieb ihr die Möglichkeit, ein Wahlrecht auszuüben, gänzlich verborgen. In einer solchen Situation die Anmeldung ihrer Forderungen im Insolvenzverfahren über das Vermögen von E***** M***** nicht als konkludente (§ 863 ABGB) Ausübung ihres – objektiv betrachtet gegebenen – Wahlrechts zu qualifizieren, ist in Anbetracht der besonderen Umstände des Einzelfalls, die auf eine (bewusste) Verschleierung des Betriebsübergangs durch die Arbeitgeberseite hinauslaufen, nicht zu beanstanden.
[14] 4. Insgesamt gelingt es der Beklagten nicht, mit ihren Ausführungen eine erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen. Die Revision war daher zurückzuweisen.
[15] 5. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Die Klägerin hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
Textnummer
E130803European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:008OBS00011.20F.0128.000Im RIS seit
03.03.2021Zuletzt aktualisiert am
06.12.2021