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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AVG §37Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des AB, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116/17-19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Oktober 2019, W195 2214126-1/12E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Volksrepublik Bangladesch, stellte am 26. September 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Diesen Antrag begründete er im Wesentlichen mit der Verfolgung durch näher genannte Privatpersonen aufgrund seiner homosexuellen Beziehung und dem mangelnden staatlichen Schutz vor dieser Verfolgung.
2 Im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) legte der Revisionswerber einen Arztbrief, aus dem hervorgeht, dass er 2018 an einer Geschlechtskrankheit gelitten habe und mit Antibiotika behandelt worden sei, sowie Studienblätter der Universität Wien, Bestätigungen einer Universität aus Bangladesch sowie eine „Betreuungsbestätigung“ des Vereins „Queer Base“ vor. In seiner Einvernahme vor dem BFA machte er Angaben zu den Umständen seiner Geschlechtskrankheit, zu seinem Fluchtvorbringen, zu seiner homosexuellen Beziehung in Bangladesch und zu seinem Leben in Österreich sowie zu seinen homosexuellen Kontakten in Österreich und zur Kontaktaufnahme mit anderen Männern über ein soziales Netzwerk für homo-, bi- und transsexuelle Männer („Romeo“). Weiters führte er aus, keinen festen Freund, sondern unterschiedliche Sexualpartner zu haben. Mit einem dieser - namentlich genannten - Partner lebe er zusammen.
3 Mit Bescheid vom 21. Dezember 2018 wies das BFA den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Bangladesch zulässig sei. Das BFA legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
4 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde. Im Zuge des Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) legte der Revisionswerber weitere Unterlagen zum Nachweis seiner Homosexualität und der ihm aus diesem Grund in seinem Herkunftsstaat drohenden Verfolgung vor (die schriftliche Stellungnahme des Vereins „Queer Base“ zur Betreuung des Revisionswerbers durch den Verein, die Bestätigung der Wohnmöglichkeit in einer Wohngemeinschaft des Diakonie Flüchtlingsdienstes für homosexuelle Flüchtlinge, eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 13. April 2018 zur Lage von LGBT-Menschen in Bangladesch, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 1. Juni 2016 mit dem Titel „Bestimmungen und Anwendung des bangladeschischen Strafgesetzes zur Homosexualität, gesellschaftlicher Umgang mit Sexualität, Existenz von Organisationen, die sich für LGBT-Personen einsetzen, Vernetzung von Homosexuellen, Berichte über Gewalt gegen Homosexuelle“, die UNHCR-Richtlinien Nr. 9 zu „Anträgen auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder der geschlechtlichen Identität“ vom 23. Oktober 2012, Lichtbilder vom Revisionswerber und seinem Partner, sowie Auszüge aus Chatprotokollen des Revisionswerbers mit anderen Mitgliedern eines sozialen Netzwerkes für homo-, bi- und transsexuelle Männer mit Textnachrichten und Fotos). Des Weiteren beantragte der Revisionswerber die Einvernahme eines namentlich genannten Zeugen zum Beweis dafür, dass der Revisionswerber homosexuell sei. Der Zeuge habe mit dem Revisionswerber Geschlechtsverkehr gehabt.
5 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Zur Situation von homosexuellen Menschen und ihrer Stellung in Gesellschaft und Rechtsordnung in Bangladesch hielt das BVwG in seinen Feststellungen abschließend wie folgt fest (S. 23 der Entscheidung):
„SOGI - Sexuelle Orientierung und Genderidentität
Homosexuelle Handlungen sind illegal und können nach § 377 des ‚Bangladesh Penal Code, 1860‘ (BPC) mit einer Haftstrafe von bis zu zehn Jahren, inklusive der Möglichkeit einer Geldstrafe bestraft werden (ILGA 5.2017; vgl. USDOS 20.4.2018; AA 27.10.2017). Gerichtsverfahren oder Verurteilungen von Homosexuellen sind allerdings nicht bekannt (ÖB 12.2018). Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft (Homosexuelle, Bisexuelle, Transgender und Intersex) berichteten, dass die Polizei das Gesetz als Vorwand benutzt, um LGBTI-Personen sowie feminine Männer unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, zu schikanieren (USDOS 20.4.2018).
Homosexualität ist gesellschaftlich absolut verpönt und wird von den Betroffenen nicht offen gelebt. Wo Homosexuelle als solche erkannt werden, haben sie mit gesellschaftlicher Diskriminierung, in Einzelfällen auch mit Misshandlungen bis hin zum Mord zu rechnen (ÖB 12.2018). Jedes Jahr wird über dutzend Angriffe auf Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft berichtet (FH 1.2018); diese bleiben meist straflos (HRW 1.2018; vgl. AA 27.10.2017).“
7 Beweiswürdigend führte das BVwG aus, das Fluchtvorbringen zu einer Verfolgung aufgrund der homosexuellen Beziehung sei nicht glaubwürdig. Der Revisionswerber habe keine inneren Beweggründe und Gedanken dargelegt und auch nicht ausführen können, wie er die Lage für Homosexuelle in seinem Herkunftsstaat empfinde. Der homosexuellen Szene in Österreich habe er sich erst 2018 angenähert. Seine Schilderungen zur Entdeckung seiner Beziehung seien zudem widersprüchlich und oberflächlich. Wenn er tatsächlich seit seinem zwölften Lebensjahr seine sexuelle Orientierung auslebe, müsse der Revisionswerber „akzeptieren“, dass er dies über Jahre hinweg ohne staatliche Verfolgung habe tun können. Würde man hingegen eine staatliche Verfolgung annehmen, sei es unglaubwürdig, dass dem Revisionswerber jahrelang ein problemloses Zusammenleben mit seinem Freund möglich gewesen sei. Dem in einer Beschwerdeergänzung gestellten Antrag auf zeugenschaftliche Einvernahme des Sexualpartners des Revisionswerbers sei nicht nachzukommen gewesen, weil dieser Antrag erst in der Beschwerdeergänzung, die lediglich der Konkretisierung und nicht der Beschwerdeausdehnung diene, gestellt worden sei. Schließlich determiniere die Beschwerde den Prüfungsumfang. Der Revisionswerber habe diesen Partner vor der mündlichen Verhandlung auch nicht erwähnt. Das Verschweigen eines Lebenspartners widerspreche der Lebenserfahrung. Es liege deshalb die Vermutung nahe, dass die Partnerschaft lediglich behauptet werde und der Unterstützung im Asylverfahren dienen solle. Weder die Einvernahme des Partners noch von anderen Personen aus dem Umfeld des Revisionswerbers könnten dies ändern. Zusätzliche Einvernahmen seien auch nicht erforderlich, weil der Revisionswerber „in seinen eigenen Aussagen widersprüchlich und schlichtweg unglaubwürdig“ sei. Die späte Stellung der Anträge auf Zeugeneinvernahme deute auch auf eine beabsichtigte Verfahrensverzögerung hin. Die vom Revisionswerber zitierten „UNCHR-Richtlinien Nr. 9: Anträge auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder der geschlechtlichen Identität im Zusammenhang mit Artikel 1 (A) 2 des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 23. Oktober 2012“ hätten lediglich Empfehlungscharakter. Selbst bei Wahrunterstellung der Homosexualität bestehe in Bangladesch keine generell vorherrschende „Verfolgungsgefährdung“, Gerichtsverfahren und Verurteilungen von Homosexuellen seien trotz der Strafbarkeit von Homosexualität nicht bekannt. Die in Einzelfällen vorkommenden gesellschaftlichen Diskriminierungen und Misshandlungen würde kein derartiges Ausmaß erreichen, dass jeder homosexuelle Mann in Bangladesch Verfolgung befürchten müsse.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen das Erkenntnis des BVwG gerichtete außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit vorgebracht, das BVwG habe seine Pflicht zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts mehrfach verletzt. Das BVwG habe zu Unrecht von der Einvernahme des beantragten Zeugen abgesehen, zumal dieser entgegen der Ausführungen des BVwG bereits dem BFA bekannt und auch keine Verfahrensverzögerung intendiert gewesen sei. Die Lebenspartnerschaft selbst sei erst im Laufe des Jahres 2019 zustande gekommen, weshalb eine mangelnde Benennung des Zeugen in der Beschwerde vom Jänner 2019 „nicht zur Last zu legen“ sei. Die Beweiswürdigung des BVwG entspreche auch nicht den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien, insbesondere weil der Revisionswerber zahlreiche Beweismittel für seine Homosexualität in das Verfahren eingebracht hätte, diese aber begründungslos übergangen worden seien; so etwa ein Schreiben eines näher genannten Vereins sowie die Chatprotokolle von einem sozialen Netzwerk für homo-, bi- und transsexuelle Männer. Die Beweiswürdigung des BVwG sei deshalb in unvertretbarer Weise erfolgt.
10 Die Revision ist wegen der gerügten Verfahrensmängel zulässig und berechtigt.
11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen (vgl. VwGH 10.8.2020, Ra 2018/19/0228, mwN).
12 Soweit das BVwG die Abstandnahme von der Zeugeneinvernahme mit einem durch das Beschwerdevorbringen eingeschränkten Prüfumfang nach § 27 VwGVG begründet, ist darauf hinzuweisen, dass eine Auslegung von § 27 VwGVG dahingehend, dass die Prüfbefugnis der Verwaltungsgerichte stark eingeschränkt zu verstehen wäre, nicht zutreffend ist (vgl. VwGH 27.1.2016, Ra 2014/10/0038, mwN).
13 Dass es aufgrund der Bestimmung des § 27 VwGVG gerechtfertigt gewesen wäre, dem vom Revisionswerber erst im Lauf des Beschwerdeverfahrens gestellten Beweisantrag nicht nachzukommen, ist nicht zu sehen. Es trifft im Besonderen nicht zu, dass mit dem Beweisantrag der Prozessgegenstand des Beschwerdeverfahrens - der in Bezug auf den hier in Rede stehenden Ausspruch im Bescheid des BFA in der Frage bestand, ob dem Revisionswerber nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen sei - in unzulässiger Weise erweitert worden wäre. Das BVwG hat somit mit seiner auf § 27 VwGVG Bezug nehmenden Begründung zu Unrecht von der Einvernahme des beantragten Zeugen Abstand genommen.
14 Wie in der Revision, in der auch die Relevanz des Verfahrensfehlers aufgezeigt wird, zu Recht geltend gemacht wird, lagen auch die oben dargestellten Gründe, wonach von der beantragten Beweisaufnahme hätte Abstand genommen werden dürfen, im vorliegenden Fall nicht vor. Vielmehr stellen sich die oben wiedergegebenen Überlegungen des Bundesverwaltungsgerichts als eine vorgreifende Beweiswürdigung dar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs darf die freie Beweiswürdigung gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier iVm § 17 VwGVG) aber erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 3.12.2020, Ra 2020/20/0094 bis 0096, mwN).
Auch die Alternativbegründung des Bundesverwaltungsgerichts steht mit dem Gesetz nicht im Einklang.
15 Im Rahmen einer Wahrunterstellung ist es erforderlich, in der Entscheidung offenzulegen, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen bei der rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen wird, um sowohl den Verfahrensparteien als auch dem Verwaltungsgerichtshof die Überprüfung zu ermöglichen, ob einerseits die derart erfolgte rechtliche Beurteilung - und daher auch die Annahme, keine (allenfalls: ergänzenden) Feststellungen zum Vorbringen treffen zu müssen - dem Gesetz entspricht, und ob andererseits überhaupt bei der rechtlichen Beurteilung vom Inhalt des Sachverhaltsvorbringens ausgegangen wurde (vgl. VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0069; 21.10.2014, Ro 2014/03/0076). Bei einer „Wahrunterstellung“ ist vom gesamten Vorbringen des Revisionswerbers auszugehen (vgl. VwGH 25.3.2015, Ra 2014/18/0168). Schon diesem Erfordernis hat das BVwG nicht entsprochen, lässt es doch das eigentliche Fluchtvorbringen der Verfolgung durch Private aufgrund der Homosexualität und den mangelnden staatlichen Schutz davor völlig außer Acht. Nach den vom BVwG getroffenen Feststellungen, wonach Homosexualität in Bangladesch gesellschaftlich absolut verpönt sei und von den Betroffenen nicht offen gelebt werden könne, bei Bekanntwerden dies nicht nur zu gesellschaftlicher Diskriminierung führe, sondern auch mit Misshandlungen bis hin zum Mord zu rechnen sei und jedes Jahr über dutzend Angriffe auf Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft berichtet würden, die meist straflos blieben, kann dem Vorbringen des Revisionswerbers nicht von vornherein jegliche Asylrelevanz abgesprochen werden.
16 Da das Bundesverwaltungsgericht im Fall eines mängelfreien Verfahrens zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis - zur Gänze, weil die rechtlich von der das Begehren auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abweisenden Entscheidung abhängenden Aussprüche ihre Grundlage verlieren - schon aus den dargestellten Gründen wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Vorbringen in der Revision einzugehen war.
17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 26. Jänner 2021
Schlagworte
Beweismittel Zeugenbeweis Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel ZeugenbeweisEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020140122.L00Im RIS seit
01.03.2021Zuletzt aktualisiert am
01.03.2021