TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/7 I422 2234980-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.10.2020
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Entscheidungsdatum

07.10.2020

Norm

BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §66 Abs1
NAG §55 Abs3
VwGVG §24 Abs2 Z1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I422 2234980-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas BURGSCHWAIGER als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Polen, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Klaus SCHIMIK, Anastasius-Grün-Gasse 23/5, 1180 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.07.2020, Zl. 27513810/200334475 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 1 und Abs. 2 VwGVG behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Magistratsabteilung 35 des Amtes der Wiener Landesregierung stellte der Beschwerdeführer am 18.09.2019 eine Anmeldebescheinigung sonstige Angelegenheit (§51 Abs. 1 Z 2 NAG) aus.

Mit Schreiben vom 14.04.2020 informierte die Magistratsabteilung 35 des Amtes der Wiener Landesregierung die belangte Behörde darüber, dass die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Sozialhilfeleistung in Form von Ausgleichszulage eingebracht habe und auch der von ihrer Tochter verbürgte Unterhalt nicht mehr geleistet werde. Somit falle mangels Sicherung der Existenz der Beschwerdeführerin die Voraussetzungen für das Bestehen einer Anmeldebescheinigung weg. Auf dieser Grundlage regte das Amt der Wiener Landesregierung, Magistratsabteilung bei der belangten Behörde gemäß § 55 Abs. 3 NAG die Überprüfung einer möglichen Aufenthaltsbeendigung an.

Zur Abklärung ihrer Existenzsicherung sowie zu ihrer privaten und familiären Situation im Bundesgebiet übermittelte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin am 07.05.2020 ein Parteiengehör und räumte sie ihr die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme ein.

In ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 26.05.2020 verwies die Beschwerdeführerin im Wesentlichen auf die Rechtsprechung des EGMR und die darauf aufbauende höchstgerichtliche Rechtsprechung. Aus der Beantragung von Sozialleistung und dem Bezug derselben könne nicht per se davon ausgegangen werden, dass keine ausreichenden Existenzmittel mehr vorliegen würden und bedürfe es diesbezüglich einer konkreten Einzelfallbeurteilung der Gesamtumstände. In diesem Zusammenhang verwies die Beschwerdeführerin des Weiteren darauf, dass sie sich bereits seit 2011 in Österreich aufhalte. Sie sei im Bundesgebiet zwischenzeitig auch als Arbeitnehmerin tätig gewesen, verfüge über eine Krankenversicherung und befinde sich mittlerweile in Pension. In Österreich lebe zudem ihre Kernfamilie, bestehend aus dem Sohn, der Schwiegertochter und der Enkelin. Diese habe sie während all der vergangenen Jahre eine Unterkunft bereitgestellt und mit finanziellen Mitteln unterstützt. Zudem sei sie aufgrund altersbedingter Erkrankungen auf die Hilfe ihrer in Österreich wohnhaften Familie angewiesen. Zu ihren in Polen lebenden Verwandten habe die Beschwerdeführerin hingegen keinen Kontakt mehr. Als Nachweis legte sie Unterlagen in Form einer Wohnrechtsvereinbarung, eines PensionistInnen-Ausweises, einer Versicherungsbestätigung, dem Schreiben der Pensionsversicherungsanstalt, eine Meldebestätigung, einen Nachweis über die Abmeldung als Arbeiterin sowie eine Anmeldebescheinigung vor und bot sie zudem die Einvernahme der Familienmitglieder als Zeugen an.

Mit verfahrensgegenständlicher Entscheidung wies die belangte Behörde die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet aus (Spruchpunkt I.) und erteilte ihr einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat (Spruchpunkt II.). Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin nichts unternommen habe um ihre finanzielle Situation in Österreich darzulegen. Aufgrund ihres Antrages auf Gewährung von Sozialhilfe und der mittlerweile eingestellten Unterhaltsleistung durch die Tochter sei von einer fehlenden Existenzsicherung und dem Wegfall der Voraussetzungen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes auszugehen. Auch eine vorgenommene Interessensabwägung falle zu Ungunsten der Beschwerdeführerin aus.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 28.05.2020 fristgerecht Beschwerde und führte begründend zusammengefasst aus, dass die Annahmen der belangten Behörde auf einem mangelhaft geführten Ermittlungsverfahren beruhen würden, welches sich im Ergebnis des angefochtenen Bescheides niederschlage. In einer Gesamtbetrachtung entstehe der Beschwerdeführerin der Eindruck, dass die belangte Behörde nicht anhand der Aktenlage beurteilt habe, zumal die belangte Behörde in ihrer Entscheidung zwar die Stellungnahme der Beschwerdeführerin und die von ihr vorgelegten Unterlagen als Beweismittel aufzähle, aber in ihrer Entscheidung demgegenüber mehrfach feststelle, dass die Beschwerdeführerin nicht ausreichend am Ermittlungsverfahren mitgewirkt habe. Erneut verwies die Beschwerdeführerin auf ihre Stellungnahme vom 20.05.2020 und den sich daraus eindeutig ergebenden privaten und familiären Anknüpfungspunkten.

Am 11.09.2020 wurden der Bezug habende Akt und die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige von Polen. Sie ist seit 23.02.2011 durchgehend mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet.

Am 20.11.2018 stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Ausstellung einer Anmeldebescheinigung „Privat“, der ihr am 18.09.2019 vom Amt der Wiener Landesregierung, Magistratsabteilung 35, zu Zahl. XXXX ausgestellt wurde.

Die Feststellungen der belangten Behörde zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet sind aktenwidrig.

Die Feststellung der belangten Behörde zur Krankenversicherung der Beschwerdeführerin sind aktenwidrig.

2. Beweiswürdigung:

Die getroffenen Feststellungen ergeben sich zweifelsfrei aus dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes.

Die Feststellung, dass die von der belangten Behörde getroffenen Feststellungen zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin aktenwidrig sind, gründet auf dem sich im Verwaltungsakt befindlichen Parteiengehör vom 07.05.2020 sowie dem Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 26.05.2020. In dieser gab der bevollmächtigte Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin eine umfassende Stellungnahme zu ihrer privaten, gesundheitlichen und familiären Situation im Bundesgebiet ab, ging auf die von der belangten Behörde gestellten Fragen inhaltlich ein und beantwortete und legte im Rahmen der Stellungnahme Unterlagen vor.

Dass die Feststellung der belangten Behörde zur Krankenversicherung aktenwidrig ist, ergibt sich einerseits aus dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Schreiben der Pensionsversicherungsanstalt vom Jänner 2020. Diesem Schreiben ist der Abzug ihres Krankenversicherungsbeitrages von ihrer Pensionsleistung zu entnehmen. Zudem wird ihre aufrechte Krankenversicherung durch einen sich im Verwaltungsakt befindlichen Auszug des Sozialversicherungsträgers belegt, demzufolge die Beschwerdeführerin seit 01.12.2018 bis laufend einer Krankenversicherung unterliegt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Behebung des angefochtenen Bescheides:

Die Beschwerdeführerin als polnische Staatsangehörige (und damit EWR-Bürgerin iSd § 2 Abs. 4 Z 8 FPG) kann gemäß § 66 Abs. 1 ausgewiesen werden, wenn ihr aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt. Dabei hat das Bundesamt gemäß Z 2 leg. cit. insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, ihr Alter, ihren Gesundheitszustand, ihre familiäre und wirtschaftliche Lage, ihre soziale und kulturelle Integration im Bundesgebiet und das Ausmaß ihrer Bindung zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

Der Beschwerde ist insbesondere dahingehend beizutreten, dass im vorliegenden Fall ein äußerst mangelbehaftetes Ermittlungsverfahren geführt wurde, zumal wesentliche Ermittlungsergebnisse aktenwidrig verwertet wurden.

Zunächst führt die belangte Behörde an mehreren Stellen des angefochtenen Bescheides aus, dass es die Beschwerdeführerin unterlassen habe, eine Stellungnahme abzugeben und somit die Mitwirkung am Verfahren verweigert habe (Seiten 4, 5, 6, 9, 10, 13, 14). Dabei übersieht die belangte Behörde augenscheinlich, dass die Beschwerdeführerin am 26.05.2020 eine umfassende Stellungnahme sowie Urkundenvorlage durch ihren Rechtsvertreter erstattet hat.

Im Rahmen der Feststellungen zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin führt die belangte Behörde auf Seite 5 des angefochtenen Bescheides aus: „Familiäre Bindungen zu Österreich konnten keine festgestellt werden. [...] Es konnte kein schützenswertes Privatleben festgestellt werden.“ In der Beweiswürdigung zu diesem Punkt verweist die belangte Behörde wiederum auf die Nichtmitwirkung der Beschwerdeführerin am Verfahren. In diesem Zusammenhang ist herauszustreichen, dass die Beschwerdeführerin in ihrer Stellungnahme durchaus Angaben zu ihren familiären Bindungen im Bundesgebiet erstattet hat. So gab sie dabei an, in Österreich mit ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihrer Enkelin im gemeinsamen Haushalt zu leben, weshalb sich auch diese Feststellung als aktenwidrig erweist.

Wie in der Beschwerde ebenfalls zu Recht aufgezeigt wurde, stellte die Behörde in ihrer Entscheidung einerseits fest, dass die Beschwerdeführerin über einen Krankenversicherungsschutz verfügt (Seite 4) nur um im selben Bescheid später erratisch auszuführen, dass sie sich weigere einen solchen „ausreichenden Krankenversicherungsschutz“ nachzuweisen (Seite 15).

Hierzu ist festzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Aktenwidrigkeit nur dann vorliegt, wenn sich die Behörde bei der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes mit dem Akteninhalt hinsichtlich der dort festgehaltenen Tatsachen in Widerspruch gesetzt hat bzw. wenn die Entscheidung in ihrer Begründung von Sachverhalten ausgeht, die sich aus dem Akt überhaupt nicht oder nicht in der angenommenen Weise ergeben, wenn also die Feststellung jener tatsächlichen Umstände unrichtig ist, die für den Spruch der Entscheidung ausschlaggebend sind und der Akteninhalt unrichtig wiedergegeben wurde (vgl. VwGH 07.05.2020, Ra 2020/16/0007; 24.07.2019, Ra 2018/02/0195).

Dies ist gegenständlich der Fall, da die belangte Behörde die abgegebene schriftliche Stellungnahme der Beschwerdeführerin nicht nur nicht berücksichtigt hat, sondern ihre Entscheidung mehrfach mit der (unrichtigen) Feststellung begründet hat, die Beschwerdeführerin habe am Verfahren nicht mitgewirkt, keine Stellungnahme erstattet und auch keine Belege erbracht.

Die belangte Behörde hat zwar ein Ermittlungsverfahren durchgeführt und der Beschwerdeführerin die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme eingeräumt. Der Inhalt derselben wurde bei der anschließenden Konzeptionierung des Bescheides offenbar völlig außerachtgelassen und spiegelt sich dies in beeindruckender Weise in der Aktenwidrigkeit des angefochtenen Bescheides wieder.

Aufgrund der seitens der belangten Behörde unter Außerachtlassung des entscheidungsmaßgeblichen Sachverhaltes getroffenen Entscheidung, war der bekämpfte Bescheid aus dem Rechtsbestand zu beseitigen.

4. Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:

Da auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entfallen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. In der gegenständlichen Entscheidung zeigt das erkennende Gericht auf, dass aufgrund aktenwidriger Feststellungen der darauf aufbauende Bescheid zu beheben war. Dabei weicht die der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegte Rechtsprechung weder von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Schlagworte

Aktenwidrigkeit Aufenthaltsrecht Ausweisung Ausweisung aufgehoben Ausweisung nicht rechtmäßig Durchsetzungsaufschub EU-Bürger EWR-Bürger finanzielle Mittel Interessenabwägung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Unionsbürger

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I422.2234980.1.00

Im RIS seit

24.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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