Index
E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §35 Abs2aBetreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache der L M S, vertreten durch Dr. Peter Bleiziffer, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Ignaz-Rieder-Kai 11c, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Salzburg vom 27. Mai 2020, 405-11/186/1/17-2020, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Landeshauptstadt Salzburg), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
2 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
3 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
4 Die Revisionswerberin, eine somalische Staatsangehörige, beantragte mit E-Mail vom 10. Juli 2018 und persönlich bei der Österreichischen Botschaft in Nairobi am 5. November 2018 die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Zusammenführende ist ihre am 4. Oktober 1999 geborene Tochter, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17. Juli 2015 als unbegleitete Minderjährige der Status als Asylberechtigte zuerkannt worden war.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Salzburg (LVwG) die Beschwerde der Revisionswerberin gegen den abweisenden Bescheid des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Salzburg (Behörde) als unbegründet ab und erklärte eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof für zulässig.
Zunächst stellte das LVwG fest, die Revisionswerberin habe keinen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft, keinen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz und keine ausreichenden Unterhaltsmittel nachgewiesen. In seiner rechtlichen Begründung führte das LVwG zusammengefasst aus, die Revisionswerberin sei keine Familienangehörige der Zusammenführenden im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG mehr, weil letztere bereits am 4. Oktober 2017 volljährig geworden sei. Es sei im gegenständlichen Fall auch nicht erforderlich, den Begriff der „Familienangehörigen“ aus verfassungs- oder unionsrechtlichen Gründen von der Legaldefinition in § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln (Hinweis auf VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0609). Der Antrag auf Familiennachzug für die Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings sei gemäß Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Minderjährigen zu stellen (Hinweis auf EuGH 12.4.2018, C-550/16, insbesondere Rn. 61). Diese Frist sei nicht eingehalten worden; der Zusammenführenden sei im Juli 2015 der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden, der gegenständliche Antrag sei erst im Juli bzw. November 2018 eingebracht worden. Die Versäumung der Frist sei auch nicht „aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar“ (Hinweis auf EuGH 7.11.2018, C-380/17; VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0242); im Bekanntwerden des Urteils des EuGH C-550/16 und des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes Ra 2017/19/0609 seien keine „besonderen Umstände“ zu erblicken, die eine verspätete Antragstellung objektiv entschuldbar machten. Auch aus dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK sei für die Revisionswerberin kein ausnahmsweiser Anspruch auf Familienzusammenführung abzuleiten.
Die Zulassung der ordentlichen Revision wurde damit begründet, dass noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage vorliege, ob das hg. Erkenntnis Ra 2017/19/0609 und das Urteil des EuGH C-550/16 besondere Umstände darstellten, die die Versäumung der im Urteil C-550/16 genannten Dreimonatsfrist objektiv entschuldbar machten.
6 Die vorliegende ordentliche Revision enthält keine Ausführungen zur Zulässigkeit. Daher ist ausschließlich auf die vom LVwG in seiner Zulässigkeitsbegründung formulierte Frage einzugehen.
7 Es ist jedoch nicht zu erkennen, inwiefern die Kenntnisnahme des hg. Erkenntnisses Ra 2017/19/0609 und des Urteils des EuGH C-550/16 für das gegenständliche Verfahren entscheidungsrelevant sein könnte. In beiden Entscheidungen ging es um die Frage, ob ein Drittstaatsangehöriger, der zum Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrages noch minderjährig war und während des Asylverfahrens volljährig wurde, als Minderjähriger im Sinn des Art. 10 Abs. 3 lit. a der Familienzusammenführungsrichtlinie anzusehen war, sodass seinen Eltern zum Zweck der Familienzusammenführung ein Einreise- und Aufenthaltsrecht zu erteilen wäre.
Ein solcher Sachverhalt liegt gegenständlich jedoch nicht vor. Der Zusammenführenden wurde den unbestrittenen Feststellungen des LVwG zufolge mit Bescheid vom 17. Juli 2015 als unbegleitete Minderjährige - sie wurde am 4. Oktober 2017 volljährig - der Status der Asylberechtigten verliehen. Inwiefern die zitierten Entscheidungen für eine Konstellation wie der vorliegenden, in der der Antrag auf Familienzusammenführung erst etwa drei Jahre nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die Zusammenführende gestellt wurde, eine Änderung in der rechtlichen Beurteilung bewirken könnten, wurde nicht ausgeführt.
8 Gemäß Art. 12 Abs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie können die Mitgliedstaaten von dem Flüchtling die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 genannten Voraussetzungen (den Nachweis eines Rechtsanspruches auf eine Unterkunft, eines alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Unterhaltsmittel; § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG) verlangen, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde. Die begünstigte Form der Familienzusammenführung ohne Nachweis der in Art. 7 Abs. 1 bzw. § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG genannten Voraussetzungen ist also nur möglich, wenn der Antrag innerhalb von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde. Im Fall der Familienzusammenführung mit einem unbegleiteten Minderjährigen, dem etwa der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wurde, gelten die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Z 1 bis 3 AsylG als erfüllt (§ 35 Abs. 2a AsylG). Weder der Familienzusammenführungsrichtlinie noch dem AsylG ist zu entnehmen, dass die Dreimonatsfrist für die begünstigte Familienzusammenführung bei unbegleiteten Minderjährigen nicht gelten sollte.
Wenn der EuGH in der Rn. 61 seines Urteils C-550/16 für den speziellen - hier nicht vorliegenden - Fall des Erreichens der Volljährigkeit während des anhängigen Asylverfahrens ausspricht, dass der Antrag auf Familienzusammenführung in einem engen zeitlichen Konnex - grundsätzlich innerhalb von drei Monaten - zu der Entscheidung über die Anerkennung des Minderjährigen als Flüchtling zu erfolgen hat, dehnt er damit die Möglichkeit des begünstigten Familiennachzugs zu unbegleiteten Minderjährigen gemäß Art. 10 Abs. 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie auf die Zeit nach Erreichen der Volljährigkeit der Asylberechtigten aus, jedoch wiederum unter Berücksichtigung der Dreimonatsfrist nach Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling gemäß Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie. Diese Frage ist für den gegenständlich zu beurteilenden Fall jedoch nicht relevant, weil die Zusammenführende nicht während ihres Asylverfahrens volljährig wurde. Dass dieses Urteil des EuGH - unabhängig von der speziellen Situation des Erreichens der Volljährigkeit während des Asylverfahrens - Auswirkungen auf die in Art. 12 Abs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie festgelegte Dreimonatsfrist hätte, wurde nicht vorgebracht.
9 § 46 NAG sieht zwar nicht vor, dass ein Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Zusammenführenden zu stellen sei. Für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dieser Bestimmung sind jedoch - wenn der Antrag (wie hier) nicht innerhalb von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde (siehe Art. 12 Abs. 1 dritter Unterabsatz der Familienzusammenführungsrichtlinie) - unter anderem die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 11 NAG betreffend einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft, einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Unterhaltsmittel nachzuweisen. Den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses zufolge liegen diese Voraussetzungen im gegenständlichen Fall nicht vor.
10 In der Revision wird somit keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme; sie war daher zurückzuweisen.
11 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte im Hinblick auf § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 8. Februar 2021
Schlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020220014.J00Im RIS seit
23.03.2021Zuletzt aktualisiert am
23.03.2021