Entscheidungsdatum
14.09.2020Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13Spruch
L507 2146771-1/26E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Habersack über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. staatenlos, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.01.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.06.2020 zu Recht erkannt:
A) 1. Die Beschwerde gegen Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass er in seinem Spruchpunkt I. zu lauten hat:
„Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 11.02.2016 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 3 Z 2 iVm § 2 Z 13 und § 6 Abs. 1 AsylG abgewiesen.“
2. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass er in seinem Spruchpunkt III. zu lauten hat:
„Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird XXXX gemäß
§ 57 AsylG nicht erteilt. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen XXXX ist gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig. Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt."
3. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids wird ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein staatenloser Palästinenser aus dem Libanon und Angehöriger der sunnitischen Religionsgemeinschaft, stellte am 11.02.2016, nachdem er zuvor illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist, einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Bei der niederschriftlichen Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 12.02.2016 brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er in dem Camp, wo er gewohnt habe, keine Zukunft und Sicherheit gehabt habe. Es sei sehr schlecht für ihn gewesen und habe er ein besseres Leben gewollt. Das Camp sei in der Nähe der syrischen Grenze und habe der Beschwerdeführer immer die Raketen bzw. Bomben einschlagen hören. Er sei Ingenieur und hoffe, in Österreich Arbeit zu finden. Sein Fluchtgrund sei nur, dass er in einem sicheren Land leben wolle. Im Falle einer Rückkehr in den Libanon habe er Angst ins Gefängnis zu müssen, weil er illegal ausgereist sei.
3. Am 22.07.2016 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen und brachte zusammengefasst vor, dass es bis zum Sommer 2013 einigermaßen möglich gewesen sei zu leben. Er habe sein Studium betrieben und in seinem Elternhaus gelebt. Am 24.08.2013 habe es zwei Anschläge in der Näher seiner Universität gegeben. Dabei sei er durch Granatsplitter am linken Bein verletzt worden. Seit der Bürgerkrieg in Syrien eskaliert sei, lebe er in Ungewissheit. In seiner Region würden sich immer Kriegshandlungen ereignen und sei es ständig ungewiss gewesen, ob er von der Universität wieder unversehrt nach Hause komme. Deshalb habe er an eine Flucht gedacht und diese im Jänner 2016 gewagt.
4. Am 05.12.2016 wurde der Beschwerdeführer erneut vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte er im Wesentlichen vor, dass er am 24.08.2013 von der Hochschule nach Hause gefahren sei. Er habe einen Bus bestiegen, der vom XXXX in das Camp XXXX gefahren sei. Er habe zwei Explosionen wahrgenommen. An der Einstiegshaltestelle sei eine Moschee. Bei der ersten Explosion habe sich der Beschwerdeführer im Bus befunden. Er sei verletzt worden und habe am linken Bein Splitterverletzungen erlitten. Der Beschwerdeführer sei von anderen Fahrgästen aus dem Bus gezogen worden und sei danach die zweite Explosion erfolgt. Der Busfahrer und ein weiterer Fahrgast hätten dabei schwere Verletzungen erlitten. Der Beschwerdeführer habe drei Tage im Krankenhaus verbracht und sei danach etwa ein Monat zu Hause gewesen. Danach habe er sei Studium weiter betrieben. Seine Eltern hätten Angst um ihn gehabt und ihn zur Flucht motiviert. Sie hätten im Libanon mit wenig Rechten und mit minimalem Versicherungsschutz gelebt. Der Beschwerdeführer habe bei jeder Busfahrt Angst gehabt. Drei Monate lang habe der Beschwerdeführer weiter studiert, es hätten sich aber Kriegshandlungen zwischen den alawitischen Djabel Mohsen und den sunnitischen Attabani in der Nähe des Camps ereignet, weshalb dem Beschwerdeführer von seinen Eltern geraten worden sei, die Schule nicht mehr aufzusuchen.
5. Mit Schriftsatz vom 15.12.2016 erfolgte seitens der damaligen Vertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme. Darin wurde im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt und auf die Lebensumstände der im Libanon aufhältigen Flüchtlinge hingewiesen.
6. Mit Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Libanon abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Libanon gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß
§ 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Beweiswürdigend wurde vom BFA ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine Fluchtgründe iSd GFK vorgebracht habe. Weiters wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer auch keine Gefahren drohen, die eine Gewährung subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Die Rückkehrentscheidung verletze nicht das Recht auf ein Privat- und Familienleben im Bundesgebiet und würden auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 nicht vorliegen.
7. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 05.01.2017 bzw. 04.01.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt und gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG die Verpflichtung mitgeteilt, innerhalb von zwei Wochen ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
8. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 09.01.2017 ordnungsgemäß zugestellt, wogegen am 20.01.2017 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde.
Darin wurde zusammengefasst ausgeführt, dass das BFA die materielle Rechtslage verkannt habe. Der Beschwerdeführer habe im Libanon den Schutz von UNRWA genossen und in einem Flüchtlingslager von UNRWA gelebt. Damit wäre zu prüfen gewesen, ob der Beschwerdeführer gemäß § 6 Abs. 1 Z 1 AsylG von der Gewährung von Asyl ausgeschlossen sei. Es sei auch zu prüfen, ob der Beschwerdeführer den Schutz von UNRWA verloren habe und wenn ja, aus welchen Gründen. Aus den Feststellungen im angefochtenen Bescheid ergebe sich auch, dass die Lebenssituation für den Beschwerdeführer im Libanon prekär, existenzgefährdend, bedrohlich und riskant gewesen sei und ein Weiterverbleib im Lager ihm nicht zumutbar gewesen sei. Die Gefährdungslage habe sich seither nicht verändert und könne dem Beschwerdeführer nicht zugemutet werden, sich weiterhin jenen Gefährdungsumständen auszusetzen. Die besonders ungünstige Sicherheitslage im Raum XXXX und Umgebung ergebe sich auch aus den länderkundlichen Feststellungen im angefochtenen Bescheid. Das BFA sei verpflichtet gewesen, die individuellen Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Gefährdungslage in Bezug mit den einschlägigen Länderfeststellungen zu setzen und die objektive Glaubwürdigkeit des Vorbringens zu prüfen. Im Weiteren wird auf die prekären Lebensbedingungen und die Gefährdungssituation in den palästinensischen Flüchtlingslagern verwiesen und angemerkt, dass dem Beschwerdeführer ein weiterer Verbleib im UNRWA-betreuten Lager nicht mehr zugemutet werden hat können. Die Diskriminierung der Palästinenser im Libanon sei zudem derart umfassend, dass dem Beschwerdeführer auch unter dem Gesichtspunkt seines durch Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens eine Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht zugemutet werden könne. Letztlich wurde noch darauf hingewiesen, dass auch die rechtliche Diskriminierung der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon gegen einen weiteren Verbleib im Libanon spreche.
9. Am 03.06.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. Dabei wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen. Zudem wurde der Beschwerdeführer zu seinen Integrationsbemühungen befragt und ihm die aktuellen Länderfeststellungen zum Libanon ausgehändigt. Dem Beschwerdeführer wurde die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen eingeräumt.
10. Mit Schreiben vom 16.06.2020 erstattete die Vertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme. Darin wurde insbesondere auf die konkreten Integrationsbemühungen des Beschwerdeführers hingewiesen und dahingehende Bestätigungen in Vorlage gebracht.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt:
1.1. Der Beschwerdeführer ist staatenloser Angehöriger der palästinensischen Volksgruppe. Sein Herkunftsstaat ist der Libanon. Er wurde XXXX Kilometer nördlich der Stadt XXXX im Flüchtlingslager XXXX geboren, wo er bis zur Ausreise bei seiner Familie lebte. Er wurde dort als Flüchtling beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert. Der Beschwerdeführer ist sunnitischer Moslem, ledig, kinderlos, besuchte in XXXX zwölf Jahre die Schule und studierte anschließend drei Jahre an einer Fachhochschule Architektur. Das Architekturstudium hat der Beschwerdeführer nicht abgeschlossen und reiste im Jänner 2016 aus dem Libanon aus.
Die Eltern sowie ein Bruder des Beschwerdeführers leben nach wie vor im Flüchtlingslager XXXX . Ein Bruder des Beschwerdeführers lebt in XXXX , ein weiterer Bruder im Südlibanon. Zwei Brüder des Beschwerdeführers leben in Dubai. Eine Schwester des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Der Beschwerdeführer steht mit seiner im Libanon lebenden Mutter in regelmäßigem Kontakt.
Der Beschwerdeführer reiste im Februar 2016 illegal im Bundesgebiet ein und hält sich seither durchgehend im Bundesgebiet auf.
In Österreich leben keine Verwandten des Beschwerdeführers. Er hat eine Freundin, mit der kein gemeinsamer Wohnsitz und nur loser Kontakt besteht.
Nach der Teilnahme des Beschwerdeführers an einer Ausbildung im Bereich Metallbearbeitung von 04.09.2017 bis 02.09.2018 hat er am 07.08.2018 die Abschlussprüfung in der Metallwerkstatt im Projekt „ XXXX “ bestanden.
Der Beschwerdeführer spricht auf dem Niveau B1 die deutsche Sprache und hat verschiedene Integrationsveranstaltungen besucht.
Der Beschwerdeführer war von 01.09.2018 bis 12.11.2018 als Kochlehrling beschäftigt. An den Ausbildungsberechtigten wurde für den Beschwerdeführer seitens des AMS XXXX eine Beschäftigungsbewilligung von 07.08.2018 bis 06.11.2021 erteilt. Von 12.06.2019 bis 15.09.2019 war der Beschwerdeführer als Kellner (Saisonarbeit) tätig.
Seit 17.03.2019 ist der Beschwerdeführer ehrenamtlich bei der XXXX engagiert.
Der Beschwerdeführer erlitt am 23.08.2013 ein Trauma am linken Bein und leidet aktuell an Krämpfen im Bereich der unteren Extremitäten, die Medikamentös behandelt werden (Gabapentin 400 mg). Dem Beschwerdeführer wurden physikalische Maßnahmen empfohlen.
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über soziale und freundschaftliche Kontakte.
Der Beschwerdeführer lebt aktuell von Leistungen der Grundversorgung für Asylweber.
Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer hat den Libanon nicht aufgrund individueller asylrelevanter Verfolgung verlassen. Er ist bei einer Rückkehr dorthin auch nicht der Gefahr einer solchen ausgesetzt. Er kann dort neuerlich den Beistand von UNRWA in Anspruch nehmen.
Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr in den Libanon auch nicht aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und findet dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor.
1.2. Zur Lage im Libanon wird festgestellt:
Allgemeine politische Lage
Überblick
Libanon ist eine parlamentarische Demokratie nach konfessionellem Proporzsystem. Das politische System basiert auf der Verfassung von 1926, dem ungeschriebenen Nationalpakt von 1943 und dem im Gefolge der Taif-Verhandlungen am 30. September 1989 verabschiedeten „Dokument der Nationalen Versöhnung“. Bei der im Abkommen von Taif vorgesehenen allmählichen Entkonfessionalisierung des politischen Systems gibt es bisher keine Fortschritte.
Der Nationalpakt von 1943 sieht die Verteilung der politischen Macht nach konfessionellen Gesichtspunkten vor. Danach muss der Staatspräsident stets christlicher Maronit, der Ministerpräsident Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit sein. Die 128 Abgeordnetensitze im Parlament werden nach einem detaillierten Schlüssel für die 18 anerkannten Religionsgemeinschaften je zur Hälfte von Christen (zwölf anerkannte christliche Konfessionen) bzw. Muslimen (Sunniten, Schiiten sowie Drusen und Alawiten) besetzt. Das libanesische System wird von der Zusammenarbeit der verschiedenen religiösen Gruppen getragen; daneben spielen Familien- und regionale Interessen eine große Rolle.
Parlamentswahlen werden gemäß Wahlgesetz Nr. 35/2008 im Abstand von vier Jahren abgehalten. Wahlberechtigt ist jeder Staatsbürger ab einem Alter von 21 Jahren, welcher nicht in den Sicherheitskräften dient oder inhaftiert ist. Eine gesonderte Wählerregistrierung ist nicht erforderlich. Die nach den letzten Wahlen am 7. Juni 2009 gebildete Regierung stürzte im Januar 2011 über die Frage des Sondertribunals für den Libanon (STL). Nach mehreren Vakanzen und einer geschäftsführenden Regierung unter Vorsitz von Nadjib Miqati wurde Mitte Februar 2014 eine Regierung der nationalen Einheit unter Vorsitz von Tamam Salam vereidigt, auf die im Dezember 2016 nach einer erneuten Vakanz eine Regierung unter Vorsitz von Saad Hariri folgte. Dieser Regierung gehören sunnitische, christliche, drusische und schiitische Minister (auch Minister der Hisbollah) an. Im Juni 2013 hätten regulär Parlamentswahlen stattfinden sollen, die jedoch zweimal verschoben werden mussten. Nach Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes im Juni 2017 konnten am 6. Mai 2018 die seit 5 Jahren überfälligen Parlamentswahlen durchgeführt werden. Die EU beobachtete die Wahlen und bezeichnete sie als insgesamt „frei und fair“. Die Regierungsbildung zog sich danach bis Ende Januar 2019 hin. Das unter der Führung von Premierminister Hariri gebildete Kabinett aus 30 Ministern konnte jedoch nur kurze Zeit Regierungsarbeit verrichten, da Hariri am 29.10.2019 zurücktrat.
Der Präsident (stets ein maronitischer Christ) wird für eine Amtszeit von sechs Jahren vom Parlament gewählt. Nach über zweijähriger Vakanz wurde Michel Aoun am 30.10.2016 zum Präsidenten gewählt.
Der Bürgerkrieg (1975 bis 1991) ruinierte das Land vollständig. In den nachfolgenden Jahren wurde unter Premierminister Rafik Hariri (Vater des derzeit geschäftsführend amtierenden PM Saad Hariri), der 2005 einem Attentat zum Opfer fiel, der Wiederaufbau des Landes vorangetrieben. Nach dem bewaffneten Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah im Sommer 2006 geriet der Libanon in eine lang anhaltende innenpolitische Krise, die im Frühjahr und Sommer 2008 nach fast zwei Jahren in bewaffneten Auseinandersetzungen gipfelte. Im Rahmen einer Verhandlungslösung (Kompromiss von Doha) fand sie ihren Abschluss in der erfolgreichen Durchführung der Parlamentswahlen 2009 und der Ernennung des Präsidenten Michel Sleiman.
Auch wenn die verschiedenen innerstaatlichen Konflikte institutionell gelöst scheinen, bestehen die Ursachen weiter. Die destabilisierenden regionalen politischen und konfessionellen Spannungen haben infolge der Krise in Syrien seit Anfang 2011 deutlich zugenommen. So ist die Hisbollah erklärtes Ziel sunnitischer Extremisten, die sich mit Selbstmordanschlägen gegen schiitische Wohn- und Einflussgebiete für den Kampf der Schiiten-Miliz an der Seite von Baschar al-Assad in Syrien rächen wollen. Die größte christliche Partei des Landes (Free Patriotic Movement) ist demgegenüber politisch mit der Hisbollah verbündet und betrachtet diese als Stabilisierungsfaktor für Libanon und seine religiösen Minderheiten.
Die politische und militärische Rolle von Hisbollah bleibt damit struktureller Streitpunkt für Libanon. Ihr politischer Arm hat dreizehn Vertreter im Parlament und 3 Minister (von denen der Gesundheitsminister Jabak formal kein Hisbollah-Mitglied ist) im Kabinett. Ihr „militärischer Arm“ ist von der EU seit 2013 als terroristische Vereinigung gelistet. Die Hisbollah bildet zumindest in ihren Hochburgen (Teile der Bekaa-Ebene, südliche Beiruter Vororte, Teilgebiete des Südens) weiterhin eine Art Staat im Staate und übernimmt dort neben sozialen und politischen Aufgaben faktisch auch die Funktion einer Sicherheitsbehörde. Parallel bestehen kleinere bewaffnete Milizen der AMAL-Partei des Parlamentspräsidenten Nabih Berri, drusische Bürgerwehren sowie christliche Milizen (etwa der Partei „Lebanese Forces“ sowie in Nähe zur Kataeb-Partei oder zur griechisch-orthodoxen Kirche), die sich im Spätsommer 2015 auch an Kampfhandlungen gegen aus Syrien einsickernde sunnitische Extremisten beteiligt haben.
Die Verfassungsinstitutionen, insbesondere Parlament, Regierung und Justizwesen, funktionieren im Prinzip nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, sind aber in ihrer tatsächlichen Arbeit politischen Einflussnahmen ausgesetzt. Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgeschrieben, wird in der Praxis aber nur eingeschränkt respektiert; insbesondere in politisch brisanten Ermittlungsverfahren kommt es zu Versuchen der Einflussnahme auf die Justiz, z. B. bei der Ernennung von Staatsanwälten und Ermittlungsrichtern oder zum Schutz politischer Parteigänger vor Strafverfolgung.
Neben den in mehrere Instanzen gegliederten und strukturell dem französischen Justizwesen angeglichenen Zivilgerichten existieren in Libanon konfessionelle Gerichtsbarkeiten, in deren Zuständigkeit die familienrechtlichen, bei den islamischen Religionsgemeinschaften auch die erbrechtlichen Verfahren, fallen.
Die Einhaltung der in der Verfassung garantierten richterlichen Unabhängigkeit ist in der praktischen Durchführung durch verbreitete Korruption, chronischen Richtermangel und zum Teil auch politische Einflussnahme eingeschränkt.
Die allgemeine Sicherheitslage ist insbesondere durch die derzeitigen Massenproteste und Verkehrsblockaden unübersichtlicher geworden, stellt aber zunächst keine allgemeine Bedrohungslage dar. Im Grenzgebiet zu Israel kam es Ende 2018 (Aufdeckung von Tunnelanlagen durch die israelische Armee und kurzfristiger gegenseitiger Artilleriebeschuss im September 2019) zu erhöhten Spannungen, welche aber keine allgemeine Bedrohung der dortigen Bevölkerung darstellten. Anfang September beschoss die Hisbollah israelische Militärstellungen und -fahrzeuge nahe der Ortschaft Avivim an der israelisch-libanesischen Grenze mit mehreren Panzerabwehrlenkraketen. Israel hat seinerseits mit Artilleriebeschuss auf Ziele im südlichen Libanon reagiert. Nach wenigen Stunden wurden die Gefechte beidseitig wieder eingestellt. Die Angriffe der Hisbollah erfolgten nach eigenen Angaben als Vergeltungsaktion auf einen israelischen Angriff in Syrien am 24.8., bei dem zwei Hisbollah-Kämpfer getötet wurden, sowie einen Drohnenangriff in Süd-Beirut am 25.8., bei dem mutmaßlich eine Maschine zur Herstellung von Kurzstreckenraketen zerstört wurde.
Es kommt immer wieder zu teils schweren Auseinandersetzungen in den Palästinenser-Camps bzw. Ansiedelungen, z.T. mit Todesopfern. Zuletzt kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Palästinenserfraktionen in den Lagern Ain El-Hilweh sowie Mieh-Mieh (s. a. Ziff. II. 1.3.1.). Terroristische Gruppen stehen unter hohem Verfolgungsdruck der Sicherheitskräfte. Dennoch muss weiter mit Attentaten gerechnet werden.
2. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen
In Libanon sind zahlreiche lokale und internationale, im öffentlichen Leben deutlich wahrnehmbare Menschenrechtsorganisationen tätig. Sie können grundsätzlich frei arbeiten. Die Anwaltskammer Beirut veranstaltet regelmäßig öffentliche Seminare zum Schutz der Menschenrechte. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen arbeiten offiziell mit staatlichen Stellen bei der Aus- und Fortbildung von Sicherheitskräften und anderen Staatsbediensteten zusammen, deren Arbeit Auswirkungen auf die Menschenrechtslage haben kann. Vertreter internationaler Organisationen wie Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) können sich im Land frei bewegen. HRW unterhält ein Regionalbüro in Beirut und publiziert – wie lokale NROs – regelmäßig kritische Berichte zur Menschenrechtslage im Land. Dennoch: Versuche der Einschüchterung und Beeinflussung durch politische Institutionen oder nicht-staatliche Akteure kommen vor. Libanon hat nach mehrjährigen Vorarbeiten im Herbst 2016 den Aufbau einer nationalen Menschenrechtsinstitution beschlossen, die seit Mai 2018 mit 10 Mitgliedern besetzt ist.
Im Libanon ist eine Delegation des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) vertreten. Das IKRK befasst sich mit der Situation in den Gefängnissen. Im Februar 2007 hat das IKRK ein Protokoll mit der Regierung unterzeichnet, welche ihm auch den Zugang zu den Gefängnissen der Armee und des Verteidigungsministeriums erlaubt.
Rolle und Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden und des Militärs
Die führenden Positionen in den Sicherheitsbehörden werden u. a. nach konfessionellem Proporz vergeben. Die Forces de Sécurité Intérieure (FSI) ist die allgemein zuständige Polizei des Staates und gleichzeitig Hilfsorgan der Justiz (z. B. zum Führen des Kriminalregisters), sie wird durch einen sunnitischen General geleitet und steht der (ebenfalls sunnitischen) geschäftsführenden Innenministerin nahe. Die demgegenüber schiitisch geprägte General Security hat neben Fragen der Ein- und Ausreisekontrollen auch eine nachrichtendienstliche
Funktion inne. Ihr Leiter wird der AMAL-Partei von Parlamentspräsident Berri zugeordnet. Ein Polizeigesetz im engeren Sinne gibt es nicht. Anders als die beiden anderen Sicherheitskräfte gilt die Armee als parteipolitisch und konfessionell weitgehend neutral (trotz eines stets christlichen Oberbefehlshabers und zahlreicher christlicher Generäle) und genießt grundsätzlich hohes Ansehen in allen Bevölkerungsteilen. Sie nimmt in Libanon auch Aufgaben der inneren Sicherheit wahr, z. B. an den weit verbreiteten Kontrollpunkten. Daneben gibt es noch mehrere vorwiegend nachrichtendienstlich tätige Sicherheitsbehörden (Amn ad-Daula – Staatssicherheit; Amn al-Dschaisch – militärische Sicherheit; Sicherheitsdienst der Quwat alAmn ad-Dakhili – Polizeikräfte; Nachrichtendienstliche Abteilung der General Security). Alle genannten Institutionen und Dienste arbeiten seit Frühjahr 2014 zwar verstärkt miteinander, gleichwohl sind ihre Kompetenzen nicht randscharf voneinander abgegrenzt. Dass die Institutionen einer bestimmten Konfession und ihrem politischen Lager zuzuordnen sind, beeinflusst teilweise spürbar die Zusammenarbeit untereinander.
Asylrelevante Tatsachen
Staatliche Repressionen
Es gibt keine Anhaltspunkte für gezielte staatliche Repressionen gegen bestimmte Personengruppen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Palästinensische und syrische Flüchtlinge unterliegen allerdings handfesten rechtlichen und tatsächlichen Einschränkungen.
Politische Opposition
Politische Betätigung ist in den vom Staat anerkannten Parteien und Organisationen möglich. Neu gegründete Organisationen – das schließt auch NROs ein – müssen sich beim Innenministerium registrieren lassen. Politische Parteien müssen vom Kabinett genehmigt werden, ein Gesetz zu Parteien (und deren Finanzierung) im engeren Sinne existiert nicht. Das 2016 novellierte Wahlgesetz beinhaltet nun zwar auch verhältniswahlrechtliche Elemente, hält aber am bestehenden religiösen Proporzsystem (je 50 % der Parlamentsmandate für Christen und Muslime; komplizierte, nicht kodifizierte Regeln für die Verteilung der Ministerposten) fest.
Es sind aktuell keine Fälle politischer Inhaftierungen bekannt.
Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
In der von „Reporter ohne Grenzen“ geführten Rangliste zur Pressefreiheit fiel Libanon im Jahr 2019 um einen Platz auf den 101. (von 180 Ländern) zurück (regionaler Vergleich Jordanien: 130, Vereinigte Arabische Emirate: 133, Irak: 156, Türkei: 157). Grund für diese Einstufung ist insbesondere die Tatsache, dass Journalisten wegen übler Nachrede und des Verbreitens falscher Informationen bestraft werden können, sowie die Arbeit des Bureau of Cybercrime, das bei privaten Beschwerden gegen Posts auf sozialen Netzwerken gegen Journalisten vorgehen kann. Es gibt immer wieder Berichte über kurzfristige Verhaftungen oder Verhöre von Online-Aktivisten, denen Verstöße wie Beleidigung des Staatsoberhaupts, Verleumdung öffentlicher Behörden oder Provokation konfessioneller und rassistischer Auseinandersetzungen vorgeworfen wurden.
Die Einfuhr von ausländischen Kulturerzeugnissen (Filme/Bücher) unterliegt einer Vorzensur durch die General Security, welche gelegentlich „polemische“, pornografische oder „den religiösen Frieden gefährdende“ Werke untersagt (2017 etwa den US-Actionfilm „Wonder Woman“, dessen Hauptdarstellerin Gal Gadot Israelin ist). Aufgrund des florierenden Handels mit Raubkopien laufen Verbote von audiovisuellen Medien aber praktisch leer. Ausnahme bleiben im Rahmen des allgemeinen Wirtschaftsboykotts alle Kulturprodukte aus Israel (mit dem sich der Libanon formal seit 1948 im Krieg befindet).
Bei Neugründung von Vereinigungen – darunter fallen sowohl NROs als auch Parteien – ist ein zweistufiges Anmeldeverfahren beim Innenministerium einzuhalten, welches 2008 vereinfacht wurde. Rechtlich erschwert bleibt die Gründung von Organisationen durch Ausländer; dies macht es palästinensischen und syrischen Flüchtlingen de facto unmöglich, unabhängig von libanesischen Partnern NROs zur Verfolgung ihrer Interessen zu gründen. In der Praxis treten libanesische Staatsangehörige für palästinensische und syrische Flüchtlinge als Gründer und Organe auf.
Die Demonstrationsfreiheit ist gewährleistet. Für Demonstrationen ist im Vorfeld eine Anmeldung durchzuführen. Gelegentlich werden Demonstrationen – insbesondere aus dem salafistischen Spektrum – aus Sicherheitsgründen untersagt. Die von der Verfassung garantierte Versammlungsfreiheit wird respektiert, wie Massendemonstrationen und Veranstaltungen der unterschiedlichen politischen Lager regelmäßig unter Beweis stellen. Gleichwohl kommt es dabei gelegentlich zu Polizeigewalt gegen Demonstranten (etwa in Form von Gummigeschossen und Tränengas).
Minderheiten
Flüchtlinge
Von besonderer Brisanz ist die Frage der syrischen Flüchtlinge in Libanon (geschätzt 1,3 Mio.; das Land hat somit den höchsten Pro-Kopf-Anteil an Flüchtlingen weltweit). Die libanesische Regierung drängt auf internationale Unterstützung bei der Rückführung der Flüchtlinge nach Syrien. Große Teile der libanesischen Regierung sehen unter Verweis auf die sukzessive Rückerlangung der Territorialkontrolle durch das syrische Regime die Bedingungen für eine sichere und freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien als gegeben an. UNHCR widerspricht dieser Einschätzung.
Libanon ist bislang keiner internationalen Konvention zur Regelung des Status von Flüchtlingen beigetreten und erwägt dies auch weiterhin nicht. Die Regierung gewährt kein Asyl, hat aber seit September 2003 durch ein „Memorandum of Understanding“ in Absprache mit dem UNHCR ein faktisches und verlängerbares Bleiberecht von höchstens einem Jahr für Flüchtlinge geschaffen, das allerdings nicht für Altfälle gilt. Die Regierung duldet ferner den vorübergehenden Aufenthalt von Asylsuchenden, die vom UNHCR betreut werden, bis zu einer Dauer von sechs Monaten.
Libanon hat sich zwar wiederholt zum Prinzip des Non-Refoulement bekannt, rechtliche Garantien gibt es jedoch weiterhin keine. 2019 kam es zu mehreren Abschiebungen von syrischen Flüchtlingen nach Syrien ohne rechtsstaatliches Verfahren. Dabei wurden die Flüchtlinge direkt an staatliche syrische Behörden übergeben und nicht nur an die Grenze verbracht. Aufgrund dieser Rechtsunsicherheit ist jeder Flüchtling oder jeder sich illegal im Land aufhaltende Ausländer von Abschiebehaft und Abschiebung bedroht (Ausnahme: Palästinenser). Libanon führt mitunter aus Syrien einreisende Personen an die syrische Grenze zurück, wenn sich im Laufe ihres Aufenthalts im Land herausstellt, dass die Einreise in den Libanon mit gefälschten Dokumenten erfolgte. Außerdem werden über den internationalen Flughafen Beirut einreisende Syrer in der Regel an den Ausgangsflughafen zurückgeschickt, wenn sie nicht über einen Aufenthaltstitel für den Libanon verfügen.
Syrische Flüchtlinge ohne libanesische Aufenthaltsgenehmigung erhalten im Rahmen von Personenkontrollen regelmäßig schriftliche Aufforderungen zur Ausreise. Diese werden nun zunehmend auch vollstreckt, insbesondere bei Syrern, die nach April 2019 irregulär eingereist sind.
Derzeit betont die Regierung, dass man nur die freiwillige Ausreise unterstütze. Hierfür seien landesweit 18 Informationsbüros eingerichtet worden, in denen rückkehrwillige Flüchtlinge Unterstützung einholen können.
Die von verschiedenen Seiten genannten Zahlen zu Rückkehrern nach Syrien divergieren stark. Laut libanesischer Regierung (General Security) seien innerhalb eines Jahres rund 120.000 Syrer freiwillig nach Syrien zurückgekehrt. UNHCR nennt dagegen deutlich niedrigere Zahlen (rund 18.000 in 2019, Stand Oktober). UNHCR erhält innerhalb Syriens bislang so gut wie keinen Zugang zu Rückkehrern.
Lebensbedingungen syrischer Flüchtlinge im Libanon:
Die Situation syrischer Flüchtlinge ist prekär. Laut VN hat die Hälfte der Flüchtlingshaushalte weniger als 2,9 USD pro Person pro Tag zur Verfügung, ein Drittel gilt als ernährungsunsicher und 36% leben unter unzulänglichen sanitären Bedingungen. Aufgrund des Widerstands der Regierung durften keine offiziellen Flüchtlingslager eingerichtet werden.
Im April 2019 fand eine Sitzung des Hohen Verteidigungsrats zum Umgang mit syrischen Flüchtlingen statt, die u.a. Vorgaben zu Flüchtlingsunterkünften sowie zur Abschiebung und zu Arbeitsmöglichkeiten verschärfte. In der Folge kam es zu Abrissen von semipermanenten Strukturen von Flüchtlingen, da laut libanesischem Recht nur temporäre Strukturen (z.B. Zelte ohne Holzverstärkung) erlaubt sind.
Flüchtlinge dürfen weiterhin nur in drei Sektoren (Landwirtschaft, Bausektor und Müllentsorgung) arbeiten, benötigen dafür aber nach o.g. Beschlüssen eine offizielle Arbeitsgenehmigung, die so gut wie nie erteilt wird. In der Folge wurden noch mehr Flüchtlinge in irreguläre Arbeitsverhältnisse gedrängt. Es werden regelmäßig Razzien der Sicherheitsbehörden gegen im informellen Sektor tätige Flüchtlinge durchgeführt. Flüchtlinge haben nur bedingt Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung. Mehr als die Hälfte der syrischen Kinder sind nicht in der Schule. Der Besuch staatlicher libanesischer Schulen ist syrischen Kindern im Prinzip gestattet. Oftmals werden Kinder bei der Anmeldung an Schulen jedoch dennoch abgewiesen. Zudem steigt mit der Armut unter Flüchtlingen auch Kinderarbeit und Ausbeutung von Jugendlichen, was einen Schulbesuch verhindert.
Lebensbedingungen von Palästinensern:
Etwa 425.000 palästinensische Flüchtlinge sind bei UNRWA registriert; es ist davon auszugehen, dass sich davon bis zu 200.000 tatsächlich im Land aufhalten.
Repressionen allein aufgrund der palästinensischen Volkszugehörigkeit sind nicht bekannt. Palästinensischen Flüchtlingen werden aber weiterhin politische und wirtschaftliche Rechte verwehrt, sie dürfen, anders als andere Ausländer, in Libanon seit 2001 keinen Grund und Boden mehr erwerben. Auch wenn einige Berufe den Palästinensern zugänglich gemacht werden, bestehen rechtliche Hindernisse und gesellschaftliche Diskriminierung. So wird von Palästinensern stets eine Arbeitserlaubnis verlangt; freie Berufe (Arzt, Rechtsanwalt etc.) können nicht ausgeübt werden. Der Besuch staatlicher Schulen ist ihnen untersagt, sie haben Zugang zu den (unterfinanzierten) UNRWA-Schulen. Palästinensische Studenten müssen sich auf die für Ausländer reservierten 10 % der Studienplätze bewerben. Für ihre Schulbildung und gesundheitliche Versorgung hängt die Lagerbevölkerung ausschließlich vom UNRWA Hilfswerk bzw. Hilfeleistungen anderer NROs (z. B. des Palästinensischen Roten Halbmondes) ab. Palästinenserinnen können per Gesetz durch Heirat die libanesische Staatsbürgerschaft erlangen, doch werden ihnen häufig gesetzlich nicht vorgesehene administrative Hürden in den Weg gestellt (z. B. Einbürgerung erst nach Geburt eines Sohnes). Libanesische Frauen, die mit einem Palästinenser (oder anderem Ausländer) verheiratet sind, können ihre Staatsangehörigkeit weder an ihren Ehemann, noch an ihre Kinder weitergeben.
Bis zu 45 % der Palästinenser leben unter zum Teil sehr schwierigen und beengten Verhältnissen in den zwölf über das ganze Land verteilten palästinensischen Flüchtlingslagern. Diese sind der Kontrolle durch staatliche Gewalt weitgehend entzogen. Die Sicherheit innerhalb der Lager wird teilweise durch palästinensische bewaffnete Ordnungskräfte und Volkskomitees gewährleistet, die von der jeweils politisch bestimmenden Fraktion gestellt werden Ausnahme stellt das Lager Nahr El Bared dar, das unter libanesischer Kontrolle steht. Die libanesische Armee beschränkt sich auf Zugangskontrollen und die Sicherung der Umgebung. Alle Lager sind massiv von Hilfeleistungen der chronisch unterfinanzierten UNRWA abhängig, deren Lage sich seit Mitte 2018 durch die massive Kürzung der zuvor substanziellen US-Unterstützung noch weiter zugespitzt hat. Immer wieder kommt es speziell in den Lagern Mie-Mie und Ain-el-Hilwe zu schweren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen extremistischen Gruppierungen (Jund al-Scham, Abdullah-Azzam-Brigaden, Ansar Allah etc.). Die libanesischen Sicherheitskräfte greifen in diese Auseinandersetzungen entgegen der bisherigen, per Abkommen geregelten Praxis immer häufiger ein, weil die eigentlich zuständigen palästinensischen Sicherheitsbehörden zunehmend überfordert scheinen.
Die in den Lagern lebenden Palästinenser benötigen keine spezielle Erlaubnis, um sie zu verlassen. Die General Security stellt registrierten palästinensischen Flüchtlingen Reisedokumente (Document de Voyage) aus. Deutschland erkennt diese Dokumente zur Ersteinreise im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der EU-Staaten nicht an; Betroffene müssen daher stets die „Ausnahme von der Passpflicht“ beantragen.
Besonders schwierig ist die Lage palästinensischer Flüchtlinge, die weder über eine Registrierung bei UNRWA, noch beim libanesischen Staat verfügen (ca. 3.000 Personen). Diese so genannten „Non-ID-Palestinians“ laufen Gefahr, wegen illegalen Aufenthalts verhaftet zu werden, sobald sie die Lager verlassen. Auch wenn auf Drängen (nicht zuletzt der EU) bisher ca. 1.000 Identitätsnachweise ausgestellt wurden, bleibt die Rechtsstellung der betroffenen Personen unverändert prekär.
Religionsfreiheit
Die Religionsfreiheit ist von der Verfassung geschützt. Es gibt 18 staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften, davon sind 12 christlich. Christen wie Muslime üben ihre Religion offen und ohne Einschränkung aus. Für Personenstandsrechte, Familien- und Erbrecht sind die Religionsgemeinschaften und ihre jeweilige Rechtsprechung zuständig.
Der Proporz der 18 Gruppen stellt sich wie folgt dar: Zu den Muslimen zählen: Schiiten (27 - 30 %), Sunniten (25 – 30 %), Drusen (rund 5 %), Alawiten und Ismailiten. Zu den Christen zählen: Maroniten (27 - 33%), Griechisch-Orthodoxe, Griechisch-Katholiken, ArmenischOrthodoxe, Armenisch-Katholiken, Römisch-Katholiken, Protestanten, Syrisch-Orthodoxe, Assyrisch-Chaldäer, Syrisch-Katholiken, Chaldäer und Kopten. Zudem gibt es eine kleine Anzahl an Juden, die sich aber nicht öffentlich zu erkennen geben. Da es seit 1932 keinen Zensus mehr gab, stellen die Angaben lediglich Schätzungen dar.
Interreligiöser Dialog hat in Libanon einen festen Platz und findet teilweise in institutionalisierter Form auf hoher Ebene statt. Wiederholt haben die drei höchsten religiösen Repräsentanten gemeinsame Erklärungen zu politischen Themen abgegeben. Der VN-
Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Prof. Heiner Bielefeldt, betonte im Anschluss an seinen Besuch in Libanon im April 2015, dass der Religionspluralismus in Libanon und das friedliche Zusammenleben über konfessionelle Grenzen hinweg Vorbildcharakter für die Region habe. Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit, zu einer anderen Konfession überzutreten (Gesetz von 1951). In der Praxis kommt dies in Ausnahmefällen vor (Eheschließung, Erbrecht). Konvertiten können nur eingeschränkt mit Verständnis ihres familiären oder gesellschaftlichen Umfelds rechnen und werden je nach familiärem Umfeld auch physisch bedroht. Staatlichen Repressionen sind Konvertiten nicht ausgesetzt.
Die Ehe kann nur durch anerkannte Religionsgemeinschaften und in religiöser Form geschlossen werden. Konfessionelle Mischehen waren nur in wenigen Fällen und unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, die letztlich darauf abzielen, dass ein Ehegatte zum Glauben des anderen konvertiert. Die vor einer anerkannten religiösen Instanz geschlossenen Ehen müssen anschließend in das libanesische Personenstandsregister eingetragen werden, damit die Eheurkunde rechtliche Beweiskraft erlangen kann. Eine zivile Eheschließung in Libanon ist weiterhin nicht möglich. Zivile Eheschließungen im Ausland (in der Regel auf Zypern), auch zwischen Partnern unterschiedlicher Konfessionen, werden vom libanesischen Staat aber anerkannt; auch sie müssen nachträglich registriert werden.
Es gibt keine Anhaltspunkte für staatliche Repressionen gegen Angehörige anderer als der 18 anerkannten Konfessionen (z. B. Buddhisten, Hindus, Sikhs, Bahai, Mormonen, evangelikale Freikirchen). Berufswahl, Karrierechancen und die Möglichkeit zur Ausübung öffentlicher Ämter sind angesichts des libanesischen Proporzsystems für Angehörige staatlich nicht anerkannter Religionsgemeinschaften und bekennende Atheisten jedoch eingeschränkt.
Ausweichmöglichkeiten
Die staatlichen Institutionen haben in Teilen des Landes keinen uneingeschränkten Zugriff. Er fehlt umfassend in einigen der palästinensischen Flüchtlingslager.
Auch in anderen Landesteilen schränkt die Existenz nichtstaatlicher Akteure die Zugriffsmöglichkeiten der Staatsorgane ein. Dies gilt insbesondere für die südlichen Vororte Beiruts und die schiitischen Siedlungsgebiete in der Bekaa-Ebene und im Süden des Landes, in denen die Hisbollah präsent ist und Druck auf staatliche Institutionen ausübt.
Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure kann in der Regel durch Verlegung des Wohnorts außerhalb des Einflussbereichs dieser Akteure umgangen werden. Beispielsweise ist der Einfluss der Hisbollah im christlichen Kerngebiet des Mont Liban oder im sunnitischen Tripoli sehr gering.
Menschenrechtslage
Schutz der Menschenrechte in der Verfassung
Die Präambel der Verfassung stellt ausdrücklich fest, dass Libanon die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen beachtet. Libanon ist Vertragsstaat folgender wichtiger internationaler Menschenrechtsabkommen:
- Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte,
- Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte,
- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der rassischen Diskriminierung,
- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau,
- Übereinkommen über die Rechte des Kindes,
- Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe; Libanon hat am 22. Dezember 2008 als erster Staat der Region auch das Fakultativprotokoll ratifiziert.
Libanon hat 2007 das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet, allerdings bisher beide nicht ratifiziert. Ebenso wenig sind die meisten der Fakultativprotokolle zu den Menschenrechtsabkommen ratifiziert worden, so beispielsweise auch nicht das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OP2-ICCPR) von 1991. Libanon ist bislang keinem internationalen Übereinkommen zum Status von Flüchtlingen beigetreten.
Im November 2020 wird die Menschenrechtslage in Libanon zum dritten Mal im Rahmen des allgemeinen Überprüfungsverfahrens des VN-Menschenrechtsrats („Universal Periodic Review“ (UPR)) überprüft.
Aktuell stehen Anfragen des VN-Sonderberichterstatters zu Folter (2017), Rassismus (2018) und Meinungsfreiheit (2019) aus. Für 2020 wurde der Besuch des VN-Sonderberichterstatters zur Unabhängigkeit von Richtern genehmigt.
Folter
Im Mai 2017 hat Libanon seinen ersten Bericht dem VN-Ausschuss gegen Folter (CAT) vorgelegt, der wesentliche Anmerkungen und Empfehlungen eingebracht hat. Im Oktober 2017 wurde ein Gesetz zum Verbot von Folter verabschiedet, welches erstmals die Nutzung von unter Folter erpressten Informationen für die Nutzung vor Gericht untersagt und zudem progressive Züge trägt. Allerdings erfüllt dieses Gesetz nicht die Anforderungen, die Art. 7 des ICCPR aufgestellt hat. Während Inhaftierungen (vor allem in Untersuchungshaft und bei Verhören) kann es jedoch weiterhin zu Folter oder folterähnlichen Handlungen kommen. So berichtete 2018 der bekannte Schauspieler Ziad Itani von Tritten, Schlägen, Elektroschocks und Kettenhieben in Polizeigewahrsam, um ein Geständnis zu erwirken. Eine im November 2018 wegen Drogenbesitz festgenommene Person berichtete von Schlägen und Stromstößen im Genitalbereich. Die Person verstarb am 11.05.2019.
Ermittlungs- oder Strafverfahren wegen Foltervorwürfen sind bisher nur in Einzelfällen bekannt geworden. Jedwede Form „systematischer Folter“ streitet die Regierung ab. Es handele sich um „Exzesse Einzelner“, gegen die man noch stärker auf strafrechtlicher Grundlage vorgehen werde.
Menschenrechtsorganisationen haben (anders als das IKRK seit 2007) keinen Zutritt zu den Militärgefängnissen und zum Verhörzentrum im Verteidigungsministerium.
Die libanesische Menschenrechts-Aktivistin Suzanna Jabbour ist seit 2018 Mitglied im VNAntifolterausschuss (CAT).
Todesstrafe
In Libanon droht die Todesstrafe für folgende Delikte des allgemeinen Strafrechts:
a) Hochverrat und ähnliche Delikte (Art. 273, 274, 275 u. 276 lib. StGB),
b) Aufruhr und Aktionen, die den Bürgerkrieg schüren (Art. 308),
c) Terrorismus in besonders schweren Fällen (Art. 315),
d) Bildung von kriminellen Banden in besonders schweren Fällen (Art. 336),
e) Totschlag mit Vorsatz (Art. 549),
f) Verbrechen gegen die Verkehrssicherheit mit Todesfolge (Art. 599) sowie für folgende Straftatbestände des militärischen Strafrechts: g) Fahnenflucht und Überlaufen zum Feind (Art. 110 lib MilitärStGB),
h) Kapitulation vor dem Feind (betrifft nur regionale Militärbefehlshaber, Art. 121),
i) Hochverrat, militärischer Umsturz und Spionage (Art. 123, 124 und 130),
j) Befehlsverweigerung im Kriegsfall (Art. 152),
k) Verlassen eines sinkenden Kriegsschiffes (gilt nur für Kommandanten, Art. 168).
Im Januar 2004 fanden trotz heftiger Proteste der Öffentlichkeit und der EU – nach jahrelangem Moratorium – drei Hinrichtungen statt. 2017 waren nach NRO-Angaben 75 Personen in Haft, gegen welche die Todesstrafe verhängt wurde. Im Jahr 2018 wurden 5 Personen zum Tode verurteilt. Bisher ist es jedoch zu keinen weiteren Vollstreckungen gekommen. Bei Verfahren vor dem Sondergerichtshof für den Libanon (Special Tribunal for Lebanon, STL) ist die Verhängung der Todesstrafe explizit ausgeschlossen.
Sonstige menschenrechtswidrige Handlungen
Extralegale Tötungen
In Libanon sind keine extralegalen Tötungen durch libanesische Staatsorgane bekannt geworden. Extralegale Hinrichtungen können aber für militärische Kampfhandlungen in Gebieten außerhalb staatlicher Kontrolle nicht ausgeschlossen werden. Bei einem Antiterroreinsatz der libanesischen Armee in der Gegend von Arsal am 30.06.2017 wurden 350 Personen vorübergehend festgenommen, mindestens 4 starben im Gewahrsam der Armee, nach Armeeangaben in Folge bereits bestehender gesundheitlicher Probleme. Menschenrechtsgruppen fordern eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge. Der Fall soll militärgerichtlich aufgearbeitet werden.
Verschleppungen, Verschwindenlassen und willkürliche Festnahmen
Menschenrechtsorganisationen wie „Support for Lebanese in Detention and Exile“ beklagen glaubhaft die „Mittäterschaft“ des Militärs und der Sicherheitskräfte bei willkürlichen Festnahmen und Verschleppungen in syrischem Auftrag bis zum Abzug syrischer Truppen im Jahr 2005. Das Schicksal der Verschwundenen ist nicht aufgeklärt worden. Ende 2008 verhaftete der militärische Nachrichtendienst in Tripoli ein Mitglied einer syrischen Oppositionsgruppe. Die Behörden geben an, ihn am Folgetag entlassen zu haben, doch ist der Betroffene seitdem verschollen.
Auch in der Frühphase der Syrienkrise kam es in Libanon mehrfach zu Verschleppungen syrischer Regimegegner und zur Rücküberstellung von desertierenden syrischen Soldaten durch die libanesischen Sicherheitskräfte. Nach massivem Druck der internationalen Gemeinschaft kam es seit Mitte 2011 nicht mehr zu solchen Vorfällen und zu Verschleppungen. Hinweise aus der Zivilgesellschaft und von Menschenrechtsgruppen auf vereinzelte Festnahmen und Auslieferungen an syrische Behörden konnten bislang nicht verifiziert werden.
Die Sicherheitsbehörden, insbesondere der militärische Nachrichtendienst, sollen nach Angaben von NROs immer wieder Festnahmen vornehmen, auch wenn kein dafür erforderlicher richterlicher Beschluss vorliegt, bzw. Personen festhalten, nachdem die gesetzlich vorgesehene Frist von 48 Stunden nach Festnahme verstrichen ist. Die Regierung gibt derartige Vorkommnisse durchaus zu, macht aber geltend, dass entsprechende richterliche Beschlüsse jeweils nachgeholt würden und längere Haftdauern im Polizeigewahrsam nur deswegen zu Stande kämen, weil die Gefängnisse überfüllt seien. Über Verschleppungen und Inhaftnahme durch nichtstaatliche Akteure, v. a. Hisbollah, wurde vereinzelt berichtet.
Die VN „Working Group“ gegen Verschwindenlassen hat bereits mehrmals nach einem Länderbesuch in Libanon angefragt (November 2015, Januar und Juni 2018), jedoch keine Antwort erhalten.
Rückkehrfragen
Grundversorgung
Trotz des relativ hohen Pro-Kopf-Einkommens leben ca. 28 % der libanesischen Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze von ca. 4 USD pro Tag, d. h. knapp 1 Mio. Menschen, Tendenz insbesondere aufgrund der aktuellen Wirtschaftslage steigend. Insbesondere im NordLibanon (Akkar-Gebiet), in der nördlichen Bekaa-Ebene (insb. Hermel-Gebiet) sowie in SüdLibanon bestehen hohe Armutsraten. Die Arbeitslosigkeit unter Libanesen liegt offiziell bei 7 %, unter libanesischen Jugendlichen bei 21,7 %. Für arme Libanesen besteht bislang nur ein rudimentäres System der sozialen Sicherung in Form des nationalen Armutsprogramms. Derzeit erhalten lediglich 10.000 Familien Nahrungsmittelhilfe in Höhe von 27 USD pro Kopf/pro Monat über das nationale Armutsprogramm.
Es existiert weder eine allgemeine Arbeitslosen- noch eine Rentenversicherung (nur eine arbeitsrechtliche Austrittsprämie, die mit Blick auf die Arbeitsjahre berechnet wird). Wesentliches Element sozialer Sicherung ist die Familie, daneben karitative und religiöse Einrichtungen (immer nur für die jeweilige Religionsgruppe). Es gibt keine speziellen Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer.
Angesichts weiterer wirtschaftlicher Stagnation, drohender Abwertung des Landeswährung und eines möglichen Kollapses des Bankensystems ist eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Gesamtlage im Jahr 2020 zu befürchten.
Medizinische Versorgung
Libanon ist – bei leichten regionalen Unterschieden – ein Land mit relativ guter medizinischer Versorgung. Die Ärzteschaft umfasst viele Spezialisten, die zu einem großen Teil im westlichen Ausland studiert und auch praktiziert haben.
Staatliche Krankenhäuser gibt es in allen größeren Städten. Auch sehr spezielle Behandlungen (Operationen am offenen Herzen, Krebstherapien) können im Land durchgeführt werden. Die Nachversorgung kriegsbedingter Behinderungen ist möglich (inkl. Transplantationen). Lediglich Patienten mit sehr seltenen oder schweren Erkrankungen müssen zwingend ins Ausland überwiesen werden, etwa schwerste Brandverletzungen. Vereinzelt kommt es in Krankenhäusern in ärmeren Regionen (Akkar) zu zeitweiligen Überbelegungen und Engpässen.
Neben privater wie staatlicher Krankenversicherung können Behandlung und Medikation für mittellose und/oder aus dem Ausland zurückkehrende Libanesen durch eine Überweisung des Gesundheitsministeriums an dessen Vertragskrankenhäuser (darunter auch renommierte Kliniken wie das American University Hospital oder das Hôtel Dieu in Beirut) und Vertragsärzte erfolgen. Die Vertragskrankenhäuser des Gesundheitsministeriums sind verpflichtet, vom Gesundheitsministerium zugewiesene Patienten im Rahmen einer monatlichen Quote aufzunehmen. Sie wehren sich gelegentlich – soweit diese Quote überschritten wird oder besonders „teure“ Fälle darunter sind – mit juristischen oder bürokratischen Maßnahmen gegen die Überweisung oder versuchen, Einzelpersonen an eine karitative Organisation „weiterzureichen“. Derzeit bekommen 42.000 Haushalte (d. h. rund 230.000 Personen) diese Unterstützungsleistung des Gesundheitsministeriums. Parallel existiert ein vom Gesundheits- und Sozialministerium gefördertes Netzwerk von „Erstversorgungseinrichtungen“, die häufig von
Nichtregierungsorganisationen betrieben werden. Diese nehmen einfache Behandlungen (Impfungen/Gabe von Generika/Röntgen etc.) gegen eine Gebühr von ca. 5-10 US-Dollar vor.
Rückkehrer können grundsätzlich auch eine – allerdings kostspielige – private Krankenversicherung abschließen. Bei UNRWA registrierte palästinensische Flüchtlinge werden grundsätzlich vom Gesundheitsdienst der UNRWA versorgt, doch deckt diese Versorgung Leistungen der Nachsorge (qualifizierte Krankenhausversorgung) nur unzureichend ab. Andere Flüchtlinge und Ausländer haben keinen Zugang zur staatlichen Krankenversorgung und müssen ihre Behandlungskosten selbst tragen oder eine private Krankenversicherung abschließen. Für ältere Personen oder bei Vorerkrankungen kann es ausgeschlossen oder prohibitiv teuer sein, eine private Krankenversicherung abzuschließen. Alle international gängigen Medikamente sind in Libanon erhältlich. Die Einfuhr von Medikamenten aus Deutschland ist möglich.
Behandlung von Rückkehrern
Es sind keine Fälle bekannt, in denen libanesische Staatsangehörige, die aus Deutschland abgeschoben wurden, aus diesem Grund eine diskriminierende Behandlung in Libanon erfahren haben. Sie werden – wie alle Einreisenden – von den Sicherheitsbehörden überprüft. Ein besonderes staatliches Interesse an dieser Personengruppe ist nicht erkennbar. Bisher ist auch kein Fall bekannt geworden, in dem die unfreiwillige Rückkehr eines abgelehnten Asylbewerbers staatliche Repressionsmaßnahmen ausgelöst hätte. In Abwesenheit verurteilte Personen werden bei der Einreise in Strafhaft genommen und verbüßen die verhängte Haftstrafe. Sie haben unmittelbar nach Haftantritt die Möglichkeit, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen. Das Verfahren wird vollständig neu durchgeführt, und es gilt das Verbot der reformatio in peius („Verböserung“). In diesen Fällen sind keine Vorwürfe von Folter oder Misshandlung bekannt geworden.
Einreisekontrollen
Die Einreisekontrollen an den Grenzübergängen und am internationalen Flughafen Beirut sind strikt. Reise- und Dokumentendaten werden seit 1995 an allen Einreisestellen erfasst und sind durch die General Security zentral abrufbar. Es ist möglich, sich gegen eine geringe Gebühr die Ein- und Ausreisebewegungen aus dem Libanon bescheinigen zu lassen.
Personen ohne gültige Dokumente werden erfasst und an der Einreise gehindert. Libanon erkennt keine von Deutschland oder EU-Staaten für libanesische Staatsangehörige oder Staatenlose ausgestellten Heimreisepapiere an. Libanesische Staatsangehörige können nicht ohne Vorlage eines Reisepasses bzw. eines von der zuständigen libanesischen Auslandsvertretung ausgestellten Heimreisedokuments (z. B. Laissez-Passer) einreisen.
Besteht bei der Einreise in Libanon der Verdacht, dass ein Drittausländer vormals illegal nach Europa gelangt ist, verweigern libanesische Grenzbehörden die Einreise. Luftfahrtunternehmen sind dann in der Pflicht, den Passagier zurück zu befördern. Zusätzlich wird pro Passagier ein Bußgeld in Höhe von derzeit 2.000 USD erhoben. Eine Durchreise für diese Personengruppe im direkten Transit ist möglich.
Die libanesischen Grenzbehörden haben ein Smart Border Management System (SBMS) eingeführt, das Fingerabdruckleser und Kameras einschließt und mit dem zukünftig alle Luft-, Land- und Seegrenzübergänge vernetzt werden. Das System ermöglicht u. a. einen automatischen Abgleich mit Fahndungstreffern, Ein- und Ausreisesperren, ungültigen Dokumenten, „Overstayern“ und Interpol-Datenbank; es speichert zudem die Reisebewegungen ab.
Die Demarkationslinie (Blaue Linie) zu Israel ist für den Grenzverkehr geschlossen und wird durch einen durchgehenden Grenzzaun/-mauer auf israelischer Seite befestigt. Das IKRK kann in Abstimmung mit UNIFIL (UN Interim Force in Lebanon) und der libanesischen Armee ehemalige Mitglieder der SLA und deren Angehörige über den Übergang in Naqoura in Libanon führen.
Sonstige Erkenntnisse über asyl- und abschieberelevante Vorgänge
Echtheit von Dokumenten
Eine Vielzahl der dem Auswärtigen Amt zur Überprüfung vorgelegten Dokumente in Asylangelegenheiten hat sich als Fälschungen herausgestellt. Es besteht leichter Zugang zu gefälschten Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehlen, Gerichtsurteilen oder Mitgliedsausweisen von politischen Parteien oder ehemaligen Bürgerkriegsmilizen. Vieles deutet daraufhin, dass diese Papiere von Fälschern in Deutschland hergestellt werden, teilweise unter Verwendung entwendeter echter libanesischer Stempel.
Die General Security stellt seit 2016 zentral biometrische Reisepässe aus, welche durch den Großteil der Bevölkerung bereits genutzt werden. Das Vorgängermodell von 2008 wird jedoch noch anerkannt. Die Sicherheitsmerkmale der libanesischen Ausweisdokumente entsprechen internationalen Standards, Fälschungen sind bei der Visaerteilung bisher nicht aufgefallen. Dies dürfte allerdings auch damit zusammenhängen, dass es nicht schwierig erscheint, einen echten, aber inhaltlich falschen Reisepass zu erhalten, weil die Identitätsprüfung im Passantragsverfahren bei den Gemeindevorstehern und nicht zentral bei der General Security erfolgt. Ebenso ist es möglich, von einem zum anderen Reisepass die Transkription in die lateinische Schrift zu modifizieren.
Feststellung der Staatsangehörigkeit
Die Staatsangehörigkeit kann bei Vorlage eines amtlichen Dokumentes (z. B. Auszug aus dem Geburtsregister) festgestellt werden. Das Verfahren dauert zwei bis drei Monate. Nach Zusage der Kostenerstattung wird hierzu der Vertrauensanwalt der deutschen Botschaft eingeschaltet. Die Überprüfung kann alternativ auch von den libanesischen Behörden erbeten werden. Diese ist kostenfrei, die Bearbeitungszeit kann aber mehr als ein Jahr betragen.
Die deutsche Botschaft kann inländische Behörden im Rahmen der Amtshilfe bei der Beschaffung von Personenstandsurkunden (in der Regel handelt es sich um Familienregisterauszüge) zur Beantragung von Passersatzpapieren für ausreisepflichtige Personen libanesischer Herkunft unterstützen. Ebenso kann sie bei der inhaltlichen Prüfung und der Echtheitsprüfung von libanesischen Personenstandsurkunden und Reisedokumenten zur Identitätsklärung in Deutschland befindlicher Personen mitwirken. In beiden Fällen ist aber – aufgrund der notwendigen Mitwirkung libanesischer Stellen – mit langen Bearbeitungszeiten zu rechnen. Speziell die Erstellung von Passersatzpapieren für ausreisepflichtige Personen erfolgt durch die libanesische Seite oft schleppend.
Ausreisewege
Libanon kann auf dem Landweg derzeit nur in Richtung Syrien verlassen werden. Aufgrund des besonderen Charakters der Beziehunge