TE OGH 2020/5/29 33R31/20a

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Veröffentlicht am 29.05.2020
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Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden sowie den Richter Dr. Stiefsohn und die Patentanwältin DI Bachinger-Fuchs in der Patentrechtssache der gefährdeten Partei r*****, vertreten durch die Kletzer Messner Mosing Schnider Schultes Rechtsanwälte OG in Wien, wider die Gegnerin der gefährdeten Partei G*****, vertreten durch Mag. Dr. Lothar Wiltschek und Dr. David Plasser, LL.M., Rechtsanwälte in Wien, wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung zur Unterlassung (Interesse: EUR 75.000) und Zurückziehung (Interesse: EUR 10.000) über den Rekurs der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien vom 25.2.2020, 11 Cg 44/19m-18, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

1. Die Urkundenvorlage der Gegnerin der gefährdeten Partei vom 25.5.2020 wird zurückgewiesen.

2. Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die gefährdete Partei ist schuldig, der Gegnerin der gefährdeten Partei die mit EUR 3.879,72 (darin EUR 646,62 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteigt insgesamt EUR 30.000.

Der ordentliche Revisionsrekurs ist nicht zulässig.

Begründung

Text

Die T***** ist die exklusive Lizenznehmerin des Europäischen Patents EP 2 949 335 B1, das unter Inanspruchnahme einer Priorität vom 20.8.2009 (US 274687P) und vom 11.2.2010 (US 337612P) am 4.1.2017 erteilt wurde und in Österreich als E 858 588 T1 mit dem Titel „Niederfrequente Glatirameracetattherapie” validiert ist (im Folgenden: „Streitpatent“). Es umfasste zunächst die folgenden Ansprüche (Hervorhebungen durch das Rekursgericht):

1.       Glatirameracetat zur Verwendung in einem Behandlungsschema von drei subkutanen Injektionen von einer 40 mg-Dosis Glatirameracetat alle sieben Tage mit mindestens einem Tag zwischen den einzelnen subkutanen Injektionen zur Verwendung in der Behandlung eines Patienten, der unter einer schubförmig verlaufenden Art von Multipler Sklerose leidet oder der einen ersten klinischen Schub erfahren hat und ein hohes Risiko trägt eine klinisch gesicherte Multiple Sklerose zu entwickeln und wobei die pharmazeutische Zusammensetzung zusätzlich Mannitol enthält.

2.       Arzneimittel umfassend Glatirameracetat zur Verwendung in der Behandlung eines Patienten, der an einer schubförmig verlaufenden Art von Multipler Sklerose leidet oder der einen ersten klinischen Schub erfahren hat und ein hohes Risiko trägt, eine klinisch gesicherte Multiple Sklerose zu entwickeln, wobei das Arzneimittel zu verabreichen ist in einem Behandlungsschema von drei subkutanen Injektionen von einer 40 mg-Dosis Glatirameracetat alle sieben Tage mit mindestens einem Tag zwischen jeder subkutanen Injektion und wobei die pharmazeutische Zusammensetzung zusätzlich Mannitol enthält.

3.       Glatirameracetat zur Verwendung nach Anspruch 1, wobei die Verträglichkeit der Glatirameracetat-Behandlung bei dem menschlichen Patienten durch Verringerung der Häufigkeit einer unmittelbaren Postinjektionsreaktion oder einer Reaktion an der Injektionstelle erhöht ist.

4.       Arzneimittel umfassend Glatirameracetat zur Verwendung nach Anspruch 2, wobei die Verträglichkeit der Glatirameracetat-Behandlung in dem menschlichen Patienten durch Verringerung der Häufigkeit einer unmittelbaren Postinjektionsreaktion oder einer Reaktion an der Injektionsstelle erhöht ist.

Ausgehend von den Angaben in der Patentbeschreibung dient der Wirkstoff Glatirameracetat einer bewährten Therapie für Patienten mit schubweise remittierender Multipler Sklerose (im Folgenden: „MS”). Die Erfindung ist ein wirksames niederfrequentiertes Behandlungsschema für die Verabreichung, das die Compliance verbessert und Nebenwirkungen verringert, die durch das subkutane Injizieren auftreten.

Sechs Unternehmen, darunter die Antragsgegnerin, erhoben beim Europäischen Patentamt (im Folgenden: „EPA“) Einspruch gegen das Streitpatent.

In der mündlichen Verhandlung vom 28.3.2019 erhielt die Einspruchsabteilung des EPA die Ansprüche 1 und 2 des Streitpatents mit geringfügigen Änderungen wie folgt aufrecht (Hervorhebungen durch das Rekursgericht):

1.       Glatirameracetat zur Verwendung in einem Behandlungsschema von drei subkutanen Injektionen von einer 40 mg-Dosis Glatirameracetat alle sieben Tage mit mindestens einem Tag zwischen den einzelnen subkutanen Injektionen zur Verwendung in der Behandlung eines Patienten, der unter einer schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose leidet oder der einen ersten klinischen Schub erfahren hat und ein hohes Risiko trägt eine klinisch gesicherte Multiple Sklerose zu entwickeln und wobei die pharmazeutische Zusammensetzung zusätzlich Mannitol enthält.

2.       Arzneimittel umfassend Glatirameracetat zur Verwendung in der Behandlung eines Patienten, der an einer schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose leidet oder der einen ersten klinischen Schub erfahren hat und ein hohes Risiko trägt, eine klinisch gesicherte Multiple Sklerose zu entwickeln, wobei das Arzneimittel zu verabreichen ist in einem Behandlungsschema von drei subkutanen Injektionen von einer 40 mg-Dosis Glatirameracetat alle sieben Tage mit mindestens einem Tag zwischen jeder subkutanen Injektion und wobei die pharmazeutische Zusammensetzung zusätzlich Mannitol enthält.

Auf die ursprünglichen Ansprüche 3 und 4 verzichtete die Patentinhaberin.

Die Antragsgegnerin erhob gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde an die Beschwerdekammer des EPA.

Die Antragstellerin ist die klageberechtigte Sublizenznehmerin der T***** für Österreich. Sie vertreibt das rezeptpflichtige Arzneimittel „Copaxone 40 mg/ml Injektionslösung”, das den Wirkstoff Glatirameracetat enthält, mit einer empfohlenen Dosis von dreimal wöchentlich in Abständen von mindestens 48 Stunden zur Verringerung der Häufigkeit von Schüben bei der Erkrankung an MS.

Die Antragsgegnerin bietet in Österreich das Arzneimittel „Perscleran 40 mg/ml Injektionslösung”, das ebenfalls den Wirkstoff Glatirameracetat enthält, in einer Fertigspritze zur subkutanen Injizierung dreimal wöchentlich im Abstand von mindestens 48 Stunden mit derselben Indikation an.

An vorveröffentlichten Dokumenten liegt das am 9.1.2007 angemeldete Patent US 2007/0161566 A1 mit auszugsweise folgenden Ansprüchen vor:

1.       A method of alleviating a symptom of a patient suffering from a relapsing form of multiple sclerosis which comprises periodically administering to the patient by subcutaneous injection a single dose of a pharmaceutical composition comprising 40 mg of glatiramer acetate so as to thereby alleviate the symptom of the patient.

2.       The method of claim 1, wherein the periodic administration is daily.

3.       The method of claim 1, wherein the periodic administration is every other day.

4.       The method of claim 1, wherein the relapsing form of multiple sclerosis is relapsing-remitting multiple sclerosis.

5.       The method of claim 1, wherein the symptom is the frequency of relapses.

6.       The method of claim 1, wherein the pharmaceutical composition is in the form of a sterile solution.

7.       The method of claim 1, wherein pharmaceutical composition further comprises mannitol.

Die Methode dient dazu, die Symptome von Patienten zu lindern, die an einer schubartigen Form von MS leiden.

In der Beschreibung heißt es:

[0019] „This invention provides a method of alleviating a symptom of a patient suffering from a relapsing form of multiple sclerosis which comprises periodically administering to the patient by subcutaneous injection a single dose of a pharmaceutical composition comprising 40 mg of glatiramer acetate so as to thereby alleviate the symptom of the patient.”

Eine Verabreichungsform sei täglich, zu einer weiteren heißt es:

[0021] ”In another embodiment, the periodic administration is every other day.”

und weiters:

[0025] ”In another embodiment, the pharmaceutical composition further comprises mannitol.”

Die Antragstellerin begehrte die Erlassung einer einstweiligen Verfügung, mit der der Antragsgegnerin verboten werden soll, in Österreich Glatirameracetat und/oder Arzneimittel umfassend Glatirameracetat zur Verwendung in einem Behandlungsschema von drei subkutanen Injektionen von einer 40 mg-Dosis alle sieben Tage mit mindestens einem Tag Abstand zwischen den einzelnen subkutanen Injektionen zur Verwendung in der Behandlung eines menschlichen Patienten, der unter einer schubförmig remittierenden MS leide oder der einen ersten klinischen Schub erfahren habe und ein hohes Risiko trage, eine klinisch gesicherte MS zu entwickeln, herzustellen, anzubieten, feilzuhalten, in Verkehr zu bringen, zu gebrauchen und/oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen, insbesondere „Perscleran 40 mg/ml-Injektionslösung in einer Fertigspritze”. Weiters beantragte die Antragstellerin, der Antragsgegnerin zu verbieten, einen Antrag auf Aufnahme von „Perscleran 40 mg/ml-Injektionslösung in einer Fertigspritze” in den Erstattungskodex zu stellen oder, soweit sie einen solchen bereits gestellt habe, sie zur Zurückziehung zu verpflichten.

Zur Begründung ihres Anspruchs brachte sie vor, dass das Streitpatent rechtsbeständig sei. Sein Gegenstand sei eine Verbesserung der MS-Therapie mit Glatirameracetat, insbesondere ein modifiziertes Dosierschema. Der nächstliegende Stand der Technik sei das Dosierschema 20 mg/ml täglich. Die zu lösende Aufgabe sei die Bereitstellung einer Behandlung mit Glatirameracetat, die gleich wirksam, aber besser verträglich sei. Dies sei mit dem Streitpatent gelungen. Die Verdoppelung der Einzeldosis bei Verringerung der Häufigkeit der Verabreichung auf drei Mal wöchentlich im Abstand von mindestens 48 Stunden sei ein erfinderischer Schritt. Das Dokument US 2007/0161566 A1 sei nicht der nächstliegende Stand der Technik, weil dessen Dosierschema (40 mg/ml jeden zweiten Tag) zu häufigeren und schwereren Nebenwirkungen führe. Das Streitpatent wäre aber auch dann erfinderisch, wenn man das Dokument US 2007/0161566 A1 als nächstliegenden Stand der Technik heranziehen wollte: Die mit dem Dosierschema des Streitpatents erzielbare geringere Anzahl von Injektionen (um 26 jährlich weniger), die Verbesserung der Compliance bei den Patienten und die Vereinfachung des Einnahmeschemas (Anwendung an fixen Wochentagen) seien wertvolle technische Effekte, die einen erfinderischen Schritt begründen würden.

Die Antragsgegnerin beantragte die Abweisung des Antrags und entgegnete, dass das Streitpatent nicht rechtsbeständig sei. Sämtliche Merkmale der Ansprüche 1 und 2 seien vor dem frühesten Prioritätsdatum Stand der Technik gewesen oder durch den Stand der Technik jedenfalls nahe gelegen. Bereits das Dokument US 2007/0161566 A1 schlage eine Behandlung von schubförmig remittierender MS durch periodisch wiederkehrende subkutane Injektionen in einer Dosis von 40 mg/ml vor.

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht den Sicherungsantrag ab. Es traf über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus folgende Feststellungen zum Dokument US 2007/0161566 A1 (Beschlussseite [BS] 6, 7; Hervorhebung der im Rekursverfahren bekämpften Feststellungen durch das Rekursgericht):

Beschrieben wird eine über neun Monate an 90 Patienten durchgeführte Studie zur (täglich verabreichten) 40 mg/ml-Dosis statt der bisher gebräuchlichen 20 mg/ml, die eine verbesserte Wirksamkeit bei guter Verträglichkeit zeige, wie sie bei einer Verdoppelung der Dosis nicht habe erwartet werden können.

Das Dokument US 2007/0161566 A1 offenbart eine Anwendung von Glatirameracetat in der patentgemäßen Dosis in Abständen von einem Tag, also jeden zweiten Tag. Hinsichtlich der Dosis von 40 mg wird darin beschrieben, dass sich versuchsweise eine verbesserte Wirkung bei vertretbaren – jedenfalls nicht im gleichen Verhältnis ansteigenden – Nebenwirkungen ergeben habe.

Klinische Erfahrungen mit der alle zwei Tage erfolgten Verabreichung werden in US 2007/0161566 A1 nicht offengelegt.“

In rechtlicher Hinsicht schloss es zusammengefasst, das Dokument US 2007/0161566 A1 sehe eine Behandlung von Patienten, die an schubförmig remittierender MS leiden, mit einer periodischen Verabreichung von 40 mg Glatirameracetat jeden zweiten Tag mittels einer subkutanen Injektion vor. Das Dosierschema des Streitpatents weiche davon nur geringfügig ab, ohne dass sich die Antragstellerin auf besondere (zusätzliche) technische oder therapeutische Wirkungen, Eigenschaften oder Effekte bei dessen Anwendung berufen habe. Das Streitpatent sei damit mangels erfinderischen Schritts nichtig, sodass der einstweilige Rechtsschutz zu versagen sei.

Dagegen richtet sich der Rekurs der Antragstellerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Tatsachenfeststellung aufgrund Aktenwidrigkeit und unrichtiger Würdigung der Bescheinigungsmittel sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung (einschließlich sekundärer Feststellungsmängel) mit dem Antrag, den Beschluss abzuändern und dem Sicherungsantrag stattzugeben.

Die Antragsgegnerin beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nicht berechtigt.

1. Zur Verfahrensrüge:

1.1. Unter dem Rekursgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens moniert die Antragstellerin zusammengefasst, das Erstgericht habe wesentliche Bescheinigungsmittel (./F und ./G) übergangen. Bei Berücksichtigung und richtiger Würdigung dieser Bescheinigungsmittel hätte es die auf Rekursseite (RS) 4-6 zitierten Feststellungen getroffen und dem Sicherungsantrag stattgegeben.

1.2. Damit gelingt es der Antragstellerin aber nicht, einen Verfahrensmangel aufzuzeigen. Inhaltlich versucht sie vielmehr, (vermeintliche) primäre und sekundäre Feststellungsmängel geltend zu machen; die begehrten Feststellungen auf RS 4 will sie erkennbar als Ersatzfeststellungen, jene auf RS 5-6 als ergänzende Feststellungen getroffen haben. Soweit die Antragstellerin primäre Feststellungsmängel geltend macht, ist sie auf die Behandlung der Feststellungsrüge zu verweisen (A. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 471 Rz 15). Die (vermeintlichen) sekundären Feststellungsmängel sind der Rechtsrüge zuzuordnen und mit dieser zu behandeln (§ 496 Abs 1 Z 3 ZPO; RIS-Justiz RS0043304 [T6]; A. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 496 Rz 10).

2. Zur Aktenwidrigkeit:

2.1. Unter diesem Rekursgrund will sich die Antragstellerin zusammengefasst dagegen wenden, dass das Erstgericht die oben hervorgehobenen Feststellungen getroffen habe, ohne ihr Vorbringen zu den besonderen zusätzlichen technischen und therapeutischen Wirkungen, Eigenschaften und Effekten bei der Anwendung des Dosierschemas nach dem Streitpatent und die dazu vorgelegten Bescheinigungsmittel (insbesondere wiederum das Gutachten ./G und dessen Beilagen) berücksichtigt zu haben.

2.2. Die Antragstellerin übersieht dabei, dass eine Aktenwidrigkeit entweder in einem Widerspruch zwischen einer Tatsachenfeststellung und dem zu ihrer Begründung angeführten Beweismittel oder darin besteht, dass eine Tatsachenfeststellung in den Akten überhaupt keine Grundlage hat (A. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 471 Rz 14 mwN). Durch die Nichtbeachtung und Nichterwähnung einer Parteienbehauptung oder eines Beweismittels (oder Bescheinigungsmittels) wird der Rechtsmittelgrund der Aktenwidrigkeit dagegen nicht verwirklicht (RIS-Justiz RS0043402; vgl RS0041814 [T8]). Das von der Antragstellerin monierte Übergehen von Vorbringen und Bescheinigungsmitteln begründet damit keine Aktenwidrigkeit.

3. Zur Feststellungsrüge:

3.1. Auch unter dem Rekursgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Würdigung der Bescheinigungsmittel wendet sich die Antragstellerin gegen die oben hervorgehobenen Feststellungen, mit denen das Erstgericht den Inhalt des Dokuments US 2007/0161566 A1 zusammengefasst hat, und begehrt stattdessen:

„US 2007/0161566 A1 erwähnt zwei Behandlungsschemata, nämlich 40 QD (täglich) und 40 QOD (jeden zweiten Tag). Aus dem Dokument gehen zu 40 QOD keine Daten hervor, die eine praktische Umsetzung vermuten lassen. Vielmehr offenbart US 2007/0161566 A1 eine klinische Studie, in welcher der Focus ausschließlich auf 40 QD liegt. Bei der Offenbarung der Verabreichung 40 QOD gemäß den Ansprüchen 1 und 3 und Absatz [0021] handelt es sich lediglich um eine nicht in die Tat umgesetzte, theoretisch genannte Alternative. Gemäß US 2007/0161566 A1 zeigt das Behandlungsschema 40 QD ein ähnliches Sicherheitsprofil wie 20 QD (siehe Absatz [0062] von Gut ./8) jedoch ein höheres Aufkommen von unmittelbaren Nacheinspritzungsreaktionen (siehe Tabelle 4).”

3.2. Um die Feststellungsrüge gesetzmäßig auszuführen, muss die angestrebte Ersatzfeststellung im Widerspruch zur bekämpften Feststellung stehen (OLG Wien 133 R 90/18k; vgl RIS-Justiz RS0041835 [T2]; RS0043150 [T9]). Dies ist hier nicht der Fall: Es ist nicht ersichtlich, inwiefern die bekämpften Feststellungen im Widerspruch zu den begehrten Feststellungen stehen sollen. Dass sich die im Dokument US 2007/0161566 A1 beschriebene Studie auf die täglich verabreichte 40 mg-Dosis bezieht und klinische Erfahrungen mit der alle zwei Tage erfolgten Verabreichung im Dokument US 2007/0161566 A1 nicht offengelegt wurden, hat das Erstgericht ohnehin festgestellt. Auch das von der Antragstellerin angeführte „höhere Aufkommen unmittelbarer Nacheinspritzungsreaktionen“ beim Dosierschema 40 mg täglich (bei sonst vergleichbarem Sicherheitsprofil) widerspricht den bekämpften Feststellungen nicht, beschreibt das Dokument US 2007/0161566 A1 doch auch ihnen zufolge, dass die Nebenwirkungen beim Dosierschema 40 mg täglich angestiegen sind („bei vertretbaren – jedenfalls nicht im gleichen Verhältnis ansteigenden – Nebenwirkungen“). Der für die gesetzmäßige Ausführung der Feststellungsrüge erforderliche Widerspruch zwischen den bekämpften und den begehrten Feststellungen liegt somit nicht vor.

3.3. Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass die zusammengefasste Wiedergabe des Dokuments US 2007/0161566 A1 in den bekämpften Feststellungen auch inhaltlich keinen Bedenken begegnet, lässt sie sich doch mit den folgenden Passagen des Patents in Einklang bringen:

„[0007] […] However, disclosed herein is the finding that administration of glatiramer acetate at a dose of 40 mg/day significantly improves efficacy but does not have a corresponding increase in adverse reactions experienced by the patient. […]

[0059] Ninety (90) eligible subjects with at least one Gd-enhancing lesion at screening (month -1) were randomized into 9-month, double-blind, parallel group study and received sc injection of either 40 mg/d or 20 mg/d GA. […]

Conclusions:

[0070] The increased efficacy observed with 40 mg/day GA in reducing MRI-measured disease activity and relapse rate indicates that it is well tolerated and can improve the treatment of RRMS patients. The improvement in efficacy, however, ist not accompanied by a corresponding increase of adverse reactions which would be expected upon a doubling of the administered dose.“

3.4. Soweit die Antragstellerin den bekämpften Feststellungen unter Verweis auf die Literatur zur Studie FORTE II (Cohen, Calabresi) und die Folgestudie FORTE III entgegentreten will, ist sie darauf zu verweisen, dass das Erstgericht mit den bekämpften Feststellungen ausdrücklich nur den Inhalt des Dokuments US 2007/0161566 A1 zusammenfassen wollte und dies nachvollziehbar getan hat. Die über die oben zitierte Passage hinausgehenden „Ersatzfeststellungen“ (RS 9 iVm RS 5-6) wären ergänzende Feststellungen, deren Fehlen, soweit es rechtlich relevant wäre, bei der Behandlung der Rechtsrüge aufzugreifen wäre.

3.5. Das Rekursgericht übernimmt daher den vom Erstgericht als bescheinigt angenommenen Sachverhalt und legt ihn seiner Entscheidung zugrunde.

4. Zur Rechtsrüge:

4.1. Unstrittig ist, dass das von der Antragsgegnerin vertriebene Produkt „Perscleran 40 mg/ml Injektionslösung” den Gegenstand des Streitpatents verwirklicht. Die Antragsgegnerin hat die Nichtigkeit des Streitpatents eingewendet.

4.2. Gemäß § 24 PatV-EG sind auf Verfahren, die europäische Patente betreffen, ergänzend zu dessen Bestimmungen die Vorschriften des EPÜ (Europäisches Patentübereinkommen), des PCT (Vertrag über die internationale Zusammenarbeit im Patentwesen) und des Patentgesetzes sinngemäß anzuwenden. Für das Verfahren bei Patentverletzungsstreitigkeiten und für die Rechtsfolgen einer Patentverletzung gilt nach Art 64 Abs 3 EPÜ nationales Recht.

4.3. Die Patenterteilung schafft nach ständiger Rechtsprechung im Provisorialverfahren eine durch Gegenbescheinigungen entkräftbare Vermutung für das Bestehen des Patentrechts (RIS-Justiz RS0071369; RS0103412 [T1]). Die Vorfrage der Gültigkeit oder Wirksamkeit eines Patents muss aber auch im Provisorialverfahren geprüft werden, wenn in dieser Richtung eine Gegenbescheinigung angeboten wurde, wobei diese Prüfung nur mit den Mitteln des Provisorialverfahrens und in dessen Grenzen vorgenommen werden kann (RIS-Justiz RS0071408). Da die Antragsgegnerin zur Bescheinigung der behaupteten Nichtigkeit Urkunden vorgelegt hat, die auch im Provisorialverfahren jedenfalls zu berücksichtigen sind, ist die behauptete Nichtigkeit des Patents im Sicherungsverfahren selbständig zu prüfen (RIS-Justiz RS0103412 [T2]). Liegt ein Nichtigkeitsgrund vor, ist dem Patentinhaber (hier: der Antragstellerin als klageberechtigter Sublizenznehmerin) der einstweilige Rechtsschutz zu versagen (RIS-Justiz RS0103412 [T3]).

4.4. Nach § 10 Abs 1 PatV-EG iVm Art 138 Abs 1 lit a EPÜ kann ein europäisches Patent mit Wirkung für einen Vertragsstaat für nichtig erklärt werden, wenn sein Gegenstand nach Art 52 bis 57 EPÜ nicht patentierbar ist. Nach Art 52 Abs 1 EPÜ werden europäische Patente für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erteilt, sofern sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind. Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört (Art 54 Abs 1 EPÜ), und als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für die Fachperson nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (Art 56 EPÜ). Nach Art 54 Abs 2 EPÜ bildet den Stand der Technik alles, was vor dem Anmeldetag der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist. Für die Beurteilung, ob die erfinderische Tätigkeit zu bejahen ist, ist nach dem vom EPA entwickelten „Aufgabe-Lösungs-Ansatz” zunächst der nächstliegende Stand der Technik zu ermitteln, sodann die zugrunde liegende technische Aufgabe zu bestimmen und schließlich zu beurteilen, ob die Erfindung angesichts des nächstliegenden Standes der Technik und der technischen Aufgabe für die Fachperson naheliegend war (mwN Kinkeldey/Karamanli in Benkard2 Art 56 EPÜ Rn 23).

4.5. Die Antragstellerin kritisiert primär, dass das Erstgericht im Einklang mit 133 R 90/18k und 4 Ob 228/18k das Dokument US 2007/0161566 A1 als nächstliegenden Stand der Technik angesehen habe. Tatsächlich ergebe sich aus den Studien FORTE II und FORTE III, den Stellungnahmen von Cohen und Calabresi (alle wiedergegeben in ./G) sowie der Einspruchsentscheidung ./F, dass der nächstliegende Stand der Technik die Dosierung 20 mg/ml täglich gewesen sei. Die objektive technische Aufgabe sei es gewesen, eine ähnlich wirksame, aber besser verträgliche Behandlung vorzusehen. Dies sei mit dem Streitpatent gelungen. Ihr in erster Instanz erstattetes Vorbringen, das Streitpatent wäre auch dann erfinderisch, wenn man das Dokument US 2007/0161566 A1 als nächstliegenden Stand der Technik heranziehen wollte, hält die Antragstellerin im Rekursverfahren nicht mehr in dieser Deutlichkeit aufrecht. Sie nimmt aber Bezug auf die Vorentscheidungen 133 R 90/18k sowie 4 Ob 228/18k und moniert, dass darin der Reduktion der Anzahl der Injektionen der erfinderische Schritt abgesprochen wurde. Sie bringt auch in diesem Zusammenhang vor, die verbesserte Verträglichkeit begründe eine erfinderische Tätigkeit.

4.6. Die Neuheitsfiktion für den Stoff oder das Stoffgemisch gemäß § 3 Abs 3 Satz 2 PatG (vgl Art 54 Abs 5 EPÜ) gilt seit der EPÜ 2000 Nov 2007 (BGBl I 2007/81) auch für weitere chirurgische, therapeutische oder diagnostische Behandlungsverfahren (Weiser, PatG3 § 3 PatG 135). Die Beurteilung der Neuheit und/oder der erfinderischen Tätigkeit einer zweiten medizinischen Indikation ist in vielen Fällen schwierig; sie ist aber von einer nicht schützbaren Entdeckung klar und eindeutig abzugrenzen.

In der Entscheidung vom 19.2.2010 der Großen Beschwerdekammer des EPA wurde zu G 2/08 ausgesprochen, dass eine neue Dosieranleitung als einziges nicht im Stand der Technik enthaltenes Anspruchsmerkmal die Patentierbarkeit begründen kann. Die Große Beschwerdekammer betonte aber, dass bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit eines Anspruchs, dessen einziges neues Merkmal die Dosieranleitung wäre, unabhängig von der Rechtsfiktion des Art 54 Abs 5 EPÜ auch die gesamte Rechtsprechung zur Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit generell anwendbar ist. Eine typische Frage, die in solchen Fällen zu beantworten wäre, ist, ob die im Anspruch definierte Dosieranleitung gegenüber dem bekannten Stand der Technik nachweislich eine besondere technische Wirkung hervorgebracht habe.

Dazu ist eine umfassende Rechtsprechung zur Frage entwickelt worden, wann eine im Stand der Technik noch nicht beschriebene therapeutische Anwendung einer Anwendung Neuheit verleiht, und diese Rechtsprechung ist noch immer auf die Beurteilung der jeweils zu prüfenden Einzelfälle anwendbar (vgl G 2/08).

Der BGH sieht diese Möglichkeit nicht mehr so kritisch wie in X ZR 236/01A, Carvedilol II (Haedicke/Timmann, Handbuch des Patentrechts2 § 9 Rn 62).

Der Patentschutz nach § 3 Abs 3 Satz 2 PatG ist häufig indikationsbezogen. Er wird dafür gewährt, dass Möglichkeiten zur Behandlung von Erkrankungen aufgezeigt werden, nicht für die Erkenntnis der Wirkungszusammenhänge. Die medizinische Eignung und die spezifische Anwendbarkeit eines Stoffs zur therapeutischen Behandlung werden zum einen durch die zu behandelnde Krankheit und durch die Dosierung, zum anderen aber auch durch alle weiteren Parameter bestimmt, die auf die Wirkung des Stoffs Einfluss haben und damit für den Eintritt des mit der Anwendung angestrebten Erfolgs von wesentlicher Bedeutung sein können (OLG Wien 34 R 113/16m, Dexmedetomidine, mwN).

Der Begriff der therapeutischen Behandlung erfasst in seinem Kern die Wiederherstellung der Gesundheit durch die Heilung von Krankheiten sowie die Linderung von Leiden, aber auch Verfahren zur Erhaltung der Gesundheit durch prophylaktische Behandlungen. Der therapeutische Charakter einer Behandlung setzt voraus, dass dadurch ein pathologischer Zustand oder eine Störung mit Krankheitswert in einen Normalzustand zurückgeführt wird oder dass einem pathologischen Zustand vorgebeugt werden soll.

Der Begriff Therapie ist nicht eng auszulegen: Auch die Linderung von Schmerzen oder von Beschwerden und die Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit sind als therapeutische Behandlung anzusehen (vgl 17 Ob 35/09k, Isoflavon, mwN).

4.7. Im vorliegenden Fall sah bereits US 2007/0161566 A1 die Behandlung von Patienten, die an schubförmiger MS leiden, mit einer periodischen Verabreichung einer Einzeldosis von 40 mg Glatirameracetat jeden zweiten Tag mittels einer subkutanen Injektion vor. Da dieses Patent sämtliche Voraussetzungen des Art 54 Abs 2 EPÜ erfüllt, hält das Rekursgericht an der den Vorentscheidungen 133 R 90/18k und 4 Ob 228/18k zu Grunde liegenden Ansicht fest, es gehöre zum nächstliegenden Stand der Technik. Bei der gleichen Menge des Arzneimittels je Einzelinjektion kommt es bei der Anwendung des Dosierschemas nach dem Streitpatent nur zu einer geringfügig abweichenden Verabreichung, welche jedenfalls nahe zum Dosierschema des Dokuments US 2007/0161566 A1 liegt, das bereits im Stand der Technik nachgewiesen ist (vgl auch BGH, X ZR 236/01A, Carvedilol II). Dass die Verträglichkeit bei der Reduktion der Injektionen von „jeden zweiten Tag“ auf „dreimal wöchentlich“ (geringfügig) steigen kann, liegt schon für den Laien (und umso mehr für die Fachperson) nahe. Das Dosierschema der Patentansprüche 1 und 2 beruht daher nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

4.8. Soweit die Antragstellerin moniert, dass eigentlich das Dosierschema von 20 mg/ml täglich der nächstliegende Stand der Technik und das Streitpatent dann rechtsbeständig sei, führt sie die Rechtsrüge nicht gesetzmäßig aus, weil sie sich vom festgestellten Sachverhalt entfernt. Das Erstgericht hat eine verbesserte Wirksamkeit der 40-mg-Dosierung gegenüber der 20-mg-Dosierung bei guter Verträglichkeit festgestellt. Die Antragstellerin zeigt keine Umstände auf, die darauf schließen lassen würden, dass das Erstgericht auf der Grundlage dieser Feststellung zu Unrecht von der 40-mg-Dosierung als nächstliegendem Stand der Technik ausgegangen wäre.

4.9. Für die Antragstellerin wäre auch nichts gewonnen, wollte man vom Dosierschema von 20 mg täglich als nächstliegendem Stand der Technik und der von ihr formulierten objektiven technischen Aufgabe ausgehen: Eine Fachperson hätte jedenfalls das Dokument US 2007/0161566 A1 nicht ignoriert, sondern zur Lösung der objektiven technischen Aufgabe herangezogen. In der geringfügig verminderten Dosierung bestünde dann auch diesfalls kein besonderer erfinderischer Schritt mehr.

4.10. Zusammengefasst ist der Antragsgegnerin die Gegenbescheinigung gelungen, wonach das Streitpatent nicht rechtsbeständig ist. Die Abweisung des Sicherungsantrags war daher zu bestätigen.

5. Die Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf § 393 EO, §§ 50 Abs 1, 41 ZPO. Der Zuschlag für die Beiziehung eines Patentanwalts steht zu, weil nicht nur prozessual-juristische Fragen Gegenstand des Rekursverfahrens waren. Der für die Rekursbeantwortung geringfügig überhöht verzeichnete Honoraransatz nach TP 3B RATG war zu korrigieren.

6. Der Ausspruch über den Wert des Entscheidungsgegenstands nach §§ 78, 402 Abs 4 EO iVm § 500 Abs 2 Z 1 lit b ZPO ergibt sich aus der wirtschaftlichen Bedeutung des Patentrechts und orientiert sich auch an der Bewertung durch die Antragstellerin.

7. Ob der Gegenstand eines Patents erfinderisch ist, kann nur im Einzelfall beurteilt werden und wirft demnach keine Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO auf, weshalb der ordentliche Revisionsrekurs nicht zuzulassen war.

Schlagworte

Gewerblicher Rechtsschutz – Patentrecht; Niederfrequente Glatirameracetattherapie,

Textnummer

EW0001083

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2020:03300R00031.20A.0529.000

Im RIS seit

24.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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