TE Vwgh Beschluss 2021/1/22 Ra 2020/20/0438

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Veröffentlicht am 22.01.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §58
AVG §60
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §29 Abs1
VwGVG 2014 §29 Abs2
VwGVG 2014 §29 Abs4
VwGVG 2014 §48 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, in der Rechtssache der Revision des H J in G, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116/17-19, gegen das am 18. Mai 2020 mündlich verkündete und am 23. Juni 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, L510 2140994-1/18E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 21. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2        Mit dem Bescheid vom 8. November 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem am 18. Mai 2020 mündlich verkündeten und am 23. Juni 2020 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Das Bundesverwaltungsgericht begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers keine Glaubwürdigkeit zukomme, bei einer Rückkehr keine Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK drohe und die Rückkehrentscheidung in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig eingreife.

4        Der Revisionswerber erhob gegen dieses Erkenntnis Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 21. September 2020, E 2132/2020-14, ablehnte und sie mit Beschluss vom 27. Oktober 2020, E 2132/2020-17, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Die Nichteinhaltung der Bestimmungen über die mündliche Verkündung nach § 29 Abs. 2 VwGVG („mit den wesentlichen Entscheidungsgründen“) und über die Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nach den §§ 58 und 60 AVG iVm. § 17 VwGVG stellt grundsätzlich eine Verletzung von Verfahrensvorschriften dar. Für eine Aufhebung eines Erkenntnisses oder Beschlusses wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften ist es nach § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG erforderlich, dass das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Erkenntnis oder Beschluss hätte kommen können, es muss also die „Relevanz“ des Verfahrensfehlers gegeben sein (vgl. VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558 bis 0560).

9        Wenn der Revisionswerber Mängel in der Begründung des mündlich verkündeten Erkenntnisses ins Treffen führt, übersieht er, dass die Relevanz von Mängeln der Begründung der mündlich verkündeten Entscheidung in der Regel wegfällt, wenn eine schriftliche Ausfertigung ergangen ist, die diese Mängel behebt. Lediglich in - hier nicht vorliegenden - Ausnahmefällen wird ohne Bedachtnahme auf den näheren Inhalt der schriftlichen Ausfertigung davon auszugehen sein, dass ein für das Ergebnis des Verfahrens relevanter Verfahrensmangel gegeben ist (vgl. neuerlich - auch zu den Ausnahmefällen - VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558 bis 0560).

10       Soweit sich die Zulässigkeitsbegründung der Revision auf die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts bezieht, ist ihr entgegenzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Der Verwaltungsgerichtshof ist nicht berechtigt, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. VwGH 20.11.2020, Ra 2020/20/0309, mwN).

11       Dass das Bundesverwaltungsgericht die Unterschiede in den Angaben des Revisionswerbers zu den behaupteten Akteuren seiner Verfolgung und zur behaupteten Verletzung in einer unvertretbaren Weise gewürdigt hätte, zeigt die Revision nicht auf. Eine solche Unvertretbarkeit wird auch mit dem Hinweis auf vom Revisionswerber vorgelegte „medizinische Unterlagen“ nicht dargetan, weil diese zwar geeignet sein mögen, eine Verletzung zu belegen, nicht aber Aufklärung über die Frage, im Zuge welcher Ereignisse der Revisionswerber die Verletzungen erlitten haben mag, und damit über die Nachvollziehbarkeit des Fluchtvorbringens des Revisionswerbers zu geben (vgl. zur Frage der Eignung medizinischer Sachverständigengutachten als Beweis für behauptetes Fluchtvorbringen VwGH 20.2.2018, Ra 2017/20/0464; 15.3.2018, Ra 2018/20/0090; 20.11.2019, Ra 2019/20/0286, jeweils mwN).

12       Soweit die Revision das Ergebnis der vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK für unzutreffend erachtet, ist festzuhalten, dass diese nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. VwGH 23.10.2020, Ra 2020/20/0056; 7.9.2020, Ra 2020/20/0297, mwN).

13       Entgegen dem Revisionsvorbringen bezog das Bundesverwaltungsgericht sämtliche zu berücksichtigende Umstände - darunter auch die ehrenamtliche Tätigkeit des Revisionswerbers und eine Einstellungszusage - in seine Interessenabwägung ein. Es ist nicht zu sehen, dass das Bundesverwaltungsgericht bei der Gewichtung dieser Umstände, die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs aufgestellten Leitlinien missachtet oder in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht hätte.

14       Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen beschränkt, sondern umfasst auch andere faktische Familienbindungen, bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben. Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. VwGH 29.11.2017, Ra 2017/18/0425; 11.3.2020, Ra 2019/18/0382, mwN).

15       Letztlich ist es nur von untergeordneter Bedeutung, ob die vom Revisionswerber ins Treffen geführte Beziehung als „Familienleben“ oder als „Privatleben“ zu qualifizieren ist, weil bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung im Ergebnis die tatsächlich bestehenden Verhältnisse maßgebend sind (vgl. VwGH 27.4.2020, Ra 2020/21/0121; 29.5.2020, Ra 2020/14/0191).

16       Soweit sich die Revision auf die tatsächlichen Verhältnisse beruft, entfernen sich ihre Behauptungen (wonach der Revisionswerber und seine Lebensgefährtin „einen Hochzeitstermin im August 2020 in Aussicht“ hätten, sich „jeden Tag sehen“ würden und diese „Art des Zusammenlebens“ jenem in einem gemeinsamen Haushalt gleichkomme) vom festgestellten Sachverhalt, wonach der Revisionswerber und seine „Freundin“ derzeit nicht in einem gemeinsamen Haushalt lebten, weil es „Probleme mit dem Sohn der Freundin“ gegeben habe und sie „zur Zeit ... deshalb etwas weniger Kontakt“ hätten (zum Fehlen einer Rechtsfrage iSd. Art. 133 Abs. 4 B-VG, wenn sich die Revision vom festgestellten Sachverhalt entfernt, vgl. VwGH 15.5.2020, Ra 2020/20/0064).

17       Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht zutreffend auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs hingewiesen, wonach es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-Verfahrensgesetz maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 15.4.2020, Ra 2019/14/0420, mwN).

18       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 22. Jänner 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020200438.L00

Im RIS seit

08.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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