TE OGH 2021/1/28 2Ob196/20t

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Veröffentlicht am 28.01.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** S*****, vertreten durch Mag. Harald Czermak, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Mag. D***** S*****, vertreten durch Siemer-Siegl-Füreder & Partner, Rechtsanwälte in Wien, und den Nebenintervenienten auf der Seite der beklagten Partei Dr. R***** T*****, vertreten durch Dr. Karl Heinz Götz und Dr. Rudolf Tobler jun, Rechtsanwälte in Neusiedl am See, wegen Feststellung und Wiederherstellung (Streitwert 13.517,16 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt als Berufungsgericht vom 5. Juni 2020, GZ 13 R 16/20f-18, mit welchem das Urteil des Bezirksgerichts Neusiedl am See vom 5. November 2019, GZ 6 C 859/18m-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei und dem Nebenintervenienten binnen 14 Tagen die jeweils mit 1.017,90 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin jeweils 169,65 EUR Umsatzsteuer) zu ersetzen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1]       Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts und dem Vorbringen der Revision hängt die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab. Die Entscheidung kann sich auf die Anführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).

[2]            1. Zur vom Berufungsgericht als erheblich bezeichneten Frage der „wirklichen“ Übergabe iSv § 943 ABGB und § 1 Abs 1 lit d NotAktG:

[3]            1.1. Das Erfordernis der „wirklichen“ Übergabe dient dem Übereilungsschutz (2 Ob 122/17f [verst Senat] mwN). Aufgrund dieses Regelungszwecks ist eine solche Übergabe dann anzunehmen, wenn der Geschenkgeber einen vom Schenkungsvertrag verschiedenen und als Übergabe erkennbaren Akt setzt, der nach außen (nicht notwendig gegenüber Dritten: 1 Ob 115/02x mwN) in Erscheinung tritt und geeignet ist, seinem Willen Ausdruck zu verleihen, das Schenkungsobjekt aus seiner Gewahrsame in die des Beschenkten zu übertragen (2 Ob 122/17f [verst Senat] mwN; 7 Ob 128/19b). Bei Liegenschaften genügt dabei die außerbücherliche Übergabe (RS0011228 [T11], RS0011383 [T4]). Ob diese in einer Weise erfolgte, die den Übereilungsschutz gewährleistete und daher die Annahme einer „wirklichen“ Übergabe rechtfertigt, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (7 Ob 128/19b).

[4]            1.2. Richtig ist, dass das Begehen einer Liegenschaft und die Übergabe von Verwaltungsunterlagen für sich allein nicht ausreicht, wenn die Stellung des Geschenkgebers in tatsächlicher Hinsicht – insbesondere wegen der Einräumung eines umfassenden Wohnungsgebrauchsrechts – keine wesentliche Änderung erfahren soll (9 Ob 149/04h; 2 Ob 60/18i). Diese Auffassung liegt auch der Rechtsprechung in Grundbuchsachen zugrunde, wonach der Antrag auf Einverleibung abzuweisen ist, wenn nach dem Inhalt der Urkunde Zweifel bestehen, ob der Geschenkgeber die Liegenschaft tatsächlich „real“ aus der Hand gegeben hat (5 Ob 76/16m; 5 Ob 156/17b; 5 Ob 78/20m).

[5]            1.3. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Übereilungsschutz aufgrund des Vorliegens weiterer Elemente im Einzelfall trotzdem gewahrt wurde. Dass die Vorinstanzen dies im konkreten Fall aufgrund der Schlüsselübergabe und des allein von der Geschenkgeberin erteilten Auftrags an den Vertragsverfasser bejaht haben, ist durch die Entscheidung 4 Ob 189/12s gedeckt.

[6]            2. Zur in der Revision als erheblich bezeichneten Frage, ob die Klägerin bei Vertragsabschluss „blind“ iSv § 1 Abs 1 lit e NotAktG war:

[7]            2.1. „Blind“ im Sinn von § 1 Abs 1 lit e NotAktG ist, wer die Dinge der Außenwelt nicht mehr wahrnimmt (RS0070947; vgl auch 10 Ob 35/17w), also etwa nicht mehr imstande ist, Gesichtszüge sowie Druck- und Handschrift zu erkennen (3 Ob 701/82). Das trifft bei bloß gemindertem Sehvermögen nicht zu, also etwa dann, wenn der Betroffene, wenn auch mühsam, mit einer Lupe lesen kann und in der Lage ist, aus geringer Entfernung Bewegungen und menschliche Züge wahrzunehmen (1 Ob 764/78 = RS0070940).

[8]            2.2. Zwar verfügt die Klägerin über einen Behindertenpass iSv § 40 Bundesbehindertengesetz, der sie als „blind“ ausweist. Dabei handelt es sich um eine öffentliche Urkunde, die nach § 292 Abs 1 ZPO an sich „vollen Beweis“ dafür macht, dass sie das Sehvermögen vollständig verloren hat. Allerdings ist nach § 292 Abs 2 ZPO der Beweis des Gegenteils möglich (RS0040496). Dieser Beweis ist hier gelungen. Denn es steht fest, dass die Klägerin Umrisse von Menschen und Gegenständen erkennen, unter Zuhilfenahme eines Lesegeräts lesen und sich in der Kanzlei des Nebenintervenienten ohne fremde Hilfe bewegen konnte. Die Auffassung der Vorinstanzen, dass sie unter diesen Umständen nicht als „blind“ iSd § 1 Abs 1 lit e NotAktG anzusehen war, ist auf der Grundlage der dargestellten Rechtsprechung nicht zu beanstanden.

[9]            3. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 Abs 1 ZPO. Der Beklagte und der Nebenintervenient haben in den Revisionsbeantwortungen auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen, sie dienten daher der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung.

Textnummer

E130788

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00196.20T.0128.000

Im RIS seit

02.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.03.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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