Entscheidungsdatum
26.11.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
G308 2177749-1/12E
G308 2177754-1/10E
G308 2177752-1/10E
G308 2177745-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Angelika PENNITZ als Einzelrichterin über die Beschwerden 1.) des XXXX , geboren am XXXX , 2.) der XXXX , geboren am XXXX , 3.) des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , und 4.) der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , alle Staatsangehörigkeit: Irak, die beiden letzteren gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , alle vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.10.2017, Zahlen: zu 1.) XXXX , zu 2.) XXXX , zu 3.) XXXX , und zu 4.) XXXX , betreffend die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.10.2020, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden gemäß
§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wird XXXX , geboren am XXXX , XXXX , geboren am XXXX , mj. XXXX , geboren am XXXX , und mj. XXXX , geboren am XXXX , jeweils der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX , XXXX , mj. XXXX , und mj. XXXX jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerden werden die jeweiligen Spruchpunkte III. und IV. der angefochtenen Bescheide ersatzlos aufgehoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Aus dieser Ehe stammen der minderjährige Drittbeschwerdeführer sowie die minderjährige Viertbeschwerdeführerin.
Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Drittbeschwerdeführer reisten illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie gemeinsam am 07.08.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 stellten.
Am 07.08.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Erstbeschwerdeführers und der Zeitbeschwerdeführerin zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz statt.
Die minderjährige Viertbeschwerdeführerin wurde am XXXX .2017 in Österreich geboren. Am 08.05.2017 stellte die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin auch für die Viertbeschwerdeführerin einen Antrag auf Durchführung eines Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005.
Die niederschriftliche Einvernahme des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, fand jeweils am 19.09.2017 statt.
Mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesamtes wurden die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (jeweils Spruchpunkt I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (jeweils Spruchpunkt II.) abgewiesen, den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Darüber hinaus wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eingeräumt (Spruchpunkt IV.).
Gegen diesen Bescheid erhoben die Beschwerdeführer mit Schriftsatz ihrer bevollmächtigten Rechtsvertretung vom 16.11.2017, beim Bundesamt am selben Tag einlangend, fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumen, den angefochtenen Bescheid beheben und den Beschwerdeführern den Status von Asylberechtigten oder allenfalls subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkennen; in eventu die Spruchpunkte III. beheben, feststellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und den Beschwerdeführern einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK erteilen; in eventu die angefochtenen Bescheid aufheben und das Verfahren an das Bundesamt zurückverweisen sowie die Frist für eine freiwillige Ausreise verlängern.
Die gegenständlichen Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 24.11.2017 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
Mit der Ladung zur Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden zugleich aktuelle Länderberichte zum Herkunftsland Irak, nämlich das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020, eine Anfragebeantwortung der Staatdokumentation zum Irak: Verfolgung aufgrund eines sunnitischen Namens vom 07.05.2018 sowie eine ACCORD-Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen vom 30.04.2018, übermittelt und den Beschwerdeführern zugleich die Möglichkeit zur Stellungnahme bis spätestens zur mündlichen Beschwerdeverhandlung eingeräumt.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.10.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sowie ihre Rechtsvertretung und ein Dolmetscher für die Sprache Arabisch teilnahmen. Das Bundesamt verzichtete auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung. Im Rahmen der Verhandlung wurde zudem XXXX als Zeuge vernommen.
Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde von den Beschwerdeführern eine schriftliche Stellungnahme vom 13.10.2020 zur Lage im Herkunftsstaat abgegeben und darüber hinaus weitere Integrationsunterlagen vorgelegt.
Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführer führen die im Spruch jeweils angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum), sind Staatsangehörige des Irak, Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennen sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Ihre Muttersprache ist Arabisch. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind seit April 2012 miteinander verheiratet. Aus dieser Ehe stammen der minderjährige Drittbeschwerdeführer und die in Österreich nachgeborene minderjährige Viertbeschwerdeführerin (vgl. etwa Erstbefragung Erstbeschwerdeführer vom 07.08.2016, AS 43 ff Erstbeschwerdeführer; Erstbefragung Zweitbeschwerdeführerin vom 07.08.2016, AS 49 ff Zweitbeschwerdeführerin; Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 19.09.2017, AS 141 ff Erstbeschwerdeführer; Zweitbeschwerdeführerin, Niederschrift Bundesamt vom 19.09.2017, AS 121 ff Zweitbeschwerdeführerin; Kopie des irakischen Reisepasses, AS 67 ff Erstbeschwerdeführer, AS 69 ff Zweitbeschwerdeführerin. AS 9 ff Drittbeschwerdeführer; Kopie des irakischen Staatsbürgerschaftsnachweises, AS 71 Erstbeschwerdeführer, AS 71 Zweitbeschwerdeführerin; Kopie irakischer Personalausweis, AS 77 f Erstbeschwerdeführer; AS 73 f Zweitbeschwerdeführerin, AS 11 f Drittbeschwerdeführer; Verhandlungsprotokoll vom 13.10.2020, S 22).
Der Erstbeschwerdeführer ist in Bagdad geboren und hat dort sechs Jahre die Grundschule, drei Jahre die Mittelschule und zwei Jahre die technische Akademie für Elektrotechnik besucht. Anschließend arbeitete er als Maler und Anstreicher, Fliesenleger und auch als Gärtner sowie als Bodyguard und Security-Mitarbeiter bei einem Unternehmen, welches europäische und internationale Unternehmen bei der Sanierung und dem Wiederaufbau von zerstörten (Elektro-)Geräten im Irak begleitete, bevor er 2005 gemeinsam mit seinen Eltern und vier Schwestern und einem Bruder nach Damaskus/Syrien auswanderte, wo er sich bei UNHCR am 29.01.2006 als Flüchtling aus dem Irak registrierte und bis etwa September 2015 lebte. In Damaskus betrieb der Erstbeschwerdeführer eine Art Billard-/Sportcafè. Die Eltern und Geschwister des Erstbeschwerdeführers kehrten 2011 nach XXXX , Provinz Al-Anbar, in den Irak zurück. Der Erstbeschwerdeführer begleitete seine Eltern und Geschwister 2011 für zwei Wochen in den Irak, wo er bei einem Besuch die Zweitbeschwerdeführerin kennenlernte. 2012 heirateten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin standesamtlich in XXXX im Irak. Der Erstbeschwerdeführer kehrte daraufhin alleine nach Syrien zurück. 2013 reiste der Erstbeschwerdeführer für zwei Monate neuerlich in den Irak zurück und anschließend gemeinsam mit der Zweitbeschwerdeführerin wieder nach Syrien aus. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer ist im August 2014 in Syrien geboren worden. Etwa im November 2014 kehrten der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Drittbeschwerdeführer für zwei Monate in den Irak zurück und lebten in dieser Zeit im Haus der Eltern des Erstbeschwerdeführers in Anbar. Nachdem dem Drittbeschwerdeführer in Bagdad der Reisepass ausgestellt wurde, kehrten die Beschwerdeführer wieder nach Syrien zurück. Anfang August 2015 kehrten die Beschwerdeführer neuerlich in den Irak zurück, diesmal jedoch nach Bagdad, wo inzwischen auch die Eltern des Erstbeschwerdeführers in einem eigenen Haus lebten. Dort brachte er die Zweitbeschwerdeführerin und den minderjährigen Drittbeschwerdeführer unter und verließ Mitte August 2015 den Irak alleine von Bagdad aus auf dem Luftweg in die Türkei, von wo aus er schlepperunterstützt bis nach Belgien reiste, wo er im August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Die Familie des Erstbeschwerdeführers verließ Bagdad jedoch und reiste in die Türkei aus. Die Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Drittbeschwerdeführer blieben im Irak zurück. Nach einem kurzen Aufenthalt bei einer der Schwestern der Zweitbeschwerdeführerin kehrten sie und der Drittbeschwerdeführer zur Familie der Zweitbeschwerdeführerin nach XXXX (im Folgenden: F.) zurück, wo sie sich etwa sechs Monate aufhielten, bis der Erstbeschwerdeführer aus Belgien in den Irak zurückkehrte. Da der Erstbeschwerdeführer seine Familie nicht nach Europa nachholen konnte, beantragte er die freiwillige Ausreise und kehrte zur Familie im Jänner 2016 in den Irak zurück, bevor das Asylverfahren in Belgien abgeschlossen gewesen ist. Belgien erließ gegen den Erstbeschwerdeführer ein Reise-/Aufenthaltsverbot im Schengener Gebiet wegen illegaler Einwanderung (vgl. Erstbefragung Erstbeschwerdeführer vom 07.08.2016, AS 43 ff Erstbeschwerdeführer; Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 19.09.2017, AS 141 ff Erstbeschwerdeführer; Zweitbeschwerdeführerin, Niederschrift Bundesamt vom 19.09.2017, AS 123 ff Zweitbeschwerdeführerin; UNHCR-Refugee Certificate vom 11.09.2015, AS 73 Erstbeschwerdeführer; Verhandlungsprotokoll vom 13.10.2020, S 5 ff; SIS-Vormerkung, AS 33 Erstbeschwerdeführer).
Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Drittbeschwerdeführer verließen den Irak sodann gemeinsam Anfang April 2016 und flogen von Bagdad nach Erbil und reisten von dort illegal in die Türkei und dann weiter schlepperunterstützt nach Griechenland. Sodann reisten die Beschwerdeführer über Nordmazedonien und Serbien nach Ungarn, wo sie am 01.07.2016 bzw. 04.07.2016 ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz stellten, den Ausgang des Verfahrens aber nicht abwarteten und weiter über Österreich bis nach Deutschland reisten, wo ihnen jedoch die Einreise verweigert wurde, sodass sie in Österreich verblieben, wo sie am 07.08.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten. Ungarn verweigerte im Rahmen des Dublin-Verfahrens die Rückübernahme der Beschwerdeführer (Erstbefragung Erstbeschwerdeführer vom 07.08.2016, AS 43 ff Erstbeschwerdeführer; Erstbefragung Zweitbeschwerdeführerin vom 07.08.2016, AS 49 ff Zweitbeschwerdeführerin; EURODAC-Treffer, AS 31 Erstbeschwerdeführer, AS 35 Zweitbeschwerdeführerin; Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 19.09.2017, AS 141 ff Erstbeschwerdeführer; Einreiseverweigerung der Bundesrepublik Deutschland, etwa AS 13 ff Zweitbeschwerdeführerin; Schreiben der ungarischen Dublin-Koordinationseinheit, AS 89 Erstbeschwerdeführer; Verhandlungsprotokoll vom 13.10.2020, S 6 ff).
Die minderjährige Viertbeschwerdeführerin wurde am XXXX .2017 in Österreich geboren. Am 08.05.2017 stellte die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin auch für die Viertbeschwerdeführerin einen Antrag auf Durchführung eines Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005 (vgl. AS 3 Viertbeschwerdeführerin sowie aktenkundige Kopie österreichische Geburtsurkunde, AS 9 Viertbeschwerdeführerin).
Bis auf eine Schwester, die bereits verheiratet ist, ein Kind hat und in Bagdad lebt, hat der Erstbeschwerdeführer keine weiteren nahen Angehörigen mehr im Irak. Seine Eltern und alle übrigen Geschwister leben inzwischen in der Türkei, weil insbesondere die Mutter des Erstbeschwerdeführers an Diabetes leidet und die Behandlung für sie in Bagdad schwierig gewesen ist. Der Vater des Beschwerdeführers war Unteroffizier in der Zeit von Saddam Hussein, ist aber bereits lange Pensionist. Seine Mutter ist Hausfrau. Im Irak hält der Erstbeschwerdeführer nur mehr mit einem Freund in Basra sporadisch Kontakt. (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 13.10.2020, S 14 f und 17).
Die Zweitbeschwerdeführerin ist in F., Gouvernement Al-Anbar, geboren und hat dort sechs Jahre die Grundschule, drei Jahre die Mittelschule und weitere drei Jahre eine Handelsschule besucht und abgeschlossen, aber keinen Beruf ausgeübt und war Hausfrau. Die Zweitbeschwerdeführerin hat fünf Schwestern und zwei Brüder. Ihre Mutter hat keinen Beruf ausgeübt, der Vater war Schmied mit eigener Werkstatt. Sie hat nur zu ihrer Mutter alle ein bis zwei Monate telefonischen Kontakt, sonst zu keinen ihrer Angehörigen im Irak. Diese leben zudem mittlerweile nicht mehr in Al-Anbar, sondern im Nordirak (vgl. Erstbefragung Zweitbeschwerdeführerin vom 07.08.2016, AS 49 ff Zweitbeschwerdeführerin; Zweitbeschwerdeführerin, Niederschrift Bundesamt vom 19.09.2017, AS 121 ff Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 13.10.2020, S 11 & 17).
Weder der Erstbeschwerdeführer noch die Zweitbeschwerdeführerin haben in Österreich außer untereinander und zu ihren beiden Kindern weitere familiäre Bindungen. Eine Schwester der Zweitbeschwerdeführerin und deren Kinder leben mittlerweile in Deutschland. Der Bruder des Erstbeschwerdeführers, der sich eine Zeit lang in Finnland aufgehalten hat, lebt nunmehr in der Türkei (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 13.10.2020, S 17 f).
Die Beschwerdeführer sind gesund, der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführer zudem arbeitsfähig. Die Beschwerdeführer leiden an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen im Endstadium, die im Irak nicht behandelbar wären (Erstbefragung Erstbeschwerdeführer vom 07.08.2016, AS 45 Erstbeschwerdeführer; Erstbefragung Zweitbeschwerdeführerin vom 07.08.2016, AS 51 Zweitbeschwerdeführerin; Erstbeschwerdeführer, Niederschrift Bundesamt vom 19.09.2017, AS 141 Erstbeschwerdeführer; Zweitbeschwerdeführerin, Niederschrift Bundesamt vom 19.09.2017, AS 121 Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 13.10.2020, S 4).
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Österreich mehrere Integrationsveranstaltungen des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF), einen Werte- und Orientierungskurs und mehrere Deutschkurse besucht. Sowohl der Erstbeschwerdeführer als auch die Zweitbeschwerdeführerin verfügen über ÖSD-Deutschzertifikate sowohl auf Niveau A1 (Erstbeschwerdeführer vom 08.08.2017; Zweitbeschwerdeführerin vom 03.11.2017) als auch A2 (Erstbeschwerdeführer vom 10.07.2018; Zweitbeschwerdeführerin vom 07.06.2018). Der Erstbeschwerdeführer ist zudem bei der Wohnortgemeinde seit Oktober 2016 gemeinnützig tätig. Er ist weiters seit April 2020 immer wieder mittels Dienstleistungsscheck geringfügig erwerbstätig. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer besucht in Österreich derzeit als ordentlicher Schüler die erste Klasse einer Volksschule, die minderjährige Viertbeschwerdeführer den Kindergarten (vgl. im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgelegtes Konvolut an Integrationsunterlagen; darunter Kurs- und Schulbesuchsbestätigungen; ÖSD-Sprachzertifikate und Unterstützungsschreiben; Sozialversicherungsdatenauszug Erstbeschwerdeführer vom 16.11.2020).
Die Beschwerdeführer halten sich seit ihrer Einreise, bzw. die Viertbeschwerdeführerin seit ihrer Geburt, ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Alle Beschwerdeführer sind strafgerichtlich unbescholten (vgl. aktenkundige Auszüge aus dem Zentralen Melderegister sowie aus dem Strafregister jeweils vom 16.11.2020).
Weder der Erstbeschwerdeführer noch die Zweitbeschwerdeführerin waren Mitglied einer politischen Partei, einer anderen politisch aktiven Bewegung oder einer bewaffneten Gruppierung im Irak. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer wegen ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit im Irak Probleme hatten, festgenommen, verurteilt oder inhaftiert bzw. sonstige Probleme mit Gerichten oder Behörden des Irak gehabt hätten.
Die Zweitbeschwerdeführerin wurde im Irak sowohl vor als auch nach der Eheschließung von ihrem Vater und ihrem Cousin geschlagen und bedroht. Auch dem Erstbeschwerdeführer und dem Drittbeschwerdeführer wurde gedroht. Es kann jedoch nicht festgestellt werden, dass sie im Fall einer Rückkehr mit weiteren Drohungen oder Gewalt durch die Familie der Zweitbeschwerdeführerin rechnen müssen, da eine Rückkehr zu dieser Familie nicht zumutbar ist und sich diese mittlerweile im Nordirak aufhält.
Ein konkreter Anlass oder Vorfall für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte nicht festgestellt werden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer generellen Verfolgungsgefahr oder Bedrohung durch schiitische Milizen, ihren Stamm, den IS oder von staatlicher Seite ausgesetzt sind.
Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:
Zur allgemeinen Lage im Irak werden die vom Bundesverwaltungsgericht mit der Ladung zur Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden zugleich aktuelle Länderberichte zum Herkunftsland Irak, nämlich das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020, eine Anfragebeantwortung der Staatdokumentation zum Irak: Verfolgung aufgrund eines sunnitischen Namens vom 07.05.2018 sowie eine ACCORD-Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen vom 30.04.2018, auch als entscheidungsrelevante Feststellungen zum endgültigen Gegenstand dieses Erkenntnisses erhoben.
Darüber hinaus ergibt sich zur aktuellen Lage hinsichtlich der COVID-19-Pandemie im Irak:
Zur COVID-19 Lage im Irak ergibt sich aus der Kurzinformation der Staatendokumentation des Bundesamtes vom 14.08.2020, dass es bis zum 05.08.2020 im Irak 134.722 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 5.017 Todesfällen (WHO 5.8.2020A; vgl. UNHCR 4.8.2020) gab. 96.103 Personen sind wieder genesen (UNHCR 4.8.2020). Der höchste Anstieg an Infektionszahlen wurde in Bagdad gemessen, gefolgt von Basra und Sulaymaniyah in der Kurdischen Region im Irak (KRI) (UNHCR 4.8.2020).
Aufgrund der weiterhin stark steigenden Infektionszahlen hat die irakische Regierung für 30.07. bis 09.08.2020 eine neuerliche komplette Ausgangssperre beschlossen (BMEIA 6.8.2020; vgl. GoI 27.7.2020; UNHCR 4.8.2020). Diese Einschränkungen gelten nicht für die KRI (BMEIA 6.8.2020).
Bereits im Juli 2020 gab das Gesundheitsministerium bekannt, dass die Krankenhäuser fast vollständig ausgelastet sind (IRC 2.7.2020). Es herrschen Engpässen bei der Versorgung mit Sauerstoff und mit Schutzausrüstungen (MEMO 3.8.2020).
Nachdem private Kliniken im Juli temporär geschlossen wurden (GoI 7.7.2020), erlaubt die irakische Regierung deren Wiedereröffnung, sofern sie die vom Gesundheitsministerium und dem irakischen Ärzteverband festgelegten Bedingungen erfüllen (GoI 27.7.2020).
Die Sicherheitskräfte sind angewiesen, die Richtlinien zur Schutzmaskenpflicht, zur sozialen Distanzierung und weitere umzusetzen, einschließlich der Verhängung von Geldstrafen und der Beschlagnahme von Fahrzeugen derjenigen, die gegen die Regeln verstoßen (GoI 27.7.2020; vgl. MEMO 3.8.2020).
Seit dem 23.7.2020 sind die internationalen Flughäfen Bagdad, Najaf und Basra wieder für kommerzielle Linienflüge geöffnet. Sämtliche Flughäfen wurden zuvor am 17.3.2020 geschlossen (Al Jazeera 23.7.2020; vgl. Rudaw 1.8.2020). Passagiere müssen vor dem Boarding einen negativen Covid-19 Test vorweisen (Al Jazeera 23.7.2020). Mit der Wiedereröffnung des Internationalen Flughafens Erbil (KRI) am 1.8. wird es auch wieder eine Luftverbindung zwischen Bagdad und Erbil geben (Rudaw 1.8.2020).
Seit Beginn des COVID-19-Ausbruchs im Irak im März 2020 gehören vertriebene Familien zu den am stärksten betroffenen Personen, auch durch sekundäre Auswirkungen, wie mangelnde Möglichkeiten den Lebensunterhalt zu verdienen und sozioökonomische Folgen davon (UNHCR 4.8.2020).
In der Kurdischen Region im Irak (KRI) wurden bis zum 5.8.2020 15.577 bestätigte Fälle von COVID-19 verzeichnet. Davon sind 9.711 wieder genesen und 597 Personen verstorben (Gov.KRD 5.8.2020).
Es gilt Schutzmaskenpflicht für sämtliche öffentliche Orte, wie Märkte, Restaurants und andere kommerzielle Einrichtungen, wie Firmen. Bei zuwiderhandeln drohen den Inhabern Geldstrafen und temporäre Zwangsschließungen. Auch Beerdigungen, Hochzeitsfeiern und andere gesellschaftliche Veranstaltungen sind unter Androhung von Geldstrafen verboten (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Rudaw 3.8.2020A). Kliniken und Labore bleiben per Verordnung für 14 Tage geschlossen (Gov.KRD 5.8.2020). Um den steigenden Infektionszahlen im Gouvernement Erbil entgegenzuwirken wurden mittlerweile vier Krankenhäuser als alleinige Covid-19 Behandlungszentren deklariert (Rudaw 3.8.2020B).
Aktuelle Maßnahmen umfassen weiterhin ein Reiseverbot zwischen den kurdischen Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Dohuk und Halabja, sowie ein Reiseverbot innerhalb derselben, ausgenommen bei Notfällen und mit Sondergenehmigungen (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Rudaw 3.8.2020A; UNHCR 4.8.2020).
Der Grenzübergang Ibrahim Khalil zur Türkei wurde für den Zeitraum vom 04. bis zum 11. August Covid-19-anlassbezogen für den Personenverkehr geschlossen (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Garda 04.08.2020). Die Grenzübergänge Haji Omaran und Bashmakh zum Iran sind für Bürger der KRI, die heimkehren wollen, geöffnet (Gov.KRD 5.8.2020).
Am 01.08.2020 nahmen die internationalen Flughäfen in Erbil und Sulaymaniyah wieder ihren Betrieb auf (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Rudaw 1.8.2020). Personen, die über die Flughäfen einreisen müssen jedoch auf eigene Kosten einen Covid-19-Test machen und sich zur Selbstquarantäne verpflichten, bei deren Verstoß sie mit einem Bußgeld bestraft werden. Personen, die positiv auf Covid-19 getestet wurden und die die Quarantäne missachten müssen alle anfallenden medizinischen Kosten für evtl. infizierte Personen übernehmen und werden strafrechtlich verfolgt (Artikel 368-369 des geänderten Gesetzes 111 von 1969) (Gov.KRD 5.8.2020) (vgl. Kurzinformation der Staatendokumentation vom 14.08.2020 zur COVID-19 Lage im Nahen Osten, S 2 ff).
Aus dem aktuellen IOM-Iraq Bericht der DTM (Displacement Tracking Matrix) für den Zeitraum 02.10.2020 bis 02.11.2020 ergibt sich zusammengefasst, dass die irakische Regierung in diesem Zeitraum die landesweiten Lockdown-Maßnahmen ausgeweitet hat, um die Ausbreitung von COVID-19 einzugrenzen. Die Maßnahmen beinhalten Einschränkungen der Handelsaktivitäten, als auch der persönlichen Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes. Der konkrete Ansatz zur Umsetzung der Restriktionen unterscheidet sich nach wie vor zwischen den einzelnen Gouvernements. Im Zentralirak implementieren die Behörden weiterhin unterschiedliche Maßnahmen basierend auf der jeweils vorherrschenden epidemiologischen Situation. Ende September wurden die bis dahin geltenden Ausgangssperren im ganzen Zentralirak zwischen 23:00 Uhr und 05:00 Uhr aufgehoben. Auch dürfen die Einwohner weiterhin zwischen Gouvernements pendeln, sowie auch Dienstleister, die Grundversorger sind, solange sie sich an die strikten Sicherheitsmaßnahmen halten. Restaurants und Cafès dürfen Bestellung und Abholung anbieten und Bestellungen auch zu Kunden liefern. Jedoch darf nicht in den Lokalen direkt konsumiert werden. Mitte September durften wenige Restaurants und 5-Sterne-Hotels unter strengen Auflagen wiedereröffnen. Ministerien und Behörden ist jetzt erlaubt, dass 50 % der Mitarbeiter wieder direkt an ihre Arbeitsplätze aus dem Home-Office zurückkehren können. Internationale Flughäfen, konkret Bagdad, Basra und Erbil bleiben für kommerzielle Flüge auch weiterhin geöffnet (bereits seit Juli), es finden auch Flüge bei Notfällen, medizinische Evakuierungen, Frachtflüge und Charterflüge statt. Dabei müssen sowohl Mitarbeiter als auch Gäste einen Mund-Nasen-Schutz tragen und sich die Hände desinfizieren. Auch werden generell alle Einwohner angehalten, „Social Distancing“ zu praktizieren. Ausreisende auf dem Luftweg müssen einen negativen COVID-19 Test vorlegen, der nicht älter als 96 Stunden ist. Bei einer Einreise müssen die Einreisenden einen negativen PCR-Test vorweisen, der nicht älter als 48 Stunden ist, unabhängig davon, ob sie in Bagdad, Basra oder Erbil landen. Kann ein Test nicht vorgewiesen werden, muss dieser in Erbil am Flughafen während einer 48 stündigen Quarantäne durchgeführt werden, nicht jedoch in Bagdad oder Basra. Dort darf ohne negatives Testergebnis bei Ankunft überhaupt nicht eingereist werden (vgl. http://iraqdtm.iom.int/files/COVID-19/Mobility_Restrictions_Health_Measurement/DTM_COVID_19_Mobility_Restrictions_Health_Measures_20_Oct_to_02_Nov2020.pdf, Zugriff 11.11.2020).
Mit Stand 16.11.2020 gab es im Irak 519.152 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 11.670 Todesfälle (vgl. https://covid19.who.int/region/emro/country/iq, Zugriff am 17.11.2020).
Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020 ergibt sich:
„[…] 1 Politische Lage
Letzte Änderung: 17.3.2020
Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).
An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).
Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).
Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).
Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).
Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).
Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).
Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).
Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).
Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (15.9.2018): Deadlock broken as Iraqi parliament elects speaker, https://www.aljazeera.com/news/2018/09/deadlock-broken-iraqi-parliament-elects-speaker-180915115434675.html, Zugriff 13.3.2020
- AW - Arab Weekly, The (4.12.2019): Confessional politics ensured Iran’s colonisation of Iraq, https://thearabweekly.com/confessional-politics-ensured-irans-colonisation-iraq, Zugriff 13.3.2020
- CIA - Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook – Iraq, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html, Zugriff 13.3.2020
- DW - Deutsche Welle (2.10.2018): Iraqi parliament elects Kurdish moderate Barham Salih as new president, https://www.dw.com/en/iraqi-parliament-elects-kurdish-moderate-barham-salih-as-new-president/a-45733912, Zugriff 13.3.2020
- Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq, Zugriff 13.3.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 13.3.2020
- ISW - Institute for the Study of War (24.5.2018): Breaking Down Iraq's Election Results, http://www.understandingwar.org/backgrounder/breaking-down-iraqs-election-results, Zugriff 13.3.2020
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (5.10.2018): Politische Weichenstellungen in Bagdad und Wahlen in der Autonomen Region Kurdistan, https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=e646d401-329d-97e0-6217-69f08dbc782a&groupId=252038, Zugriff 13.3.2020
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 13.3.2020
- Kurdistan24 (17.6.2019): Iraq's electoral commission postpones local elections until April 2020, https://www.kurdistan24.net/en/news/80728bf3-eb95-4e76-a30f-345cf9a48d3c, Zugriff 13.3.2020
- NYT - The New York Times (24.12.2019): Iraq’s New Election Law Draws Much Criticism and Few Cheers, https://www.nytimes.com/2019/12/24/world/middleeast/iraq-election-law.html, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (17.3.2020): Little-known ex-governor Zurfi named as new Iraqi prime minister-designate, https://www.reuters.com/article/us-iraq-pm-designate/iraqi-president-salih-names-adnan-al-zurfi-as-new-prime-minister-designate-state-tv-says-idUSKBN21419J?il=0, Zugriff 17.3.2020
- Reuters (1.3.2020): Iraq's Allawi withdraws his candidacy for prime minister post: tweet, https://www.reuters.com/article/us-iraq-politics-primeminister/iraqs-allawi-withdraws-his-candidacy-for-prime-minister-post-tweet-idUSKBN20O2AD, Zugriff 13.3.2020
- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (6.2.2020): Iraqi Protesters Clash With Sadr Backers In Deadly Najaf Standoff, https://www.ecoi.net/en/document/2024704.html, Zugriff 13.3.2020
- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (24.12.2019): Iraqi Parliament Approves New Election Law, https://www.ecoi.net/de/dokument/2021836.html, Zugriff 13.3.2020
- RoI - Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html, Zugriff 13.3.2020
- Standard, Der (2.3.2020): Designierter irakischer Premier Allawi bei Regierungsbildung gescheitert, https://www.derstandard.at/story/2000115222708/designierter-irakischer-premier-allawi-bei-regierungsbildung-gescheitert, Zugriff 13.3.2020
- ZO - Zeit Online (2.10.2018): Irak hat neuen Präsidenten gewählt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/barham-salih-irak-praesident-wahl, Zugriff 13.3.2020
1.1 Parteienlandschaft
Letzte Änderung: 17.3.2020
Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).
Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).
Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).
Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).
Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).
Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon (ein Bündnis aus der Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei) unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fatah-Koalition des Führers der Badr-Milizen, Hadi al-Amiri und der Nasr-Allianz unter Haider al-Abadi und der Dawlat al Qanoon-Allianz des ehemaligen Regierungschefs Maliki (LSE 7.2018).
[Grafik gelöscht, Anm]
Quellen:
- CGP - Center for Global Policy (4.2018): The Role of Iraq‘s Shiite Militias in the 2018 Elections, https://www.cgpolicy.org/wp-content/uploads/2018/04/Mustafa-Gurbuz-Policy-Brief.pdf, Zugriff 13.3.2020
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 13.3.2020
- LSE - London School of Economics and Political Science (7.2018): The 2018 Iraqi Federal Elections: A Population in Transition?, http://eprints.lse.ac.uk/89698/7/MEC_Iraqi-elections_Report_2018.pdf, Zugriff 13.3.2020
- RCRSS - Rawabet Center for Research and Strategic Studies (24.2.2019): Law of political parties in Iraq: proposals for amendment, https://rawabetcenter.com/en/?p=6954, Zugriff 13.3.2020
- Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq, Zugriff 13.3.2020
1.2 Kurdische Region im Irak (KRI) / Autonome Region Kurdistan
Letzte Änderung: 17.3.2020
Die Kurdische Region im Irak (KRI) wird in der irakischen Verfassung, in Artikel 121, Absatz 5 anerkannt (Rudaw 20.11.2019). Die KRI besteht aus den Gouvernements Erbil, Dohuk und Sulaymaniyah. sowie aus dem im Jahr 2014 durch Ministerratsbeschluss aus Sulaymaniyah herausgelösten Gouvernement Halabja, wobei dieser Beschluss noch nicht in die Praxis umgesetzt wurde. Verwaltet wird die KRI durch die kurdische Regionalregierung (KRG) (GIZ 1.2020a).
Das Verhältnis der Zentralregierung zur KRI hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der KRI und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil „umstrittener Gebiete“ ab dem 25.9.2017 deutlich verschlechtert. Im Oktober 2017 kam es sogar zu lokal begrenzten militärischen Auseinandersetzungen (AA 12.1.2019). Der langjährige Präsident der KRI, Masoud Barzani, der das Referendum mit Nachdruck umgesetzt hatte, trat als Konsequenz zurück (GIZ 1.2020a).
Der Konflikt zwischen Bagdad und Erbil hat sich im Lauf des Jahres 2018 wieder beruhigt, und es finden seither regelmäßig Gespräche zwischen den beiden Seiten statt. Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind jedoch weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der KRI (AA 12.1.2019).
Die KRI ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden größten Parteien geteilt, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), angeführt von der Familie Barzani, und deren Rivalen, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die vom Talabani-Clan angeführt wird (France24 22.2.2020; vgl. KAS 2.5.2018). Die KDP hat ihr Machtzentrum in Erbil, die PUK ihres in Sulaymaniyah. Beide verfügen einerseits über eine bedeutende Anzahl von Sitzen im Irakischen Parlament und gewannen andererseits auch die meisten Sitze bei den Wahlen in der KRI im September 2018 (CRS 3.2.2020). Der Machtkampf zwischen KDP und PUK schwächt einerseits inner-kurdische Reformen und andererseits Erbils Position gegenüber Bagdad (GIZ 1.2020a). Dazu kommen Gorran („Wandel“), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert (KAS 2.5.2018; vgl. WI 8.7.2019), sowie eine Reihe kleinerer islamistischer Parteien (KAS 2.5.2018).
Auch nach dem Rücktritt von Präsident Masoud Barzani teilt sich die Barzani Familie die Macht. Nechirvan Barzani, langjähriger Premierminister unter seinem Onkel Masoud, beerbte ihn im Amt des Präsidenten der KRI. Masrour Barzani, Sohn Masouds, wurde im Juni 2019 zum neuen Premierminister der KRI ernannt (GIZ 1.2020a) und im Juli 2019 durch das kurdische Parlament bestätigt (CRS 3.2.2020).
Proteste in der KRI gehen auf das Jahr 2003 zurück. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind dabei gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018). Insbesondere in der nordöstlichen Stadt Sulaymaniyah kommt es zu periodischen Protesten, deren jüngste im Februar 2020 begannen (France24 22.2.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- CRS - Congressional Research Service (3.2.2020): Iraq and U.S. Policy, https://fas.org/sgp/crs/mideast/IF10404.pdf, Zugriff 13.3.2020
- France24 (22.2.2020): Iraqi Kurds rally against 'corruption' of ruling elite, https://www.france24.com/en/20200222-iraqi-kurds-rally-against-corruption-of-ruling-elite, Zugriff 13.3.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 13.3.2020
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 13.3.2020
- LSE - London School of Economics and Political Science (4.6.2018): Iraq and its regions: The Future of the Kurdistan Region of Iraq after the Referendum, http://eprints.lse.ac.uk/88153/1/Sleiman%20Haidar_Kurdistan_Published_English.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Rudaw (20.11.2019): Will the Peshmerga reform – or be integrated into the Iraqi Army?, https://www.rudaw.net/english/analysis/201120191, Zugriff 13.3.2020
- WI - Washington Institute (8.7.2019): Gorran and the End of Populism in the Kurdistan Region of Iraq, https://www.washingtoninstitute.org/fikraforum/view/gorran-and-the-end-of-populism-in-the-kurdistan-region-of-iraq, Zugriff 13.3.2020
2 Sicherheitslage
Letzte Änderung: 17.3.2020
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/, Zugriff 13.3.2020
- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020
- Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02, Zugriff 13.3.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
- FIS - Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/, Zugriff 13.3.2020
- New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020
2.1 Islamischer Staat (IS)
Letzte Änderung: 17.3.2020
Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).
Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).
Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).
Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).
Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).
Quellen:
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (18.6.2019): Regional Overview – Middle East 18 June 2019, https://www.acleddata.com/2019/06/18/regional-overview-middle-east-18-june-2019/, Zugriff 13.3.2020
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (27.5.2019): Briefing Notes 27. Mai 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010482/briefingnotes-kw22-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- BBC News (23.12.2019): Isis in Iraq: Militants 'getting stronger again', https://www.bbc.com/news/world-middle-east-50850325, Zugriff 13.3.2020
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