TE Vwgh Erkenntnis 2021/1/11 Ra 2020/01/0007

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Veröffentlicht am 11.01.2021
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Index

E6J
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Staatsbürgerschaft

Norm

B-VG Art133 Abs4
StbG 1985 §27 Abs1
StbG 1985 §28 Abs1
VwGG §34 Abs1
62017CJ0221 Tjebbes VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der Niederösterreichischen Landesregierung, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 11. November 2019, Zl. LVwG-AV-468/005-2018, betreffend Staatsbürgerschaft (mitbeteiligte Partei: B S in S, vertreten durch Dr. Anton Hintermeier, Mag. Michael Pfleger und Mag. Jürgen Brandstätter, Rechtsanwälte in 3100 St. Pölten, Andreas Hoferstraße 8), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Zur Vorgeschichte wird auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 30. September 2019, Ra 2018/01/0477, verwiesen, mit dem das in dieser Rechtssache zuvor ergangene Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich (Verwaltungsgericht) vom 11. September 2018 wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben wurde.

2        Mit dem nunmehr angefochtenen, im fortgesetzten Verfahren ergangenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der von der Mitbeteiligten gegen den Bescheid der revisionswerbenden Partei vom 23. März 2018, worin der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft der Mitbeteiligten mit 12. August 1997 gemäß §§ 27 Abs. 1, 39 und 42 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) festgestellt wurde, erhobenen Beschwerde Folge, behob den angefochtenen Bescheid ersatzlos, und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

3        Begründend führte das Verwaltungsgericht zunächst aus, die Revisionswerberin habe nach entsprechender Antragstellung gemäß § 8 des türkischen Staatsbürgerschaftsgesetzes Nr. 403 laut Ministerratsbeschluss vom 12. August 1997 wieder die türkische Staatsangehörigkeit verliehen bekommen, ohne zuvor die Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft beantragt zu haben.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-221/17, Tjebbes ua., vom 12. März 2019 und dem darauf aufbauenden in der vorliegenden Rechtssache ergangenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 30. September 2019, Ra 2018/01/0477, sei bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 StbG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen. Die Mitbeteiligte lebe seit über 30 Jahren mit ihrem Ehemann - mittlerweile österreichischer Staatsbürger - in Österreich. Auch ihre in Österreich geborenen Kinder, ebenfalls österreichische Staatsbürger, würden hier leben. Die Mitbeteiligte habe in Österreich diverse Ausbildungen absolviert und sei beim Land Niederösterreich als interkulturelle Mitarbeiterin beschäftigt. Darüber hinaus sei sie ehrenamtlich tätig und sozial vollkommen integriert. Demgegenüber habe sie zur Türkei nur noch Bindungen in Person ihrer Eltern. Es sei nicht ausgeschlossen, dass ihr dauernder Aufenthalt in der Türkei wegen ihrer kurdischen Abstammung mit Problemen behaftet sein könnte. Zudem habe die Mitbeteiligte bereits veranlasst, aus dem türkischen Staatsverband entlassen zu werden.

Angesichts dessen wäre der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft und somit auch des Unionsbürgerstatus für die Mitbeteiligte ein unverhältnismäßiger Nachteil. Sie würde nicht nur in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens und in ihrer Berufsausübung massiv beeinträchtigt werden, sondern würde auch Gefahr laufen, staatenlos zu werden. Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft wäre demnach mit dem Grundsatz der unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar.

4        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis aufzuheben, in eventu in der Sache selbst zu entscheiden. Die Mitbeteiligte beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung die kostenpflichtige Zurück-, in eventu Abweisung der Revision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

5        Die Amtsrevision ist in Bezug auf die im gesonderten Zulässigkeitsvorbringen geltend gemachte Unvertretbarkeit der im Zusammenhang mit dem Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft der Mitbeteiligten vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässig; sie ist auch berechtigt.

6        Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ausgehend vom festgestellten Vorliegen der Voraussetzungen für den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG und einem damit verbundenen gleichzeitigen Verlust des Unionsbürgerstatus nach der Rechtsprechung des EuGH vom 12. März 2019 in der Rechtssache C-221/17, Tjebbes u.a., von der zuständigen nationalen Behörde und gegebenenfalls dem nationalen Gericht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. VwGH 30.9.2019, Ra 2018/01/0477; zuletzt 23.9.2020, Ro 2020/01/0014, Rn. 28).

7        Zu den Kriterien einer solchen unionsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Begründung des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes vom 18. Februar 2020, Ra 2020/01/0022, Rn. 21 - 26, verwiesen werden. Demnach hält der Verwaltungsgerichtshof neben der vom Verfassungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 17. Juni 2019, E 1302/2019, vertretenen verfassungsrechtlichen Sicht (weiterhin) eine derartige Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Kriterien des EuGH in der Rechtssache Tjebbes u.a., für unionsrechtlich geboten. Eine solche unionsrechtlich gebotene Prüfung erfordert eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles durchgeführte Gesamtbetrachtung. Bei einer solchen Gesamtbetrachtung wird jedoch regelmäßig der vom Verfassungsgerichtshof aus verfassungsrechtlicher Sicht angeführte Umstand, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen hat, von maßgeblicher Bedeutung sein. Dieser Umstand entbindet das Verwaltungsgericht aber nicht von der unionsrechtlich gebotenen Gesamtbetrachtung, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist (vgl. wiederum VwGH Ro 2020/01/0014, Rn. 28, mwN).

8        Dabei ist nach den Vorgaben des EuGH im Urteil Tjebbes u.a. zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist. Dies bedeutet, dass das Unionsrecht dem ex lege eintretenden Verlust der Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG nur bei Vorliegen besonders gewichtiger bzw. außergewöhnlicher Umstände (des Privat- und Familienlebens des Betroffenen) entgegen steht (vgl. VwGH 29.4.2020, Ra 2020/01/0043, Rn. 13).

9        Eine (derartige) unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung ist im Allgemeinen nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG und daher vom Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nur aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten hat oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalls vorgenommen hat bzw. die Entscheidung auf einer verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Grundlage erfolgte (vgl. zu allem nochmals VwGH Ro 2020/01/0014, Rn. 29, mwN).

10       Dies ist vorliegend der Fall.

11       Das Verwaltungsgericht begründete die Unverhältnismäßigkeit des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft und damit verbunden des Unionsbürgerstatus einerseits mit dem bereits sehr langen Aufenthalt der Mitbeteiligten in Österreich und ihrer sehr guten beruflichen und gesellschaftlichen Integration, andererseits mit einer nicht näher begründeten massiven Beeinträchtigung der Mitbeteiligten in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens und ihrer Berufsausübung sowie der Gefahr der Staatenlosigkeit.

12       Das Verwaltungsgericht hat dabei jedoch nicht hinreichend dargelegt, worin die massiven Beeinträchtigungen im Fall des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft für die Mitbeteiligte tatsächlich bestehen. Vor allem hat sich das Verwaltungsgericht vorliegend nicht mit der Frage auseinander gesetzt, inwieweit der Mitbeteiligten die Möglichkeit der Erlangung eines Aufenthaltstitels - und damit der Fortsetzung ihres Privat- und Familienlebens in Österreich - offensteht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist jedoch die Möglichkeit der Erlangung eines Aufenthaltstitels ein relevanter Umstand, welcher in der unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchzuführenden Interessenabwägung zu berücksichtigen ist (vgl. dazu nochmals VwGH Ro 2020/01/0014, Rn. 34, mwN).

13       Ebenso hat das Verwaltungsgericht dem Umstand, dass die Mitbeteiligte die türkische Staatsangehörigkeit auf ihren Antrag hin wieder angenommen hat, ohne die ihr eingeräumte Möglichkeit, die (der Beantragung) der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 28 StbG wahrzunehmen, keine Beachtung geschenkt, obwohl nach der in Rn. 7 dargelegten Rechtsprechung diesem Umstand bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 29.4.2020, Ra 2020/01/0043, Rn. 17).

14       Schließlich verkennt das Verwaltungsgericht die Bedeutung einer möglichen Staatenlosigkeit der Mitbeteiligten angesichts ihres Antrags, wieder aus dem türkischen Staatsverband entlassen zu werden, weil die drohende Staatenlosigkeit nicht auf der Feststellung des (aufgrund der Wiedererlangung der türkischen Staatsangehörigkeit mit Wirkung vom 12. August 1997 ex lege eingetretenen) Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft beruht, sondern auf dem mittlerweile neuerlich beantragten Austritt aus dem türkischen Staatsverband (vgl. dazu nochmals VwGH Ra 2020/01/0186, Rn. 10, mwN).

15       Das Verwaltungsgericht ist aus den dargelegten Gründen von den vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätzen zur Verhältnismäßigkeitsprüfung abgewichen und hat seinen Anwendungsspielraum überschritten.

16       Das Verwaltungsgericht hat daher das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit behaftet, weshalb das Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am 11. Jänner 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62017CJ0221 Tjebbes VORAB

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020010007.L00

Im RIS seit

01.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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