TE Bvwg Beschluss 2020/12/15 W207 2231514-1

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Veröffentlicht am 15.12.2020
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Entscheidungsdatum

15.12.2020

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W207 2231514-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Vorsitzender und die Richterin Mag. Natascha GRUBER sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 12.02.2020, OB: XXXX , betreffend Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses, beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3, 2. Satz Verwaltungsgerichtverfahrensgesetz (VwGVG) zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Begründung:

I. Verfahrensgang

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Syrien, der mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.04.2015 der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden war, stellte am 25.10.2019 beim Sozialministeriumservice (in der Folge auch als belangte Behörde bezeichnet) einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses unter Angabe der Funktionseinschränkung „MS (Multiple Sklerose)“. Diesem Antrag legte die Beschwerdeführerin ein Konvolut an medizinischen Unterlagen bei, darunter einen Befund des XXXX . Klinik für Neurologie, Neurodiagnostik, vom 15.10.2019, der auf Grundlage visuell evozierter Potentiale und damit in Zusammenhang stehender näher beschriebener Untersuchungsergebnisse beider Augen die Beurteilung „Beidseits verlängerte P2 Latenzen, vereinbar mit einer demyelinisierenden Schädigung des N. opticus bds.“ beinhaltet.

Die belangte Behörde holte in der Folge ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Neurologie vom 14.01.2020, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin ebenfalls am 14.01.2020, ein. In diesem neurologischen Sachverständigengutachten wird – hier in den wesentlichen Teilen und in anonymisierter Form wiedergegeben – Folgendes ausgeführt:

„Anamnese:

Die AW versteht fast kein Deutsch, seit 2018 ist eine schubhafte Multiple Sklerose bekannt , kann keine Angaben über letzten Schub machen , sie stehe in Behandlung bei Dr. D.

Derzeitige Beschwerden:

Schwindel

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

Copaxone, Trittico

Sozialanamnese:

lebt mit 2 Kinder, Sozialhilfe , kein Pflegegeld

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

28.6.19 FA dr. D.: Bei Frau S., geboren am DD.DD.DDDD (Sozialversicherungsnummer: XXXX) ist eine klinisch, laborchemisch und MRT verifizierte Encephalomyelitis disseminata (Polmann et af., Ann Neurol 2010) bekannt.

Die Erkrankung manifestierte sich erstmals 2018 und verläuft primär schubhaft (relapsing-remitting MS).

Bislang erlitt der Patient insgesamt einen Schub. Der EDSS (nach Kurtzke) beträgt derzeit 3.0.

Untersuchungsbefund:

Allgemeinzustand:

Ernährungszustand:

Größe: cm Gewicht: kg Blutdruck:

Klinischer Status – Fachstatus:

Die Hirnnerven sind unauffällig, die Optomotorik ist intakt.

An den oberen Extremitäten bestehen rechtsseitig keine Paresen, linksseitig bestehen keine Paresen, leichte Feinmotorikstörung li . Die Muskeleigenreflexe sind li betont mittellebhaft auslösbar.

Die Koordination ist intakt.

An den unteren Extremitäten bestehen rechtsseitig keine Paresen, linksseitig bestehen keine Paresen,

Fersen/ Zehenspitzen/ Einbeinstand bds. möglich,

die Muskeleigenreflexe sind seitengleich mittellebhaft auslösbar.

Die Koordination ist intakt.

Die Pyramidenzeichen sind an den oberen und unteren Extremitäten negativ.

Die Sensibilität wird li als gestört angegeben angegeben.

Das Gangbild ist ohne Hilfsmittel etwas verlangsamt , geht im Raum frei , im Blindgang kein Abweichen

Gesamtmobilität – Gangbild:

Status Psychicus:

versteht fast nicht deutsch, gibt Konzentrationsstörungen an, Stimmung euthym, Schlafstörung

Lfd.

Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos.Nr.

Gdb %

1

Multiple Sklerose

1 Stufe über unterem Rahmensatz, da geringe sensomotorische Ausfälle

04.08.01

30

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:

Gesamtgrad der Behinderung 30 v. H.

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:

Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:

Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:

X Dauerzustand

 

 

 

 

…..“

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 15.01.2020 wurde die Beschwerdeführerin über das Ergebnis der Beweisaufnahme in Kenntnis gesetzt und ihr das eingeholte medizinische Sachverständigengutachten vom 14.01.2020 übermittelt. Der Beschwerdeführerin wurde in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens eine Stellungnahme abzugeben. Die Beschwerdeführerin gab keine Stellungnahme ab.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 12.02.2020 wies die belangte den Antrag der Beschwerdeführerin vom 25.10.2019 auf Ausstellung eines Behindertenpasses ab und führte begründend aus, dass das medizinische Beweisverfahren einen Grad der Behinderung von 30 v.H. ergeben habe und somit die Voraussetzungen zur Ausstellung eines Behindertenpasses nicht gegeben seien. Die wesentlichen Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien dem eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten vom 14.01.2020, das einen Bestandteil der Begründung bilde, zu entnehmen.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin mit E-Mail vom 30.05.2020 – unter Berücksichtigung der Bestimmung des § 1 Verwaltungsrechtliches COVID-19-Begleitgesetz, wonach die Frist zur Erhebung der Beschwerde am 01.05.2020 neu zu laufen begann - fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der sie in inhaltlicher Hinsicht Folgendes - hier in anonymisierter Form wiedergegeben - ausführte:

„Sehr geehrte Damen und Herren ,

ich bin S., ich habe ein Bescheid am 12 Februar 2020 mit einen Grad der Behinderung von 30% bekommen.

Ich hätte die Beschwerde vorher mit dem neuen Befunde senden ,aber wegen Corona Krise , hat meine Arzt mein Termin verschoben.

anbei finden Sie meine Befunde und Unterlagen.

Mit freundlichen grüßen

Name der Beschwerdeführerin“

Dieser Beschwerde sind weitere medizinische Unterlagen beigelegt, unter anderem eine Ärztliche Bestätigung eines näher genannten Arztes für Allgemeinmedizin vom 28.05.2020, in der auf eine „Sehschwäche linkes Auge mehr als rechts, Verschwommensehen links, bei bekannter demyelinisierender Schädigung des nervus opticus beidseits mit Bewegungsschmerz“ hingewiesen wird, ein Ärztlicher Befundbericht eines näher genannten Facharztes für Augenheilkunde vom 13.05.2020 beinhaltend die Diagnose „Re: Myopie, Li: Ast myopicus simplex obliquus; MS“, ein Arztbrief eines näher genannten Facharztes für Neurologie vom 26.08.2019, sowie abermals der bereits eingangs erwähnte, bereits im Verfahren vor der belangten Behörde vorgelegte Befund der näher genannten Klinik für Neurologie, vom 15.10.2019, der in Bezug auf die Funktionseinschränkung der Augen die Beurteilung „Beidseits verlängerte P2 Latenzen, vereinbar mit einer demyelinisierenden Schädigung des N. opticus bds.“ beinhaltet.

Die belangte Behörde legte in der Folge die Beschwerde samt Verwaltungsakt am 03.06.2020 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor; von der ihr eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung gemäß § 14 Abs. 1 VwGVG iVm § 46 BBG machte sie keinen Gebrauch. Ein Sachverständigengutachten aus dem Fachbereich der Augenheilkunde wurde von der belangten Behörde in Bezug auf die von der Beschwerdeführerin bereits im Verfahren vor der belangten Behörde befundmäßig belegten Sehstörungen beidseits daher nicht eingeholt, auch wurden diese Sehstörungen im eingeholten Sachverständigengutachten eines Facharztes für Neurologie vom 14.01.2020 nicht erkennbar berücksichtigt und abgehandelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu Spruchteil A)

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

1.       wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2.       die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11.)

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten auszugsweise:

„§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

...

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.

…..

§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

...

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

§ 46. Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung beträgt zwölf Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.

..."

Der Bescheid der belangten Behörde vom 12.02.2020, mit dem der Antrag der Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgewiesen und festgestellt wurde, dass der Grad der Behinderung 30 v.H. beträgt, erweist sich in Bezug auf ein ordnungsgemäß durchgeführtes Ermittlungsverfahren als mangelhaft, und zwar aus folgenden Gründen:

Bereits im Verfahren vor der belangten Behörde legte die Beschwerdeführerin den Befund der näher genannten Klinik für Neurologie vom 15.10.2019, der in Bezug auf die vorgebrachte Funktionseinschränkung der Augen auf Grundlage visuell evozierter Potentiale und damit in Zusammenhang stehender näher beschriebener Untersuchungsergebnisse beider Augen die Beurteilung „Beidseits verlängerte P2 Latenzen, vereinbar mit einer demyelinisierenden Schädigung des N. opticus bds.“ beinhaltet, vor und behauptete damit das Vorliegen einer Sehstörung. Im Rahmen der Beschwerde legte die Beschwerdeführerin weitere medizinische Unterlagen vor, die das Vorliegen einer Funktionseinschränkung der Augen belegen bzw. zumindest nahelegen.

Im Verfahren vor der belangten Behörde wurde nun zwar ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Neurologie vom 14.01.2020 eingeholt, das grundsätzlich geeignet ist, das bisher eingestufte Leiden zu beurteilen. Weder aber wurde von der belangten Behörde ein Sachverständigengutachten aus dem Fachbereich der Augenheilkunde in Bezug auf die von der Beschwerdeführerin bereits im Verfahren vor der belangten Behörde befundmäßig belegten Sehstörungen beidseits eingeholt, noch wurden diese Sehstörungen im eingeholten Sachverständigengutachten eines Facharztes für Neurologie vom 14.01.2020 erkennbar berücksichtigt und sachgerecht abgehandelt. In diesem Zusammenhang ist der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass der von der Beschwerdeführerin bereits im Verfahren vor der belangten Behörde vorgelegte Befund der näher genannten Klinik für Neurologie vom 15.10.2019, der in Bezug auf die Funktionseinschränkung der Augen die Beurteilung „Beidseits verlängerte P2 Latenzen, vereinbar mit einer demyelinisierenden Schädigung des N. opticus bds.“ beinhaltet, in diesem medizinischen Sachverständigengutachten vom 14.01.2020 auch nicht unter der „Zusammenfassung relevanter Befunde“ angeführt ist.

Auch wenn die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Sehstörungen beidseits, offenkundig verursacht durch eine demyelinisierende Schädigung des Nervus opticus beidseits, im Zusammenhang mit der bei ihr vorliegenden und auch festgestellten Multiplen Sklerose stehen mögen, könnten sie - bei tatsächlichem Vorliegen in einschätzungsrelevantem Ausmaß und bei sachgerechter Berücksichtigung - maßgebliche und entscheidungserhebliche Auswirkung auf die bereits festgestellte Funktionseinschränkung im Rahmen des Regelungskomplexes 04.08 der Anlage zur Einschätzungsverordnung (Demyelinisierende Erkrankungen) oder aber auf eine eigenständig einzustufende Funktionseinschränkung im Rahmen des Regelungskomplexes 11 (Augen und Augenanhangsgebilde) der Anlage zur Einschätzungsverordnung und damit auf den Gesamtgrad der Behinderung und somit auf das Verfahrensergebnis haben.

Die nun im Rahmen der Beschwerde (abermals) vorgebrachten Sehstörungen, die im bisher eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten und in der Folge im angefochtenen Bescheid offenkundig nicht berücksichtigt wurden (zumindest lassen sich weder diesem Sachverständigengutachten noch dem angefochtenen Bescheid Hinweise auf eine Berücksichtigung dieser Sehstörungen entnehmen), hätten von der belangten Behörde bereits bei Erlassung des angefochtenen Bescheides, spätestens aber im Rahmen der Möglichkeit zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung berücksichtigt werden können und müssen. Die belangte Behörde machte aber von der ihr gemäß § 14 VwGVG iVm § 46 BBG eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung keinen Gebrauch.

Die belangte Behörde hat daher bei der Einschätzung des Grades der Behinderung keine adäquaten Sachverhaltsermittlungen in Form der Einholung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Augenheilkunde oder aber – sofern möglich - in Form der adäquaten Berücksichtigung im eingeholten neurologischen Sachverständigengutachten vom 14.01.2020 gepflogen. Das bisherige von der belangten Behörde eingeholte neurologische Sachverständigengutachten wird im gegebenen Zusammenhang den Anforderungen an die Schlüssigkeit und insbesondere an die Vollständigkeit eines Sachverständigengutachtens daher nicht gerecht und ist daher im gegebenen Zusammenhang nicht geeignet, zur ausreichenden Sachverhaltsklärung beizutragen und ist insofern in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig. Im gegenständlichen Fall ist daher davon auszugehen, dass die belangte Behörde im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes den wesentlichen Sachverhalt nur ansatzweise ermittelt hat bzw. die Ermittlung des Sachverhaltes in einer entscheidungswesentlichen Frage an das Verwaltungsgericht delegiert hat. Der Sachverhalt ist daher im gegebenen Zusammenhang nicht ausreichend ermittelt, um zur rechtsrichtigen rechtlichen Beurteilung beizutragen.

Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch der mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren verbundene erhöhte Aufwand.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid der belangten Behörde gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückzuverweisen.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausgeführt, dass im verwaltungsbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt in Anbetracht des oben zitierten Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz keine grundsätzliche Rechtsfrage vor.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W207.2231514.1.00

Im RIS seit

25.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.02.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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